Schweitzer Fachinformationen
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Der kleine Supermarkt in Musselburgh hat bis 22 Uhr geöffnet, und als ich um 21 Uhr 35 hereinkomme, wirkt die Belegschaft fast beleidigt. Ich überlege, wie ich nach acht Stunden Autofahrt wohl aussehe. Auf der Höhe von Durham habe ich im Waschraum einer Tankstelle kurz den Kopf unters Wasser gehalten, und meine Haare sind komisch getrocknet. So zerzaust, wie ich bin, könnte ich auch als Ladendiebin durchgehen.
Geparkt habe ich hinter dem Supermarkt, vor den Geldautomaten, damit ich nicht vergesse, nach dem Einkaufen noch Bargeld zu holen, denn die meisten Läden hier halten nichts von Kartenzahlung.
Ich stehe lange vor den Kräutern. Es gibt frischen Ingwer und Chilischoten, und ich stelle mir ein Leben vor, in dem ich etwas damit zubereite. Am Ende lege ich Zitronenthymian in den Einkaufswagen. Vielleicht brate ich mir morgen ja ein Huhn. Oder zwei Schenkel. Ich bin keine besonders gute Köchin. An den Schenkeln gefällt mir, dass sie nicht trocken werden, wenn ich sie im Ofen vergesse.
Mit dem Obst übertreibe ich es immer, aber es ist auch schwer, sich zurückzuhalten. Sie haben Pflaumen aus Kenia, alle Farben - Gelb, Orange, Lila, Rot und Schwarz -, und ich stelle von jeder Farbe ein Kistchen in meinen Wagen. Macht dreißig Pflaumen für eine Woche, nur etwa vier pro Tag also. Das könnte klappen. Zwei morgens, zwei abends. Wäre ich ein Mensch, der Konserven macht, würde ich von jeder Sorte ein Glas einkochen, einfach nur, um es anzusehen. Aber sie würden ja doch bloß schimmeln, so wie das eine Mal, als ich Olivenöl mit Chili ansetzen wollte und die ganze Flasche schwarz wurde. Beim Konservieren mache ich irgendetwas grundsätzlich falsch. Wahrscheinlich ist es eine Frage der Hygiene.
Ich gehe weiter, und trotz aller Versuche, mir etwas Neues, Spannendes zu überlegen, was ich kochen könnte, habe ich, als ich den Gang mit den Tiefkühlprodukten erreiche, Dosentomaten, Dosenmuscheln und Spaghetti im Wagen. Eine Schachtel Eier, die vergammeln werden, geschnittenes Graubrot und den Thymian. Auf nichts davon habe ich heute Abend Lust, aber zumindest zeugen die Lebensmittel von einer gewissen Seriosität. Ich bin eine Frau, die zum Arbeiten hier ist. Die ihrer Familie einen Gefallen tut - und nicht umgekehrt. Ich bin nicht mehr die, die es den ganzen Juni über nie vor Mittag aus dem Bett geschafft hat. Die nicht mehr zur Arbeit ging, keine Freunde mehr traf, niemanden mehr zurückrief, um schließlich von ihrer Schwester ins Krankenhaus gefahren zu werden, als auch das mit dem Ein- und Ausatmen nicht mehr richtig klappte und nur noch ein langgezogenes dumpfes Blöken kam. Ich habe nicht sieben Tage in einem Zimmer ohne scharfe Kanten verbracht, an dessen Tür ein Schild hing: Besteck in jeder Form (einschließlich Teelöffel!) verboten.
Die Lautsprecheranlage verkündet, dass die Filiale in fünf Minuten schließt, und es kommt mir vor wie eine Botschaft nur für mich.
Im Tiefkühlgang, in den ich noch kurz der Vollständigkeit halber eingebogen bin, steht eine Frau ohne Einkaufswagen oder Korb; sie ist in die Schokoladeneis-Auswahl vertieft. Schließlich greift sie nach einer Viererpackung von der teuren Mint-Sorte, auf der ein weiblicher Mund, groß und anzüglich, die Schokoladenhülle knackt.
Die Frau trägt rosa Lippenstift, hat eine Zigarette startbereit im Mund und eine gewaltige Lockenmähne, die getrimmt und fixiert wurde. Sie lächelt mich an. «Auch Eisgelüste am späten Abend?»
Ich bin so überrumpelt, dass ich rot werde, dann lache ich zu laut und sage: «Äh, Pflaumen.» Sie grinst zurück und wendet sich ab. Wahrscheinlich werde ich mich noch die ganze Nacht Äh, Pflaumen sagen hören.
Am Ende des Tiefkühlgangs steht ein Aufsteller mit Orangen-Wassereis von Mr. Freeze. Als wir noch klein waren, sang Dad, wenn er richtig gut gelaunt war und Katherine und mich zum Lachen bringen wollte, immer das Liedchen aus der Fernsehwerbung seiner Kindheit: Superspitze, superspitze, flutschiges Orangeneis. Schwer zu sagen, was genau wir daran so lustig fanden, aber ich glaube, es hatte mehr mit ihm zu tun und damit, dass er uns so unbedingt zum Lachen bringen wollte. Trotzdem bleibe ich jetzt stocksteif stehen, denn wie so viele Kleinigkeiten jeden Tag macht dieser Aufsteller mir bewusst, dass ich das Liedchen nie mehr von Dad hören werde.
Ich habe die blöden Hähnchenschenkel vergessen und sause zurück zum Kühlregal, aber die guten Hähnchenteile sind schon weg, es sind nur noch solche übrig, die nach Fisch und Elend schmecken. Ich werfe noch eine Dose Sardinen in den Wagen, stelle den Thymian zurück. Eine Packung Schweizer Käse in Scheiben, eine Tafel Schokolade und ein Bund Sellerie, für die Optik.
