Schweitzer Fachinformationen
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Ivy Lin war eine Diebin, aber darauf würde man niemals kommen, wenn man sie sah. Vielleicht war genau das das Problem. Keiner ahnte etwas, und das machte sie leichtsinnig. Ihre Gesichtszüge waren so durchschnittlich und unscheinbar, dass das Gehirn nur den Bruchteil einer Sekunde brauchte, um sich ein vollständiges Bild von ihr zu machen: dünnes, asiatisches Mädchen, ruhig, übermäßig fügsam in Gegenwart von Erwachsenen in Uniform. Sie hatte einen bestimmten Gang, der sie für ahnungslose Dummköpfe und Hausmeister unsichtbar machte: die Schultern nach vorne gebeugt, das Kinn eingezogen, die Arme kaum schwingend.
Ivy hätte ihre äußere Erscheinung liebend gern gegen die blauäugige, blonde Version der Satterfield-Zwillinge eingetauscht; auch die roten Haare und Sommersprossen von Liza Johnson hätten ihr gefallen - nur nicht ihr eigenes, chinesisches Aussehen mit den zu schmalen Lippen, der unerhört hohen Stirn und den fleischigen Wangen, die an reife Äpfel vor der Herbsternte erinnerten. Wegen dieser Wangen wurde sie mit ihren vierzehn Jahren oft für eine Fünft- oder Sechstklässlerin gehalten - ein unglückliches Hindernis bei allem, außer beim Stehlen. Dabei war ihr kindliches Aussehen eine nützliche Tarnung.
Ivys einziger Quell der Eitelkeit waren ihre Augen - ansprechend rund, symmetrisch angeordnet und braun wie Kakao. An den äußeren Winkeln liefen sie halbmondförmig zusammen wie die Kanten einer gefüllten Teigtasche. Als sie ein Baby war, hatte ihre Großmutter ihre Wimpern gekürzt, um »das Wachstum zu stimulieren«. Es schien funktioniert zu haben, denn nun war sie mit einem dichten schwarzen Wimpernkranz gesegnet, für den andere Mädchen schichtenweise Mascara benötigten - und meistens schafften sie es nicht einmal damit. Auf jeden Fall hatte sie schöne Augen - vor allem für ein chinesisches Mädchen -, und die bewahrten sie vor einem sonst eher reizlosen Gesicht.
Wie genau war dieses bescheidene, großäugige Mädchen also zur Diebin geworden? So wie steter Tropfen selbst den härtesten Stein höhlt, hatte die Ausbildung ihrer Persönlichkeit unter der Knute ihrer chinesischen Erziehung teils absonderliche Wege genommen.
Als Ivy zwei Jahre alt war, waren ihre Eltern in die Vereinigten Staaten immigriert und hatten sie in der Obhut von Meifeng, Ivys Großmutter mütterlicherseits, in ihrer Heimatstadt Chongqing zurückgelassen. An die nächsten drei Jahre in China erinnerte sie sich kaum, nur eines hatte sie noch sehr lebhaft vor Augen: dass sie ihr Gesicht in den kratzigen Mantel ihrer Großmutter gedrückt und immer wieder gerufen hatte: »Du hast mich reingelegt! Du hast mich reingelegt!«, als Meifeng sie bei einer Nachbarin abgeben wollte, um eine zusätzliche Büroschicht zu übernehmen. Schon damals hatte Ivy nichts von der unkritischen Freundlichkeit anderer Kinder; ihre Liebe war leidenschaftlich und extrem: völlige Ergebenheit oder gar keine.
