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Auf dem Weg nach Rom, Sommer 1928
Während sie durch Frankreich fuhren, blickte Tom aufmerksam aus dem Fenster und hielt Ausschau nach Überresten aus dem Krieg: Panzer oder Flugzeugwracks wie seins in Locke Hill. Doch er hatte kein Glück, und so sah er einfach zu, wie sich vor seinen Augen der Norden in den Süden verwandelte, Kohlfelder in Weinberge, Apfelbaumwiesen in Olivenhaine, Grün in Gold. Irgendwo in den Alpen hielt der Zug für eine Stunde, und er sprang hinaus, sog die Luft ein, ließ seine Augen auf den kristallinen Fernen ruhen. Kitty und Nadine folgten ihm; zusammen wanderten sie einen Pfad hinunter und fanden eine Wiese mit wilden Erdbeeren, schneebedeckten Bergen dahinter und einem kalten Bach für ihre Füße. Über ihnen kreiste langsam ein kleiner schwarzer Strich. Ein Adler, dachte er. Wie hoch? Höher als ein Flugzeug? Er wünschte, Riley wäre hier.
Kitty sah ihn auch und rief, dass Peter der Adler gefallen würde.
»Sei nicht dumm«, sagte Tom automatisch. »Peter gefällt gar nichts.«
Kitty kreischte, als sie ihre Zehen in den Bach hielt, deshalb zog Tom sie erneut auf. Nadine sagte: »Sei nett zu ihr, Tom«, wie sie es immer tat, und bespritzte ihn mit dem eisigen Wasser, so dass er auch kreischte. Der Pfiff des Zugschaffners hallte zu ihnen hinunter, und sie schnappten sich ihre Schuhe und liefen wieder hinauf zum Bahnsteig, atemlos und fröhlich.
Sobald sie über die Grenze ins Piemont gefahren waren, verkündete Tom: »Hier ist etwas anders«, obwohl die Ziegen und die Berge genauso aussahen wie zuvor und unter demselben blauen Himmel lagen. »Es ist anders«, beharrte er.
Die Berge verschwanden hinter ihnen. In Mailand stiegen sie um und ratterten weiter, immer weiter, klebrig, metallisch, schmuddelig, nach Südwesten: die Küstenebene, das Meer hinter Pinienparaden, bleiche Kühe mit ausladenden, seltsam geformten Hörnern. Es dauerte den ganzen Tag.
Am sonnigen Abend kamen sie an. Nadine rutschte auf ihrem Sitz hin und her und zeigte auf Kirchen und Aquädukte, Ruinen und Piazzas, Orte, die sie von ihrer Hochzeitsreise neun Jahre zuvor kannte. Tom starrte hinaus, schlagartig erfüllt von einer brennenden Eifersucht; er wollte das Abenteuer, das sie und Riley erlebt und das Wissen, das sie erworben hatten. Und dann tauchte direkt vor dem Zugfenster wie ein riesiger Heißluftballon, der abrupt vor ihnen landete, die Kuppel des Petersdoms auf und verschwand wieder, so dass der Blick über Dächer und Brücken und die alte Welt glitt. Und die Hitze! Er schwitzte in seinem englischen Tweed. Er war verzaubert.
Ein Taxi fuhr sie vom Bahnhof am Fluss entlang, vorbei an halb verfallenen Bögen und dicken Säulen und hohen steinernen Durchgängen, die in schattige Innenhöfe führten, vorbei an Eseln und Bauern und Geistlichen und zahllosen kühnäugigen dunklen Leuten. Tom sog alles in sich auf. Er kurbelte die Scheibe hinunter. Es roch nach heißen, staubigen Eseln, nach siedender Brühe, nach in Öl gebratenem Knoblauch, obwohl er nicht wusste, was er da roch. Das Licht lag golden auf dem weißen Stein. Stimmen riefen, brüllten, plauderten in fremden und verlockenden Rhythmen: Aoh!, hörte er, Aoh! Als sie schließlich ankamen, fühlte er sich wie ein großer Hund, der es kaum erwarten konnte, aus dem Taxi zu kommen und in dieser Stadt zu sein.
Jeder der drei würde im Handumdrehen dem Zauber Roms verfallen, aber Tom erwischte es am heftigsten.
Sie befanden sich auf einer Piazza, auf einer Insel im Fluss, mitten in dieser Stadt, die wie ein lebendig gewordenes Gemälde wirkte, ganz anders als alle anderen Orte, die Tom bisher gesehen hatte. Er bebte förmlich.
Als sie hielten, blieb sein Blick an einem Mann hängen, der am anderen Ende der Piazza an der Flussmauer lehnte. Der Mann würde jedem auffallen. Er strahlte eine natürliche Extravaganz aus, als wäre er es gewohnt, mit seinen breiten Schultern und der massigen Brust die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Er hatte langes Haar und einen langen Mantel, seine Weste war blau gestreift, und er rauchte auf eine träge und zugleich attraktive Weise. Der untere Teil seiner Hosenbeine, bemerkte Tom, war klatschnass.
Der Fahrer fingerte an der Bremse herum; Nadine sagte: »Oh, schaut nur!«, und als sie die Autotür öffnen wollte, um auszusteigen, kam der Mann mit ausgestreckten Armen auf sie zu, die schwarzen Locken wie Widderhörner an der kraftvollen Stirn, die buschigen Brauen in alle Richtungen geringelt. In einer einzigen schwungvollen Bewegung öffnete er die Tür, zog Nadine aus dem Sitz und schloss sie in seine Arme. Dann schob er sie ein Stück von sich, um sie anzusehen, legte beide Hände um ihr Gesicht und rief: »Meine Schwester!«
Nadine war überrascht, ja - aber erfreut. Tom musste lächeln. Er benimmt sich, als wäre die Piazza sein Zuhause, dachte er. Als würde er seine Gäste begrüßen. Er stieg aus dem Wagen und richtete sich auf. Der Mann wandte sich zu ihm - große braune Augen, eine große Nase mit scharf gezeichnetem Rücken und markanten Nasenlöchern - und lächelte. Tom spürte, wie er Riley untreu wurde. Er wollte von diesem Mann gemocht werden. Und er wünschte, er wäre nicht so schrecklich blond. Ein Mann sollte dunkel sein. So wie dieser Mann.
