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Vinka war ein Mädchen ohne Freunde. Aufgrund ihres Aussehens und ihrer roten Augen hielten sich die anderen Kinder von ihr fern. Die meisten fürchteten sich vor Vinkas Blicken. Sie war schulisch unterdurchschnittlich begabt und die anderen Kinder lachten sie deswegen aus. Vinka zog sich in solchen Momenten immer zurück auf den Roten Tartar, den Basketballplatz, dessen Boden von einem roten Kunstbelag überzogen war, der sich bis zur Rasenfläche streckte. Zu ihrem engeren Zufluchtsort hatte sie die kleine Tribüne erwählt, die sie immer dann aufsuchte, wenn sie ihre Tränen nicht mehr zurückzuhalten vermochte. Wie auch heute. Die Einzige, die sie als eine Freundin bezeichnen konnte, war ein französisches Mädchen, das viel zu dick für sein Alter war, obwohl es immer versuchte, so wenig wie möglich zu essen, und das von den anderen Kindern als Babyelefant verspottet wurde. Ihre Leidensgenossin hieß Eugenie. Ihr linkes Auge war blau und das rechte smaragdgrün.
Beide befanden sich bereits in der Pubertät, und einige Monate zuvor waren sie über die Veränderungen, die in ihren Körpern vor sich gingen, von einer der Nonnen rudimentär aufgeklärt worden. Das Gesicht der dicklichen Französin war von Pickeln übersät, weswegen sie sich nicht mehr in die Schule traute. Damit Eugenie lernte, ihren Körper, wie Schwester Christel es ausdrückte, so zu akzeptieren, wie Gott ihn geschaffen habe und ihr zu helfen, neues Selbstbewusstsein aufzubauen, wurde von der Schwesternschaft nach einigem Hin und Her beschlossen, sie zur Abhärtung in den Supermarkt zu schicken. So sollte sie den Willen Gottes akzeptieren und an dieser Erkenntnis wachsen. Eugenie war das völlig egal, sie war schon einsam genug und litt darunter, dass die Kinder sie immer intensiver wegen ihres Aussehens hänselten.
Am Einkaufstag folgte sie lustlos Schwester Brunhild in den nahegelegenen Supermarkt. Während die Nonne einige Dinge für das Büro des Heimes zusammensuchte, erspähte Eugenie die Auslage mit den Presseerzeugnissen. Mehrere Reihen bunter Umschläge weckten ihre Neugier und sie trat an das Regal mit den Musikzeitschriften. Hier traf sie auf eine Welt, die ihr völlig unbekannt war, denn diese Art von Musik galt als unrein und durfte im Fürsorgeheim weder gespielt, noch gehört werden.
Auf einem Cover sah sie ihn plötzlich. Sie beugte sich vor und las: "Human Apocalypse". Die Band hieß Human Apocalypse und am Mikrofon stand ein Mann in einer braunen Wildlederhose, die an beiden Seiten von oben bis unten komplett geschnürt war. Sein muskulöser Oberkörper war nackt und seine langen Haare wirbelten um das Mikrofon. Ihm zur Seite standen zwei wunderschöne Frauen in Bikinis, die ihn mit aufreizenden Blicken taxierten. Eugenie überlegte, ob sie sich jemals erlauben könnte, in einem Bikini herumzulaufen, ohne sich ihres Aussehens schämen zu müssen. Auf dem Cover stand Sledge.
"Sledge", sprach sie laut und versank für einen Augenblick fasziniert in das Bild des Mannes am Mikrofon. Ohne nachzudenken, griff sie nach der Zeitschrift und schob sie blitzschnell unter ihren Pullover. Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals und ein Schwindel erfasste sie, als ihr bewusst wurde, dass sie gerade etwas gestohlen hatte. "Eugenie, was machst du da?" Schwester Brunhilds Stimme hinter ihr ließ sie zusammenfahren. Sie drehte sich voller Panik um und sah sprachlos in die strengen Augen der Nonne. "Das ist nichts für dich, geh da weg und komm her!" Eugenie brachte kein Wort heraus und nickte nur. ,Anscheinend hat Schwester Brunhild nicht bemerkt, dass ich die Zeitschrift gestohlen habe', atmete sie erleichtert auf. Als die Ordensfrau ihr den Rücken zudrehte, ließ Eugenie das Magazin in ihren Hosenbund rutschen und trat zu ihr.
,Was habe ich getan?!' Sie konnte es nicht fassen. Sie hatte gestohlen! ,Human Apocalypse', ging es ihr durch den Kopf. Sie konnte an nichts anderes denken. "Sledge", murmelte sie vor sich hin und fragte sich, was für ein Mensch das wohl war. Auf dem Rückweg malte sie sich aus, wie sie Sledge und die Band Human Apocalypse kennenlernte.
Es war bereits später Nachmittag und die Zeit für das Abendessen rückte heran. Aber ihr blieb noch eine halbe Stunde. Sie war zum Roten Tartar gerannt, hatte sich auf die Tribüne gesetzt und blätterte nun aufgeregt in der Zeitschrift. Endlich konnte sie sich den Artikel über Sledge und Human Apocalypse vornehmen.
