Prolog
Fortschritt, hat ein berühmter englischer Schriftsteller einmal gesagt, sei bloß die Verwirklichung einer Utopie. Ich glaube an Utopien und ich glaube an Träume. Ich glaube daran, dass man das Unmögliche träumen muss, um es eines Tages möglich werden zu lassen. Nur würde ich das nicht Fortschritt nennen. Ich würde lieber von einer Revolution sprechen. Und ich war mir ganz sicher, nur einen winzigen Schritt davon entfernt gewesen zu sein, eine Revolution zu starten. Eine kleine Revolution. Aber diese kleine Revolution, davon war ich überzeugt, würde etwas ganz Großes anstoßen. Auch wenn es noch einige Jahre dauern würde. Und dann kam der Anruf. Der Anruf, der alles verändern sollte.
Ich schaute aus der verdunkelten Scheibe des Wagens. Wir fuhren beinahe in Schrittgeschwindigkeit durch Zürich. Die Stadt wachte gerade auf. Es war ein trüber Tag. Der Himmel war grau und nach und nach perlten vereinzelte Regentropfen an der Scheibe ab. Ich war auf dem Weg in mein Büro und lehnte mich noch etwas tiefer in die weiche Lederpolsterung zurück. Dann öffnete ich eine Dose Red Bull. Ich musste wach werden. Ich musste funktionieren. Ich hatte in den letzten Wochen nicht sehr viel geschlafen. Zürich. Paris. Dubai. Courchevel. Ich war permanent unterwegs. Ich war so viel unterwegs, dass ich manchmal die Orientierung verlor, für einen Moment vergaß, wo ich eigentlich war, wenn ich aufwachte. In den letzte Monaten wurden die buntesten Orte der Welt austauschbar für mich. Und irgendwie war es auch egal, in welchem Hotel ich mich befand. Ich war ja doch nur in meiner ganz eigenen Welt. Ich ging nachts viel zu spät schlafen und stand morgens viel zu früh auf. Ich war in einem Tunnel. Aber ich konnte nicht anders. Wir waren mittlerweile auf der Zielgeraden. Auf den letzten Metern. Alles, wofür ich die letzten Jahre gearbeitet hatte, stand kurz davor, verwirklicht zu werden. Ich hatte mir einen Countdown eingerichtet, der langsam runterlief. Es waren nur noch wenige Tage. Dann wäre es so weit. Dann würde mein Traum zur Realität werden. Dann wäre der erste Schritt der Revolution eingeleitet.
Ich schaute aus dem Fenster und sah, wie wir langsam durch die Stadt rollten. Es war viel Verkehr. Wahrscheinlich wegen des schlechten Wetters. Ich betrachtete die Menschen, die draußen mit Regenschirmen über den Asphalt hetzten. Sie waren auf dem Weg zur Arbeit. Oder in die Schule. Sie gingen an die Orte, an die sie immer gingen, um das System am Laufen zu halten. Ich sah eine Mutter, die zwei Kinder an der Hand hielt und eines davon, einen kleinen Jungen, hinter sich herzog. Der Junge wollte lieber in die Pfütze vor ihm springen. Neben ihnen liefen drei Männer in Anzügen über die Straße. Sie hatten ihre schwarzen Regenschirme vor das Gesicht gezogen, sodass man sie nicht richtig erkannte. Und dann sah ich drei Bauarbeiter, die mit einem Presslufthammer den Pflasterstein bearbeiteten. Der Regen wurde heftiger. Es war nicht einmal zwei Jahre her, da gehörte ich auch noch zu den Menschen da draußen. Da stand ich vor Sonnenaufgang auf, um rechtzeitig meine Bahn zu bekommen und damit kilometerweit zu meiner Ausbildungsstätte zu fahren. Es war nicht einmal zwei Jahre her, da war ich noch Teil dieses Hamsterrads. Ich betrachtete die Mutter mit den beiden Kindern. Sie sah müde aus. Müde vom Leben. Aber das waren wahrscheinlich die meisten Menschen. Ich nahm noch einen Schluck Red Bull. Die meisten Menschen sind nicht müde, weil sie zu wenig Schlaf haben. Die meisten Menschen sind müde, weil sie sich in einem Hamsterrad befinden, das sie nicht durchbrechen können. Sie laufen und laufen und laufen, um doch nur auf der Stelle zu treten. Das ist unser System. Und ich verachte dieses System. Darum träume ich davon, es zu durchbrechen.
Dafür hatte ich die letzten Monate gearbeitet. Dafür hatte ich beinahe mein gesamtes Privatleben geopfert.
Und je näher wir unserem Ziel kamen, desto schwieriger wurde alles. Besonders in den letzten Wochen. Die letzten Wochen waren ein Albtraum, der einfach nicht enden wollte. Von heute auf morgen wurde ich in der Schweiz zum Staatsfeind Nummer eins.
