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Draußen scheint die Sonne über den Hügeln Hollywoods, als sich an diesem frühsommerlichen Tag des Jahres 1960 auf dem weiten Gelände der Universal Studios einige nicht ganz unbedeutende Herren versammeln, um in einem der diversen Vorführräume einen soeben fertiggestellten neuen Film anzusehen. An diesem strahlend hellen Tag steht ein äußerst dunkler, düsterer Film an. Es ist die erste Vorführung der vorläufig finalen Fassung und damit jener Moment vor der Freigabe eines Films, bevor er ans Kopierwerk geht, dorthin, wo all die vielen Zelluloid-Kopien gezogen werden, die später einmal zunächst zur Premiere und anschließend zum Kinostart in die über das ganze Land verstreuten Filmtheater verschickt werden. Doch noch ist es nicht so weit, noch gilt es, dem kritischen Blick all jener standzuhalten, die sich Studiobosse und Produzenten nennen.
Der Film, der an diesem Tag vorab intern gezeigt wird, trägt einen scheinbar schlichten, denkbar knappen Titel: Psycho.
Der Regisseur ist selbstverständlich ebenfalls anwesend. Und wie immer bringt er die Person mit, die die einzige ist, der er blindlings vertraut. Ohne sie findet keine Vorführung statt. Ohne sie gibt es keine Abnahme der sogenannten Null-Kopie und auch keine Freigabe für das Kopierwerk.
Alfred Hitchcock bringt auch an diesem Tag seine Frau Alma mit. Alles andere wäre vollkommen undenkbar, ja unvorstellbar.
Alle begrüßen sich, tauschen Freundlichkeiten und Höflichkeiten untereinander aus. Es ist das Übliche, hier, in Hollywood, Mekka des Films und des schönen Scheins. Die Anspannung, die an diesem Tag in der Luft des Vorführraums liegt, ist dabei für alle deutlich spürbar. Denn der Film, der nun gleich erstmals auf der Leinwand zu sehen sein wird, ist schon im Vorfeld unter den Studiobossen hochumstritten, ist es doch nach all den vorausgegangenen Arbeiten dieses Regisseurs sein erster Film seit über zehn Jahren, der nicht in Farbe, sondern in reduziertem Schwarz-Weiß gehalten ist und mit einem Budget von lediglich 807 000 Dollar eine für ihn ganz untypische low budget-Produktion darstellt. Erschwerend kommt hinzu, dass man sich die ganze Zeit über bei Paramount, für die er den Film aus Eigenmitteln zwar noch produziert, aber bereits auf dem Gelände der Universal dreht, doch sehr wundert, warum »Hitch« - wie ihn hier alle Welt unter Freunden und Kollegen nur nennt - sich ausgerechnet dieses Stoffes annehmen musste. Niemand weiß, warum. Niemand versteht es.
Nach all den farbenfroh leuchtenden Filmen der letzten Jahre, nach Rear Window (Das Fenster zum Hof, 1954) und To Catch a Thief (Über den Dächern von Nizza, 1955), nach Vertigo (Vertigo - Aus dem Reich der Toten, 1958) und North by Northwest (Der unsichtbare Dritte, 1959) - allesamt mit großen Stars wie Grace Kelly und Kim Novak, Cary Grant und James Stewart besetzt -, nun also ein kleiner unaufwendiger Schwarz-Weiß-Film über einen noch bei seiner Mutter wohnenden Betreiber eines heruntergekommenen Motels, der mitunter Frauenkleider zu tragen pflegt und auch sonst an Neurosen und Ambivalenzen nicht arm ist. Beinahe klingt das nach billigem trash. Alle sind skeptisch, alle zweifeln.
Dann gehen die Lichter aus, der Projektor fängt hinten im Projektionsraum an zu rattern, und der Film beginnt.
*
Der Film läuft eine Dreiviertelstunde, als jene Sequenz beginnt, in der die Frau ihren Kimono ablegt und in die Badewanne ihres kleinen Motel-Zimmers steigt. Sie zieht den Duschvorhang zu und dreht das Wasser auf, die Duschstrahlen prasseln auf sie nieder. Sie greift zu einem Stück Seife und seift sich beide Arme ein. Immer wieder blickt sie nach oben, hin zum Duschkopf. Das alles ist zunächst diagonal von oben zu sehen, aus der Aufsicht, der Vogelperspektive, sowie frontal und von der Seite.
Der Mensch, nackt und allein, in Duschkabinen und Badewannen schutzlos und wehrlos, dabei ganz auf sich selbst zurückgeworfen.
Die Frau heißt Marion Crane - dargestellt von Schauspielerin Janet Leigh -, und eigentlich ist sie die Protagonistin des Films. Mit ihr identifizieren sich die Zuschauer. Sie ist ihre Projektionsfläche.
Dann geschieht abrupt etwas Unvorhersehbares: Die Tür von Marions Badezimmer geht plötzlich auf, und ein Schatten ist jenseits des Duschvorhangs zu erkennen, der sich langsamen Schrittes der Badewanne nähert. Nur die Zuschauer können dies sehen. Marion nicht. Die horizontale Perspektive ist nun eine jenseits der Badewanne, in der sie steht, und auch jenseits des realen Zimmers - die Kamera steht hinter der sogenannten »vierten Wand«.
