Merkmalen von den anderen islamischen Völkern wie z. B. den Arabern.
Diese vorislamische Zeit, die hauptsächlich in Zentralasien und in Turkistan sich abspielte, ist im wesentlichen dadurch gekennzeichnet, daß die Familie, u. a. bedingt durch den Nomadis- mus, eine gesellschaftsfundamentale Rolle spielt (z. B. Familieneigentum statt Privateigentum) und daß die Frau gegenüber dem Mann in der Gesellschaft eine ega-litäre Stellung hat. Verschiedene Quellen, unter anderem auch Berichte ausländischer Besucher in den vorisla- mi-schen türkischen Staaten, liefern ein Bild der für unser Ver-ständnis liberalen Familienverhältnisse und einer liberalen Kindererziehung, deren wichtigste Basis war, daß die Frau und Mutter eine der Gesellschaft gegenüber mitgestaltende Rolle in der Familie besaß.
Die Besucher aus der islamischen Welt erstaunten (und entsetzten!) sich über die Freizügigkeit und Liberalität der Frauen. Sie durften selbständig Geschäfte abschließen, zu Pferd reiten, reisen, unbehindert und unbelästigt in der Öffentlichkeit auftreten. Die sexuellen Delikte gegenüber Frauen wurden schwer bestraft; für die Vergewaltigung ei-ner verheirate- ten Frau z. B. galt die Todesstrafe. Auch die Töchter und Söhne einer Familie waren gleichberechtigt. Von einem Herrscher wird berichtet, daß er dem Gott seine Dankbarkeit für die Geburt seiner Tochter aussprach. Töch-ter durften auch zu Herrscherinnen werden, sie durften ih-ren Ehepartner selbst wählen. Polygamie war nicht bekannt. Nach einer Theorie war die ursprüngliche Familienform in Zentralasien unter den Türken sogar matriarchalisch und entwickelte sich erst dann zu einer egalitären Form. In völligem Gegensatz dazu steht die islamisch-patriarcha-lische Familie im islamischen Staat der Osmanen, der etwa 600 Jahre bestand: Die Familienform wurde durch die Re-ligion tief geprägt; damit änderten sich auch die Vorstellun-gen von der Kindererziehung.
Allerdings sind hier die städtische Bevölkerung, d. h. die mittlere und obere Schicht, und die ländliche Bevölkerung, d. h. Bauern, zu differenzieren. Während die Bauern vie-le der Gesellschaftseigenschaften der vorislamischen Zeit nicht aufgaben und sogar heute noch beibehalten, verstärk-ten die privilegierten und gebildeten Schichten manche Regeln des Islams bezüglich des gesellschaftlichen Lebens noch. So wurde z. B . der Schleier für die Frauen von vor-nehmen osmanischen Familien eingeführt und kurz danach von städtischen Frauen imitiert. Heute sieht man in der Türkei vor allem in Kleinstädten noch verschleierte Frau-en, die hinter ihren Männern gehen, während Dorffrauen unverschleiert neben Männern arbeiten. Da in der Regel die gehobene Klasse der Osmanen zuerst härtere (und nicht un-bedingt vom Koran vorgeschriebene) islamische Praktiken einführte, wurde vieles im Sinne eines Statussymbols und nicht in erster Linie als Gebot der Religion von der übrigen städtischen Bevölkerung übernommen. So z. B. hatten sich die Braut und der Bräutigam bis nach dem Vollzug der Ehezeremonie nicht gesehen. Die Braut-suche erfolgte über die Verwandten. Oft war die Braut so-gar bei dem Akt der Eheschließung nicht anwesend, son-dern wurde durch einen männlichen Verwandten vertreten. Die osmanische Frau verbrachte ihr ganzes Leben einge-schlossen im Haus, in dem getrennte Quartiere für Frau-en (haremlik) und für Männer (selamlik) existierten. Das Frauenquartier hatten nicht nur die Ehefrau bzw. Ehefrauen des Hausherrn, sondern auch Sklavinnen und Hausdiene-rinnen zu teilen. Zwischen beiden Quartieren und an den Fenstern waren Holzgitter angebracht, durch die die Frauen die anderen betrachteten, ohne daß sie selbst gesehen wer-den konnten. Auch die Scheidung unterlag den Regeln des Korans, das heißt, sie mußte nicht vor einem Gericht er-folgen, sondern das Wort des Mannes "ich stoße dich aus" genügte. Deswegen war die Lage der Frau, die über keine wirtschaftliche Selbständigkeit mehr verfügte, nur dann sicher, wenn sie ein Kind oder mehrere Kinder hatte. Die Mutter des ersten Sohnes hatte sogar die befehlende Rolle im Frauenquartier.
Auch das Leben der Kleinkinder spielte sich im Frauen-quartier ab. Die Kindererziehung war nicht nur die Auf-gabe der Mutter, in größeren Haushalten reicher Familien sogar gerade nicht die der Mutter, sondern die Aufgabe der Dienerinnen und Sklavinnen. Dazu kam, falls die Mutter selbst nicht stillen konnte, eine Amme. Diese hatte eine besondere Rolle: Nach dem Koran existiert eine "Milch-verwandtschaft"; danach gelten die Amme und das gestill-te Kind wie Mutter und eigenes Kind, die Eheschließung zwischen "Geschwistern" ist beispiels- weise ausgeschlos-sen. Die Kindererziehung der osmanischen Zeit war durch die folgenden Prinzipien charakterisiert: Strenge Trennung der Mädchen von den Jungen, mit der späteren völligen Isolierung der ersteren, Unterwerfung unter die religiösen Vorschriften und die Einflüsse der Priester und letztlich die Pflege einer Dekulturalität und/oder Multikulturalität. Das Prinzip nationaler Erziehung wurde erst nach der Grün-dung der Republik und nach den türkischen Reformen an-genommen. Diese Reformen haben das Leben in der Stadt von Grund auf verändert.