Sie blickte kurz auf und sah zu Vivi, einem Mulatten aus Litauen, dessen Namen sich niemand merken konnte. Er hieß eigentlich Vytautas Varagas. Er spielte wie immer allein Basketball. Sie wusste, dass Vivi, der über einen Meter neunzig groß war, auch ohne Freunde war. Er spielte immer allein Basketball. Vytautas hätte Freunde haben können, weil er der Stärkste unter den Heimkindern war. Aber er war immer allein und hielt sich fern von den anderen. Ein wahrer Einzelgänger. ,Human Apocalypse', zuckte es Eugenie durch den Kopf. Neugierig betrachtete sie die Bilder der Band. ,Wie schön doch dieser Sledge ist', dachte sie, ,so schöne reine Haut, nicht so wie meine.' Eugenie nahm ein Gefühl wahr, das sie nicht kannte und nicht beschreiben konnte, und in ihrer Magengegend verspürte sie vor Aufregung ein seltsames Flimmern.
Sie hatte nicht bemerkt, dass der Hausmeister an die Tribüne getreten war. Der Pedell trug wie üblich einen grauen Overall und karrte einen Mob und einen roten Eimer vor sich her. Als Eugenie aufblickte, sah sie in das gütige Lächeln des alten Mannes. "Na, wie geht es dir?" fragte er mit sanfter Stimme. "Ich wollte dich nicht stören, ich habe nur vor, die Tribüne zu reinigen." Dankbar registrierte sie, dass der Hausmeister die Zeitschrift dezent übersah, obwohl ihm natürlich bekannt war, dass solch Besitz auf dem Gelände des Fürsorgeheims verboten war.
Eugenie und Vinka mochten den alten Herrn, der immer ein freundliches Wort für sie übrig hatte. Einst wollte er Mönch werden, doch letzten Endes hat er sich gegen die Ordination entschieden, da er fühlte, den Herausforderungen des Klosterlebens nicht gewachsen zu sein. Stattdessen war er Hausmeister im Fürsorgeheim geworden. Die beiden Mädchen unterhielten sich öfter auf dem Roten Tartar mit dem alten Mann, der ihnen so manche Lebensweisheit ethischer Natur mit auf den Weg gab. Er sah auf die
Zeitschrift, die Eugenie in den Händen hielt, und sagte:
"Weißt du, Kleines, auch wenn du es mir nicht glauben magst, diese Hochglanzbilder sind nicht das wahre Leben. Das Leben besteht nicht nur aus Festen. Und auch diese Sternchen in den Zeitschriften weinen manchmal heimlich. Auch sie haben ihre Ängste und Probleme." Eugenie lächelte, weil sie erkannte, dass der betagte Schuldiener sie aufzubauen versuchte und erwiderte: "Diese Menschen sind so schön und werden von allen geliebt." Auf dem faltigen, stoppelbärtigen Gesicht des Hausmeisters erschien erneut sein stilles, liebevolles Lächeln. "Auch du wirst eines Tages jemanden kennenlernen, der dich lieben wird und den du lieben wirst", sprach er mit sanfter Stimme.
Eugenie jedoch hasste ihre Mitmenschen dafür, dass sie sie ausgestoßen hatten, und dafür, dass sie in einem Fürsorgeheim leben musste, verlassen von den Eltern und ausgegrenzt von den anderen Kindern. Um aus dieser bedrückenden Realität auszubrechen, zog sie sich, so viel sie konnte, in die Welt der Bücher zurück und formte anhand des Schicksals ihrer literarischen Helden ihr Bild von der Welt.
Victor Hugos Glöckner von Notre Dame, ein Buch, das sie sich in der Bibliothek des Heimes ausgeliehen und in einem Zug verschlungen hatte, war eines der Werke, von dem sie besonders beeindruckt war. Quasimodo, diese armselige Gestalt, mit der sie voller Mitgefühl war, litt nur deshalb so sehr, weil sie beide das gleiche Schicksal zu erleiden hatten und weil er von Esmeralda genauso schlecht behandelt wurde, wie sie von den Kindern im Heim. Sie verabscheute Esmeralda und alle, die wie sie von schönem Äußeren waren.
Später entdeckte sie die Bücher von Emile Zola. Sie liebte diesen Autor, weil sie der Überzeugung war, dass seine Schilderungen das wahre Leben widerspiegelten, etwas, wovor diese naiven Nonnen sie zu schützen versuchten. Nach der Lektüre des Totschlägers und Nanas vermochte sie nächtelang keinen Schlaf finden, denn sie musste unablässig daran denken, wie das Leben der Nana in Armut und Krankheit verronnen war. Und voller Entsetzen vergegenwärtigte sie sich immer wieder, wie ihre Heldin, unter einer Treppe im Sterben liegend, auch noch ausgeraubt wurde. Das also war das Leben. Eugenie wollte nicht lieben, niemals in ihrem Leben würde sie einen Menschen lieben wollen. Dieses Versprechen hatte sie sich gegeben.
Eugenie sah auf und ihr Blick wanderte über den Tribünenrand und sie erkannte in dem Schemen, der auf den Basketballplatz zuhielt, den kleinwüchsigen Neuling und seine dickliche Schwester, die kaum einen Satz zustande brachte, ohne zwanzigmal zu stottern, und die ihn um...