Wie schnell das gehen konnte. Vor Kurzem, da klang das alles noch ganz anders. Da nannte man mich ein Wunderkind. Da war ich noch der Junge, der mit elf Jahren Bitcoin für sich entdeckte und so zu einem der jüngsten Millionäre des Landes wurde. »Krypto-Zauberlehrling« schrieb die renommierteste Zeitung der Schweiz über mich. Und jetzt? Das genaue Gegenteil. Jetzt hieß es, dass der Verdacht bestünde, ich wäre ein Hochstapler. Dass ich Geldwäsche betreiben würde. Und als wäre das nicht schlimm genug, erschien irgendwann die Story, dass ich Terrorismusfinanzierung betrieben hätte. Nichts davon war haltbar. Jede dieser Geschichten ließ sich als falsche Anschuldigung widerlegen. Aber auch, wenn ich mir ein dickes Fell zugelegt hatte, traf mich diese Flut der Negativschlagzeilen. Man muss mich ja nicht mögen, aber das? Terrorismus? Das war einfach zu viel.
Und auch, wenn ich diese falschen Anschuldigungen nicht bloß zurückweisen, sondern auch widerlegen konnte - irgendwas bleibt bei den Menschen ja immer hängen. Ich hatte das Gefühl, dass es - zumindest einigen - Menschen darum ging, ganz gezielt meinen Ruf zu zerstören.
Aber ich stand es durch. Das sind die Geburtswehen einer großen Veränderung, sagte ich mir. Ich will mich nicht wichtiger nehmen, als ich bin, aber ich hatte mir ein großes Ziel gesetzt. Ein utopisches Ziel. Ich wollte das System, in dem wir leben, verändern. Und vielleicht schlug das System jetzt ein klein wenig zurück. David gegen Goliath. Aber das war okay, ich wusste ja, worauf ich mich einlasse.
Dann spürte ich eine Vibration. Ich zog mein Handy aus der Hosentasche.
»Ja?«
»Herr Yousuf«, hörte ich die Stimme meines Anwaltes. »Ich habe schlechte Nachrichten.«
Der Regen prasselte jetzt noch heftiger gegen die Fensterscheibe meines Autos. Draußen flohen die Menschen von der offenen Straße. Suchten eine Überdachung. Ich schaute hinauf in den Himmel. Er war grau. Und er wurde immer dunkler.
Schlechte Nachrichten. War ich gewohnt. Doch was er mir jetzt eröffnete, das hätte ich tatsächlich nicht erwartet.
»Die Finanzaufsicht hat den Launch des Coins gestoppt.«
Mir fiel beinahe mein Handy aus der Hand. »Das kann nicht sein .«, sagte ich. Ich spürte, wie mir langsam der Boden unter den Füßen weggezogen wurde. Mein Coin. Meine eigene Kryptowährung. Das Herzstück meines Plans. Darauf hatte ich die letzten beiden Jahre hingearbeitet. In ein paar Tagen sollte er nun endlich an den Start gehen. Ich hatte eine App entwickelt - ein Portal. Es war kostenlos und jeder konnte es sich herunterladen. Mithilfe dieser App sollte man sich spielerisch Finanzwissen aneignen können. Warum? Weil ich der festen Überzeugung bin, dass jeder Mensch in der Lage ist, reich zu werden, wenn er nur einmal die grundlegenden Regeln unseres Finanzsystems verstanden hat. Auch ich hatte das geschafft. Ein Flüchtlingskind, das gar nichts hatte. Kein Startkapital. Keinen Mentor. Nichts. Wenn mir das gelang, dann würde es anderen Menschen auch gelingen. Und je mehr Menschen es schafften, desto stärker würde dieses System, wie es jetzt ist, in seinen Grundfesten erschüttert werden. Das wollte ich. Ich glaube, dass unser Finanzsystem zum Sterben verurteilt ist. Ich glaube, dass Krypto die Zukunft ist. Krypto ist nicht nur eine Währung. Sondern eine Philosophie. Darum wollte ich meinen eigenen Coin gleichzeitig zu meiner Plattform veröffentlichen.
Ich wollte, dass die Menschen viel Zeit mit der App verbringen. Wenn sie sich viel Wissen aneignen, dann sollten sie sich die Coins verdienen können. Meinen Coin wollte ich Dohrnii nennen. Dohrnii, das hatte ich einmal gelesen, ist der Name eines ganz besonderen Tieres. Die unsterbliche Qualle. Wenn sie stirbt, dann entsteht aus ihren Überresten eine neue Qualle. Sie vergeht nie. Sie bleibt für immer. Ein ewiger Kreislauf. Ich fand das einen schönen Gedanken. Es war das Gegensystem zu unserer Welt, in der alles immer nur für den Moment Bedeutung hatte. Aber jetzt schien die Idee zu sterben.
»Es ist ein einmaliger Vorgang«, hörte ich noch die Stimme meines Anwalts. »So etwas ist noch nie passiert .« Aber ich nahm sie schon gar nicht mehr richtig wahr. Es fühlte sich an, als würde mein Traum wie eine Seifenblase zerplatzen. Einfach so.
Ich war völlig fertig und beschloss, die restlichen Termine für den Tag abzusagen. Ich ließ mich in ein kleines Restaurant am Stadtrand fahren. Ich kannte dieses Restaurant erst seit ein paar Wochen. Aber seit ich es durch Zufall entdeckt hatte, war ich hier Stammgast. Es lag in einer kleinen Seitenstraße und war sehr italienisch. Kleine runde Holztische mit der obligatorischen rot-weißen Stoffdecke. Für mich war dieses kleine Restaurant so etwas wie ein Rückzugsort. Ein Platz, an dem ich für einen kurzen Moment meinen Alltag vergessen konnte. Es gehörte Nico, einem jungen...