Es begann damit, daß das Rechtssystem statt nach dem Ko-ran nun nach der westlichen Rechtsauffassung modelliert wurde. So wurde das Zivilrecht der Schweiz mit wenigen Änderungen übernommen. Das hatte enorme Folgen vor al-lem für die Frauen. Die Scheidung z. B. mußte gesetzlich entschieden werden; das Wort des Ehemannes reichte nicht mehr. Dies stärkte die Stellung der Frau in der Gesellschaft, aber auch in der Familie. Die Gleichstellung der Frau ge-genüber dem Mann wurde gesetzlich verankert und auch in der Praxis vom Staat systematisch unterstützt. Als die Frauen in einigen Ländern Europas noch für sich um das Stimmrecht kämpften, durften die Frauen in der Türkei be-reits wählen und gewählt werden.
Bauern-Arbeiter-Familien in der Türkei heute Die eigentliche Volksmasse, das heißt die Landbevölke-rung, war jedoch weder in der Zeit der Osmanen noch nach der Republik einer Radikalisierung ihrer Lebensweise aus-gesetzt. Während die Osmanen ihre Kultur einfach igno-rierten, erklärten die Republikaner sie zum Maßstab. Das gewohnte Leben im Dorf setzte sich aber nach den Tradi-tionen fort.
Mit der Industrialisierung und dem enormen Zustrom der Bauern in die Städte in den letzten 50 Jahren geriet ein Teil der Landbevölkerung in den eigentlichen Wirkungskreis der gesellschaftlichen Änderungen. Diese Veränderungen wurden jedoch nur zum Teil wirksam: Die in die Städte ausgezogenen Dorffamilien lebten weiterhin "mit einem Fuß im Dorf". Sie behielten alle ihre Verbindungen zum Dorf, sogar ihre Felder, die sie immer noch selbst bestellten oder durch ihre Verwandten bestellen ließen. Ein ständiges Pendeln der Familienmitglieder und Verwandten zwischen der Stadt und dem Dorf kennzeichnet diese neue Schicht in den Städten. Man kann daher heute im Dorf und in der
Stadt Erziehungsvorstellungen und -praktiken gleichen
Ursprungs begegnen. Andererseits sickern westlich
geprägte Vorstellungen und Regeln allmählich in die
sich überschneidenden Bereiche durch. So werden bei-
spielsweise die Hochzeiten in diesen Bauern-Arbeiter-
Familien in der Stadt manchmal auf der Straße wie im
Dorf und manchmal in Hallen mit westlicher und tür-
kischer Musikgefeiert.
Die meistverbreitete Familienform in der Türkei so-
wohl auf dem Lande als auch in der Stadt ist die Kern-
familie. Nur im Schwarzmeergebiet, in dem der Boden
zwar sehr fruchtbar, der einzelne Betrieb aber klein
und dadurch nicht wirtschaftlich teilbar ist, herrscht die Großfamilie vor.
Die Familienform, die von den meisten, auch von den Kernfamilien, gewünscht wird, ist aber die Großfami-lie. Für diesen Wunsch sind nicht die ökonomischen Gründe maßgebend, sondern es handelt sich um ein Gesellschaftsideal. Obwohl die Großfamilie durch die zunehmende Beschäftigung von Arbeitskräften im industriellen Sektor ihre Funktion als Produktionsge-meinschaft weitgehend verloren hat, bleibt die (Kern-) Familie eingebettet in ein enges Netz verwandtschaft-licher Bindungen, wird beispielsweise die Versorgung alter, kranker oder erwerbsloser Familienmitglieder oder die Erziehung der (Klein-)Kinder als gemein-schaftliche Aufgabe der Familie gesehen, orientieren sich die Erziehungsvorstellungen vieler Familien an denjenigen der Großfamilie.
Bei der Gründung einer Familie spielen die Verwandten und vor allem das Familienober- haupt in Großfamilien eine wichtige Rolle. Selbst wenn die Entscheidung in der Partnerwahl nicht direkt von ihnen getroffen wird, kann der Heiratskandidat die Wünsche seiner älteren Familienmitglieder und Verwandten nicht völlig außer acht lassen, denn in der Bauern-Arbeiter-Familie ist ebenso wie in der dörflichen Familie die Familiengrün-dung haupt- sächlich von der finanziellen Hilfe der El-tern und Verwandten abhängig.
Heiraten ist nach der islamischen Lehre eine gute Tat. So wird erwünscht, daß sowohl die Söhne als auch die Töchter so bald wie möglich verheiratet werden. Für die Töchter wird oft das erstbeste Angebot akzeptiert; für Männer ist die Zeit nach dem Militärdienst gekommen. Daß der Sohn nach der Entlassung aus dem Militärdienst zu lange "freibleibt", wird nicht gern gesehen: Man glaubt, daß das selbstaufer-legte Zölibat die Moral der jungen Männer unterminiert. Trotz vieler strenger Regeln haben der Islam und die Tra-dition der türkischen Gesellschaft eine...