Ein paar Kinder waren dazugekommen. Zwei magere Jungen, kleiner als er. Gut. Ein Mädchen, etwas jünger als er, dem Anschein nach ziemlich zäh, große Augen, eine Menge Haare, die ihn an Taue erinnerten. Er fragte sich kurz, ob sie Kitty wählen würde oder ihn. Er dachte, es würde ihm nichts ausmachen, wenn die Mädchen sich zusammentaten, solange das nicht bedeutete, dass er sich mit den kleinen Jungen abgeben musste, doch tatsächlich wusste er auf den ersten Blick, dass er wollte, dass dieses Mädchen ihn wollte, und dass es seine Aufgabe war, das zu bewerkstelligen. Erste Eindrücke und so weiter.
Und so rief er: »Wenn du in Rom bist .« und zog das Mädchen in eine stürmische, ungelenke, langarmige Umarmung. Er ergriff ihren Kopf, küsste sie auf beide Wangen und rief, genau wie Aldo zuvor: »Meine Schwester!«
Es kam sehr gut an.
Kitty, rosig und blond, sah, wie der große, lockenmähnige Mann - der neue Cousin? - Nadine stürmisch umarmte. Sie wusste, dass eine Mutter einfach so verschwinden konnte und man dann irgendwie anders als andere Leute zurückblieb, deshalb beobachtete sie mit einer gewissen Beunruhigung, wie die einzige Mutter, die sie je gekannt hatte, von dem Fremden verschlungen wurde. Als sie sich aus dem Taxi gekämpft hatte, sah sie zu ihm hoch, voller Hoffnung und zugleich Furcht, dass er sie bemerken würde. Er tat es. Er beugte sich aus seiner großen Höhe herunter und hob sie hoch - was sie bei Fremden gar nicht leiden konnte - und warf sie tatsächlich in die Luft, als wäre sie zwei Jahre alt! Dann fing er sie ganz sicher in seinen starken Armen auf.
Er sagte: »Entschuldigung, Signorina. Du bist hübsch wie eine Puppe. Ich bitte um Verzeihung für Verlust der Würde.« Er setzte sie wieder auf den Boden, ging in die Hocke und hielt ihr seine Hand hin. Sie musste sie nehmen, wenn sie nicht unhöflich sein wollte, dabei war sie ganz außer Atem, aber er schaute sie so offen und nett an, dass sie lächeln musste, und dann küsste er ihre Hand, und sie lachte und sah zu Nadine, die ebenfalls lachte - und so folgte sie Toms Beispiel, nahm kühn die Hand des Mannes und küsste sie ihrerseits. Worauf ein sprudelnder Strom Italienisch folgte, wie ein Wasserfall an einem Berg. Es klang wunderschön. Ihre Augen weiteten sich.
Das Haus war sehr schlicht und sparsam eingerichtet, die Möbel dunkel vor den weißen Wänden. Es war heiß - unglaublich heiß! -, und Kitty hatte noch nie Fensterläden gesehen. Das Dämmerlicht überraschte sie, und sie blinzelte. Als Engländerin begrüßte sie sonst jeden Sonnenstrahl zu jeder Zeit und unter allen Umständen. Ihr ganzes Leben lang hatten die Erwachsenen ihr zugerufen: »Kinder, die Sonne scheint, raus mit euch in den Garten.« Wie seltsam, sie auszusperren!
Die Besucher mühten sich mit ihrem Gepäck ab, und Aldo forderte seine kleinen Jungen auf, ihnen zu helfen, obwohl die beiden erst ungefähr sechs Jahre alt waren und die Taschen und Koffer viel zu groß für sie. Kitty behielt Tom im Auge. Nachdem er beim Tragen geholfen hatte und vorgestellt worden war, hielt er sich ein wenig abseits von den anderen und ging wieder hinaus, um sich den Fluss anzusehen.
Kitty und das Mädchen, Fernanda, das offenbar von allen Nenna genannt wurde, beäugten sich. Aldo sagte etwas auf Italienisch, und das Mädchen bedeutete Kitty, ihr die schmale weiße, abgetretene Marmortreppe nach oben zu folgen. In einem kleinen Zimmer am Ende des Flurs, weiß gestrichen und mit gewölbter Decke, fragte das Mädchen mit ernster Miene und sorgfältiger Aussprache: »Magst du Bücher zu lesen?« Und Kitty sagte nur »Ja«, denn trotz des Italienischunterrichts, den sie alle zur Vorbereitung genommen hatten, war ihr vor lauter Aufregung das Wort »sì« entfallen. Nenna zeigte ihr eins: auf Italienisch, aber mit Bildern. Darauf holte Kitty eins aus ihrem kleinen Koffer: Sagen und Geschichte der Stadt Rom, für Kinder neu erzählt, das Nadine ihr aus der Bibliothek mitgebracht hatte. Nenna studierte es aufmerksam, lächelte über die Bilder, betrachtete die englischen Wörter und versuchte sie zu verstehen. Kitty beobachtete sie dabei und bewunderte ihr Gesicht, das ganz anders war als englische Gesichter: knochiger und goldener. Aber es ähnelte Nadines...
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