Schweitzer Fachinformationen
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Februar, London
Roísín Kennedy - dreiunddreißig, klug und aufmerksam mit einer Vorliebe für den Rockabilly-Look (aktuell blau gefärbte Haarspitzen und Ponyfransen), genoss den fahlen Sonnenschein im Gastgarten des Pubs. Sie und ihr Verlobter Nico Triandafilides - sechsunddreißig, glattrasiert, blütenweißes Hemd und selbst an einem gewöhnlichen Samstagmittag ein echter Hingucker - hatten sich die ganze Woche kaum gesehen. Er hatte Nachtschicht gehabt, sie über einer bevorstehenden Deadline im Schneideraum festgesessen. In letzter Zeit war es ein wenig schwierig zwischen ihnen gewesen: Seit drei Monaten diskutierten sie, ob sie ein Kind wollten oder nicht, aber eigentlich wollten weder sie noch er darüber reden. Jeder glaubte, dass der andere das unterschiedlich sah, dabei lagen beide falsch, und sie waren insgeheim sauer aufeinander. Deshalb war der unerwartete heiße Sex am Morgen eines langen Wochenendes mit anschließendem Frühstück außer Haus umso schöner.
Es war der erste sonnige Frühlingstag - noch zu früh für die Krokusse, doch das geheime Startsignal für die Blüte war bereits ausgesandt. Das Licht war eine Spur heller, und selbst die rußgeschwärzten Hauswände und spuckefleckigen grauen Bürgersteige wirkten nicht mehr ganz so trostlos. Die Sonne fühlte sich beinahe warm auf der Haut an, wenn einem die sanfte Brise durchs Haar strich. Die Schwäne im Park hatten ihren Balztanz begonnen und verschlangen die Hälse miteinander, an den Blumenständen gab es Mimosen. Roísín hatte Avocados und andere Leckereien bestellt, Nico ein komplettes englisches Frühstück mit dreifachem Espresso und einer Extraportion Blackpudding.
»Was war das Witzigste, was du diese Woche erlebt hast?«, fragte sie.
Dieses alte Spielchen hob zuverlässig die Stimmung - notfalls auch aus dem Keller - und löste auch jetzt jede Menge Albernheiten aus. Ihre Schwester Nell hatte ihr erklärt, dass das Wort Lederhosen, wenn es englisch »Leiderhosen« ausgesprochen wurde, auf Deutsch »bedauernswerte Hosen« bedeute. Allein das sorgte für Heiterkeit.
»Ich hatte selbst früher mal welche«, gestand Nico, und gemeinsam dachten sie an seinen braunen Tweedanzug, in dem er wie ein verwirrter Schafzüchter ausgesehen hatte.
»Oder ein irischer Intellektueller«, fügte Roísín liebevoll hinzu.
»Irisch!«, prustete Nico, der Bilderbuchgrieche mit den dunkelbraunen Augen, der dicht behaarten Brust, seinem spöttischen Mund und dem kaum verhohlenen Wunsch nach einem üppigen Schnauzbart, wie sein Großvater ihn hatte.
»Dann sind Liederhosen also Pflicht, wenn man deutsche Volksweisen singt?«, folgerte Nico, und von da an ging es steil bergab.
Roísín schlug Lidohosen für den Stadtstrand vor.
»Die wären auch für ein Konzert am Freibad in Crouch End geeignet«, gab er zurück. »Mit Lumahosen zum Wechseln, für eine Runde auf der Luftmatratze. Vielleicht gibt's die ja auch zum Aufblasen.«
»Oder Limohosen«, schlug sie vor, »für eine Erfrischung am Kiosk.«
»So was brauchen wir nicht«, meinte er. »Aber dafür Lagerhosen zum Biertrinken! Nicht zu unterscheiden von den Original-Lederhosen.«
»Oder Lugerhosen. Mit eingenähtem Holster«, sagte sie.
»Oder Meterhosen mit eingebautem Zollstock. Beterhosen für den engagierten Kirchgänger und Leidehosen für richtig schlechte Tage. Oder Hater-Hosen für Twitter-Trolle, Kreidehosen zum Zeichnen oder Straighter-Hosen für Skinny-Fans.«
Inzwischen lachten sie derart hysterisch, dass die anderen Gäste schon herübersahen - all die Leute, die sich nach fünfzehn Jahren nichts mehr zu erzählen hatten, starrten das Paar an, das von einem Lachkrampf in den nächsten verfiel . nicht etwa, weil die Späße sonderlich geistreich gewesen wären, was sie eindeutig nicht waren, sondern weil es einfach Spaß machte. Nico hatte sogar die Ärmel hochgekrempelt und tat so, als säßen sie in Frikes in einer kleinen abgeschiedenen Bucht auf Ithaka, bei einem frühen Frühstück aus bitterem schwarzem Kaffee und Baklava - oh Gott, der Sommer war noch so weit weg! Aber dann veränderte sich der Klang seines Lachens auf einmal, und Roísín schrie auf.
Einundzwanzig Minuten lang wechselten sie und die Kellnerin sich mit der Wiederbelebung ab, bis der Notarzt eintraf. Die Rettungssanitäter konnten nicht wissen, dass er ein Kollege war. Sie wussten nur eines: dass es bereits zu lange gedauert hatte. Roísíns Augen waren noch voller Tränen vom vielen Lachen. Es erschien ihr falsch, dass er ausgerechnet jetzt starb, wo sie mit diesen albernen blau gefärbten Strähnen herumlief. Sie wollte ihn küssen, doch nachdem das Notarztteam erst da war, kam sie nicht mehr an ihn heran. Die Mund-zu-Mund-Beatmung war also unser letzter Kuss, schoss es ihr durch den Kopf.