Daraufhin wird der Duschvorhang zur Seite gerissen, und allem Anschein nach handelt es sich offenbar um eine alte Frau, die sich zuvor durch das Motel-Zimmer in das Bad geschlichen hat. Mit einem Dutzend Messerstichen sticht sie immer wieder auf die vollkommen ausgesetzte Marion ein, die sich anfangs noch zu wehren versucht. Es ist eine Sequenz von ungeheurer, abrupt einsetzender Brutalität. Von nackter Gewalt. Das Messer berührt dabei nie sichtbar den Körper, die Einstiche sind lediglich auf der Tonspur zu hören.
Nach der Attacke verschwindet die alte Frau wieder, und es mutet wie ein Huschen an, ein Gleiten, als sie das Badezimmer verlässt. Aus dem Duschkopf läuft unvermindert das Wasser, während Marion Crane entlang der gekachelten Wand zusammensackt, mit ihrem rechten Arm nach dem Duschvorhang greift, schließlich mit Kopf und Oberkörper vornüber über den Wannenrand fällt und dabei den Duschvorhang herunterreißt. All dies geschieht nun sehr langsam. Ihr Kopf kommt schließlich auf dem gekachelten Boden des Badezimmers auf. Ihre Augen, aus denen jedes Leben gewichen ist, sind weit geöffnet und blicken ins Leere, fast erscheint es so, als blickten sie die Zuschauer direkt an. Einen ganzen Moment lang ist dieses eindrückliche, nachklingende Bild auf der Leinwand zu sehen.
Die gesamte Dusch-Sequenz dauert insgesamt etwa zweieinhalb Minuten, der Duschmord selbst lediglich 45 Sekunden. Diese 45 Sekunden werden in 78 Kameraeinstellungen in einer extrem schnellen Abfolge von 52 Schnitten gezeigt, wodurch - ergänzt von den stakkatohaft peitschenden und schreienden Streichern aus Bernard Herrmanns bezwingender musikalischer Komposition - die Gewalt erst als Synthese im Kopf des Zuschauers entsteht. Der Dreh allein dieser Sequenz dauerte im vorausgegangenen Jahr eine ganze Woche - vom 17. bis zum 23. Dezember 1959.
Der Duschmord geschieht noch vor der Mitte des Films. Es ist etwa um die 47. Minute herum, als der Moment erreicht ist, in dem die Zuschauer ihrer Hauptfigur, mit der sie sich doch gerade zu identifizieren begonnen haben, beraubt sind: »Hitchcock raubt einem jeden Halt, indem er seinen Star umbringt.«1
Jetzt erst beginnt überhaupt die zweite, zumal längere Hälfte von Psycho.
Als der Film nach 109 atemraubenden Minuten Laufzeit schließlich zu Ende ist, gehen die Lichter im Vorführraum wieder an, und Alfred Hitchcock wendet sich nicht etwa den Produzenten zu oder seinem Cutter, sondern wie immer ihr, der Person mit der ihm wichtigsten, alles entscheidenden Stimme.
Seiner Alma. Seinem Ein und Alles.
»Du kannst den Film nicht rausgeben, Hitch!«2
Alfred Hitchcock vermag seinen Ohren nicht zu trauen, als er die Worte seiner neben ihm sitzenden Frau Alma vernimmt. »Warum nicht?«, fragt er sie beunruhigt. Vor nahezu nichts anderem hat er so viel Angst wie vor dem Unvorhersehbaren, dem nicht zu erkennenden klaren Horizont.
»Na, weil Janet Leigh noch atmet, als sie bereits tot ist«, antwortet Alma ihm.
Niemand sonst hat es zuvor, bei der Arbeit im Schneideraum, gesehen. Weder Hitchs gewissenhafter Cutter George Tomasini noch Saul Bass, der die Titel-Sequenz auch zu diesem Hitchcock-Film entworfen hat und überdies als visueller Berater fungiert. Ja, und auch er selbst, Hitchcock, nicht. Bei einem akribischen Perfektionisten par excellence, wie er es nun einmal ist, ein für ihn selbst nahezu unverzeihlicher faux pas.
»Niemandem außer ihr war es aufgefallen«3, erzählte Tochter Patricia Hitchcock einmal Jahre später im Gespräch, und der Stolz auf ihre Mutter Alma ist ihr, während sie auf dem Sofa sitzt und überaus angeregt über ihre Eltern spricht, deutlich anzusehen.
Bis heute wird dieser Alma-Moment tradiert, allerdings in mehreren leicht voneinander differierenden Versionen. So bekundet Psycho-Hauptdarstellerin Janet Leigh, die in der Rolle der Marion Crane zu sehen ist: »Es war eigentlich ein Blinzeln. Mrs. Hitchcock sagte zu ihrem Mann, dass sie mich in der Einstellung, die groß mit meinem Auge beginnt, blinzeln sah. Der Cutter und ich schauten uns die Einstellung an, und keiner von uns hat es bemerkt. Die Dame hatte ein scharfes Auge.«4
Hitchcocks script supervisor Marshall Schlom muss seinerzeit ebenfalls mit Erstaunen einräumen: »Obwohl wir die Sequenz sicher ein paar Hundert Mal in der Movieola5 vor und zurück laufen ließen, hatten wir das komplett übersehen. Wir mussten es herausnehmen und eine zweite Einstellung vom Duschkopf einfügen.«
Ob nun ein Blinzeln, ein Schlucken oder eben doch ein Atmen - es mag...
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