Als Ivy fünf wurde, hatten Nan und Shen Lin endlich genug Geld gespart, um ihre Tochter nachkommen zu lassen. »Du wirst von hier fortgehen und in einem wundervollen Bundesstaat in Amerika leben«, teilte Meifeng ihr mit. »In Ma-sa-zhu-sai.« Ivy hatte die Fotos gesehen, die ihre Eltern nach Hause schickten: ländlich-idyllische Orte mit Teichen, quadratischen Rasenflächen, blauem Himmel und Bäumen, die leuchtend rosa- und fuchsienfarbige Blüten austrieben und deren Zweige Ivy an die Stäbchen mit den gezuckerten Pflaumen erinnerten, die sie an Neujahr aß. Auf den Bildern hielt ihre blasswangige Mutter, an die sie sich nicht mehr erinnern konnte, stets solche Zweige in den Händen. All das sorgte für viel Aufregung, die bevorstehende Reise betreffend - Ivy liebte es, Ausflüge mit ihrer Großmutter zu machen -, doch in letzter Minute, nachdem diese ihre Enkelin einer elegant gekleideten Flugbegleiterin mit faszinierenden Goldknöpfen an der Weste übergeben hatte, verschwand Meifeng in der Menge am Flughafen.
Ivy erbrach sich im Flieger und weinte beinahe den ganzen Flug über. Sie heulte bei der Landung auf dem Logan Airport, und sie heulte, als die Flugbegleiterin sie auf zwei asiatische Fremde zuschob, die auf sie warteten, mit einem schreienden Baby, das nicht größer war als der Daikon-Rettich, den Ivy mit Meifeng aus der Erde gezogen hatte. Die weißen, zu Fäusten geballten Händchen des Babys waren voller verkrusteter Schlieren. Ivy schlurfte auf sie zu, stolperte über einen Schnürsenkel und landete auf den Knien.
»Steh auf«, sagte der Mann und streckte ihr die Hand entgegen. Die Frau wiegte das Baby auf dem Arm. Mit müder Stimme wandte sie sich an ihren Ehemann: »Wo sind ihre Koffer?«
Ivy wischte sich das Gesicht ab und nahm die Hand des Mannes. Sie hatte bereits geahnt, dass Tränen keinen Platz haben würden bei diesen Menschen mit den versteinerten Gesichtern, die so anders waren als die geselligen Tanten in China, die sie mit einer neuen Schachtel Kreide oder White-Rabbit-Toffees aufheiterten, sobald sie das leiseste Anzeichen von Unmut bekundete.
Und so verankerte sich Ivys früheste Erinnerung an ihre Familie in ihrem Gedächtnis: Shen Lins kräftige, schwielige Finger, die sich um ihre schlossen; sein ganz spezieller Geruch nach Tabak und Zahnpasta mit Minze; das helle Winterlicht, das durch die vom Boden bis zur Decke reichenden Fenster der Ankunftshalle hereinfiel, hinter denen Flugzeuge abhoben und landeten; ihr Bruder Austin, nicht mehr als ein kleines Bündel in übel riechenden Windeln auf Nans Arm. Mit ihnen zu gehen, ohne zu ihnen zu gehören, löste ein seltsames Gefühl der Dissoziation in Ivy aus. Sie hatte den Eindruck, als tauchte sie in einer Badewanne unter, und alles um sie herum wäre unermesslich weit und gleichzeitig verdichtet. In den folgenden Jahren beschwor sie jedes Mal, wenn ihr nach Weinen zumute war, dieses Gefühl des Untergetaucht-Seins herauf, und die Tränen überzogen ihre Augen mit einem dünnen, glänzenden Film, der im Badewasser verschwand.
Nans und Shens Erziehung war mehr auf körperliche Strafen ausgerichtet als auf die Erledigung häuslicher Pflichten. Das bedeutete, dass Ivy zwar nie ein Bett machen musste, doch dafür eine hohe Schmerztoleranz entwickelte. Wie viele Immigranten hatten auch Nan und Shen für ihre Tochter nur einen einzigen Wunsch: Sie sollte Ärztin werden. Ivy musste nur behaupten: »Ich möchte Ärztin werden!«, und schon leuchteten die Gesichter ihrer Eltern voller Anerkennung auf, was Liebe gleichkam, die im Hause Lin nur selten gezeigt wurde.