Es ist nur noch eine Kasse geöffnet, davor eine kleine Schlange - wir alle versuchen, den Eindruck zu erwecken, dass es für uns ganz alltäglich ist, so spät noch einzukaufen. Ich blättere in einer Zeitschrift. Ein stimmungsvolles Photo zeigt einen Mann, der sich mit dem Daumen über die Oberlippe streicht, um entweder seine Manschettenknöpfe oder seine Armbanduhr in Szene zu setzen. Er legt die Stirn auf eine Art in Falten, die wohl sexy wirken soll. Und da, ihm gegenüber, steht eine bleiche, klapperdürre Frau, das Haar in der Mitte gescheitelt, die Lippen zum roten Schnütchen geschminkt, eine reglose Puppe. Traurig blickt sie in die Ferne. Sie kann sich von dem Mann mit den Manschettenknöpfen und der faltigen Stirn betrachten lassen, aber seinen Blick erwidern, das kann sie nicht.
Die Stimme meiner Mutter in meinem Kopf: Warum wollen diese Frauen bloß alle aussehen wie Rehe im Scheinwerferlicht? Und warum wollen die Männer alle aussehen, als würden sie in der Öffentlichkeit immer zu laut lachen?
Ich bin froh, dass die Zeiten vorbei sind, als ich mich noch darum sorgte, wie andere Menschen auf meinen Körper und mein Gesicht reagieren oder eben nicht reagieren könnten. In gewisser Weise bin ich schon jetzt älter als meine Mutter, die in meinem Alter immerhin noch am Leben teilgenommen hat - sie hatte Mann und Kinder. Ersteren hat sie verloren, und nun lebt sie so, wie es ihr wohl immer schon entsprochen hat, allein mit ihrer Arbeit. Seit neun Monaten arbeitet sie an den Giftpilzen Frankreichs. In meiner Wohnung gibt es nur ein einziges gerahmtes Bild, das sie mir vor drei Jahren zum Einzug geschenkt hat: ein Fliegenpilz, an dem zum Größenvergleich ein Hirschkäfer vorbeimarschiert. Es lehnt bei mir im Schlafzimmer noch ohne Haken an der Wand. Wahrscheinlich hat dahinter längst eine Hausspinne ihr Nest. Meine Mutter erlebt das Alleinsein als Neubeginn. Ihr Haus ist ordentlich aufgeräumt. Sie isst, was sie will und wann es ihr passt: manchmal den ganzen Tag nichts und dann Krabbenauflauf um elf Uhr abends, oder eine Schüssel rohe Tiefkühlerbsen, die sie wie Cornflakes zum Frühstück knurpst. Ich bewundere sie - dass sie das Alleinsein nach Dads Tod so freudig angenommen hat. Vielleicht schaffe ich das auch irgendwann, ich bräuchte ja nicht mal vorher Witwe zu werden.
Manchmal wäre es aber auch schön, jemanden zu vögeln und selbst gevögelt zu werden.
Hin und wieder suche ich im Netz nach Singles, die älter sind als ich, ich nehme immer nur die Älteren, nicht, weil ich auf der Suche nach Reife und Erfahrung wäre, sondern weil die Jüngeren ihre Filter so eingestellt haben, dass sie das alte Eisen aussortieren, zu dem ich mit fast vierzig urplötzlich zähle.
Es gab sogar schon ein paar Matches: Steven, sechsundfünfzig, aus Harringay; Philip, neunundvierzig, aus Clapton; Isabella, zweiundsechzig, aus Hampstead. Und wenn sie mal keinen Filter eingestellt hatten, so wie Marco, sechsunddreißig, aus Tooting, war garantiert ein Fetisch im Spiel. Irgendwann wurde der Speicherplatz auf meinem Smartphone knapp, und ich habe die App wieder gelöscht - vor den Augen meiner Schwester, um ihr Gelegenheit zu Kopfschütteln und entnervten Schnalzlauten zu geben.
Die Frau an der Kasse sagt «Guten Abend», als wollte sie mich festnehmen und aufs Polizeirevier bringen.
Ich bin mit meiner kleinen Lebensmitteltüte schon auf dem Weg zum Wagen, da sehe ich, direkt vor der automatischen Eingangstür, wieder die Frau mit dem Eis. Sie hat schon eines aufgerissen und trommelt mit den langen Fingernägeln der anderen Hand auf der Großpackung herum. Mein Wagen ist der einzige auf dem Parkplatz. Wahrscheinlich wartet sie auf jemanden, der sie abholt. Ich versuche, an ihr vorbeizuschauen. «Hey!», ruft sie. Ich lächele, meide weiter ihren Blick - will sie mich wieder in ein Gespräch verwickeln? Muss ich ihr dann das mit den Pflaumen erklären?
«Hey!», sagt sie noch einmal. «Schön, dich zu sehen, Herzchen! Wie geht's dir denn?»
Anscheinend glaubt sie, dass wir uns kennen. Vielleicht will sie Geld. Ich fühle mich plötzlich sehr allein auf dem Parkplatz. Der Wachmann lässt schon die Rollläden herunter, aber er sieht nicht her.
«Tut mir leid, ich glaube nicht, dass wir uns kennen», sage ich und gehe mit schnellen Schritten Richtung Wagen. Bargeld kriege ich wohl heute keins mehr.
«Schon klar», zischt sie und geht ihrerseits schneller, um mit mir Schritt zu halten. «Tu einfach so, als ob. Da hockt einer hinter deinem Auto.»
Ich bleibe stehen, und sie prallt gegen mich. Von dort, wo wir sind, sehe ich...
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