Schließlich stand sie allein und beinahe verstohlen neben der Bahre in der Notaufnahme, zog sich den Ehering ihres Vaters vom Zeigefinger und schob ihn an den Ringfinger von Nicos linker Hand, ehe sie seinen dämlichen Rock-'n'-Roll-Totenschädelring von seinem Finger an ihren eigenen steckte.
»Ja, ich will«, presste sie erstickt hervor. »Und du willst auch.«
Sie hatten es vorgehabt. Er hatte ihr auch längst einen Heiratsantrag gemacht, gleich am Tag ihres Kennenlernens, im Schlamm des Glastonbury-Festivals, als die Menge wild zu den Fratellis tanzte. Nico war dazwischengegangen, als ihr ein betrunkener Typ bei Chelsea Dagger auf die Pelle gerückt war (»Los, mach schon, hau einfach ab«, hatte er zu dem Kerl gesagt), und das anschließende Geplänkel hatte mit einem Antrag geendet. Ein Jahr später hatte er ihr einen Brillantring an den Finger gesteckt. Ohne Schlamm.
Nur waren sie nie dazu gekommen, auch vor den Altar zu treten. Die Vorstellung, tatsächlich zu heiraten, war irgendwie absurd gewesen, dafür hatten sie eine romantische Offenbarung erlebt. Das hier war Liebe. Der Alltag, das tägliche Miteinander. Wie sie sich gegenseitig unterstützten. Na ja, hauptsächlich ich ihn, dachte sie oft, aber ist ja auch egal. Der Brillant schmiegte sich perfekt an den Totenkopf, wie ein Blümchen hinter dem Ohr. Damit er nicht herunterrutschte.
*
Roísín stand in ihrem Kunstpelzmantel mit dem Dalmatinermuster, der ihr für den Anlass perfekt passend erschienen war, an Deck der Barkasse. Was soll ich bloß anziehen?, hatte sie vorher überlegt. Etwas, das Tapferkeit ausstrahlte, eine »Nach mir die Sintflut«-Verzweiflung, Entschlossenheit und eine »Ich werde diesen Tag hinter mich bringen, weil es von mir erwartet wird«-Grundhaltung.
Auch ihre Haare waren nicht mehr dieselben: Sie hatte die wasserstoffblonden Strähnen mit den blauen Spitzen und die Ponyfransen absäbeln lassen und einer Wohltätigkeitsorganisation für krebskranke Kinder gestiftet. Stattdessen trug sie einen weichen Flaum in ihrem dunkelbraunen Naturton, der Erinnerungen an Sinéad O'Connor von früher weckte. Sinéad war eine hübsche Frau gewesen, aber das war nicht die Assoziation, die Roísín bei den Trauergästen heraufbeschwören wollte, als die Träger Nicos Sarg auf ihre Schultern hoben und auf das Boot trugen.
Im Nordosten hob sich der rot-weiß gestreifte Leuchtturm von Needles stolz gegen den blauen Himmel ab, im Südwesten erstreckte sich der Horizont bis zum Atlantik. Hinter ihr hatten sich etwa hundert Leute an diesem grauenvollen, ungewöhnlich sonnigen Morgen auf Booten in der Solent-Meerenge eingefunden, die Sätze wie »Ich hatte ja keine Ahnung, dass er sich eine Seebestattung gewünscht hat« von sich gaben. Aber das ist das Gute daran, wenn man jung stirbt: Es sind noch viele Freunde da, die zur Beerdigung kommen.
Sieh nur, Schatz, sie sind alle hier! Und alle auf verdammten Booten!
Wer hätte das gedacht!
Roísín hatte die Arrangements für das Begräbnis seiner Mutter überlassen und kein großes Theater gemacht, als Marina sie angerufen und gefragt hatte, ob sie mit einer Seebestattung einverstanden sei, da es später nun mal kein Grab gäbe, das man besuchen könne, und ob sie die Leute vom Bestattungsunternehmen vorher fragen solle, ob sie Weizensamen ins Wasser werfen dürften oder es einfach tun sollten. Roísín hatte keine Meinung dazu.
Keiner wusste, wo Nicos Testament war.
Viele seiner Verwandten waren gekommen, zündeten Kerzen in Brotlaiben an und weinten. Dreiundzwanzig Verwandte von ihrer Seite. Declan mit seiner wunderschönen Stimme sang das traditionelle schottische Abschiedslied The Parting Glass, und Dmitri, der sogar eine noch bessere Stimme hatte, das griechische Lied Ich gab dir Rosenwasser, du gabst mir Gift. Das volle Programm. Nico war tot.
Du elender geliebter Mistkerl, verdammt noch mal!
Natürlich wurde auch aus Kavafis' Ithaka rezitiert, das war quasi ein Muss. »Doch überstürze die Reise nicht, besser, sie dauert viele Jahre .« Roísín bekam es kaum mit, war nicht einmal imstande, sich darüber aufzuregen, wie unpassend es war. Und Tennyson: »Sonnenuntergang und Abendstern rufen nach mir! Es soll auf der Sandbank kein Klagen geben, wenn ich hinausfahre aufs Meer.«
Die freundlichen Männer in Uniform legten die Lilien beiseite und nahmen die Flagge herunter. Nicos Sarg aus schwerem, schlichtem Holz hatte unerwartet viele Löcher. Es ging alles rasend schnell! Die Männer ließen ihn ins Wasser gleiten, das an dieser Stelle dunkelgrün und aufgewühlt war, silbrig schimmernd in der Ferne . dieses verdammte Meer, man kann ihm einfach nicht trauen . und schon sank er. Roísín weinte nicht,...
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