Meifeng war eine liebevolle, wenngleich barsche Großmutter gewesen, doch Nan war nicht so. Ivy bekam mütterliche Wärme nur dann zu spüren, wenn Gesellschaft zugegen war. Für gewöhnlich handelte es sich dabei um Nans jüngere Schwester Ping und deren Ehemann oder einen von Shens chinesischen Kollegen bei der kleinen IT-Firma, für die er arbeitete. Während dieser fröhlichen Samstagnachmittage mit Sonnenblumenkernen und Litschis richteten sich Nans nach unten gezogene Mundwinkel auf wie Segel im Wind, und sie verwandelte sich in eine gütigere, entspanntere Mutter, eine Mutter ohne diese kleine Falte zwischen den Augenbrauen. Ivy wartete den ganzen Nachmittag auf den einen Moment, in dem sie auf dem Sofa an Nan heranrücken konnte . näher . näher ., um sich dann mit einer winzigen Bewegung auf deren Schoß zu schieben.
Manchmal legte Nan ihre Hände um Ivys Taille. Andere Male strich sie ihr abwesend über den Kopf, mechanisch, als sei sie sich dessen gar nicht bewusst. Ivy gab sich Mühe, sich so still wie möglich zu verhalten. Es war ein schockierendes, gestohlenes Vergnügen, aber sie sehnte sich so sehr nach der Berührung einer weiblichen Brust, eines weichen Schoßes, auf dem sie sich ausruhen konnte. Sie hielt sich für ausgesprochen clever, dachte, ihre Mutter habe keinen blassen Schimmer, was sie da trieb. Doch als sie sechs war und zum gleichen Manöver ansetzte, versteifte sich Nans Körper. »Bist du jetzt nicht ein bisschen zu alt dafür?«
Ivy erstarrte. Die Erwachsenen um sie herum kicherten. »Sieh nur, wie ni-ah deine Tochter ist!«, riefen sie. Ni-ah bedeutete im Sichuan-Dialekt so viel wie »anhänglich«. Ivy zwang sich, die Augen so weit aufzureißen, wie sie sich öffnen ließen. Es war zwecklos. Sie konnte das Salz auf ihren Lippen spüren.
»Aber, aber«, schimpfte Nan. »Sie necken dich nur! Ich kann nicht glauben, wie dünnhäutig du bist. Du bist eine große Schwester, du solltest tapferer sein. Jetzt sei brav und ting hua. Putz dir die Nase.«
Bis zu ihrem Tod würde sich Ivy an dieses Gefühl erinnern: Scham, Verwirrung, Schmerz, Trotz und eine schreckliche Einsamkeit, die dazu führte, dass sie sich völlig in sich selbst zurückzog. Als Meifeng ihr später erzählte, was für ein zugängliches, vertrauensvolles Baby sie gewesen war, dachte sie, ihre Großmutter würde sie mit Austin verwechseln.
Ivy wurde zu einem verschlossenen Kind, das sein Innenleben mit niemandem teilte, außer gelegentlich mit Austin, dessen Zuneigung im Gegensatz zu der der anderen Familienmitglieder bedingungslos war.
Es genügt zu sagen, dass weder ihre Mutter noch ihr Vater als Quell für Ivys ausgeprägte Fantasie herangezogen werden konnten. Ivy fragte sich oft, welches Leben sie später führen, ob sie Liebe erfahren würde. Was würde ihr die Zukunft Spannendes bringen? Da ihr der Blick auf Nan und Shen keine Antwort bot, ergänzte sie die subtileren Details aus Büchern.
Sie lernte leicht Englisch - tatsächlich konnte sie sich gar nicht mehr vorstellen, dass sie irgendwann kein Englisch verstanden hatte -, und sie wurde eine frühreife Leserin. Die winzige,...
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