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Margot ging langsam hinauf in ihr Zimmer. Sie entzündete die Lampe auf dem Tisch und überlegte, wann sie am nächsten Tag zum Grab der Mutter gehen sollte. Am Vormittag? Am Nachmittag? Nein, besser am frühen Abend, wenn es anfing, kühler zu werden.
Sie setzte sich an den Tisch und holte aus einer Schublade zwei Bücher, die sie während der letzten Tage gelesen hatte: Boccaccios Decamerone und Ovids Ars Amatoria.
Sie durfte sich in der Bibliothek ihres Vaters Bücher aussuchen, und er hatte ihr erlaubt, Boccaccio und Ovid zu lesen.
Margot ging mit den Büchern hinunter ins Arbeitszimmer des Vaters. Sie durfte den Raum auch betreten, wenn er an seiner Predigt arbeitete. Sie klopfte an, ging hinein, stellte die Bücher an ihren Platz, sah an der Reihe entlang und entdeckte ein dickes Heft, das neben den Büchern lag. Sie schlug es auf und sah eine handschriftliche Widmung der Königin Margarethe von Navarra.
Nicolas Cauvin beendete die Überarbeitung seiner Predigt und ging zu Margot.
»Aha, du hast die Erzählungen der Königin gefunden. Sie schenkte mir eine Abschrift der Geschichten, die damals fertig waren. Das Vorbild war übrigens das Decamerone, eine Rahmenerzählung mit hundert Geschichten, die in zehn Tagen erzählt werden sollten. Bei Margarethes Tod war allerdings erst die zweite Erzählung des achten Tages fertig. 1559 erschien eine Ausgabe der zweiundsiebzig Geschichten mit dem Titel Heptaméron. Im Decamerone hast du ein Welttheater gefunden mit Königen, Bauern, Amtsvertretern, Spitzbuben und Mönchen. Und Geschichten, deren Thema Liebe und Erotik sind. Im Heptaméron sind amouröse Verwicklungen das Hauptthema. Die Erzähler der Geschichten diskutieren nach dem Ende der Erzählung über deren Moral.«
Margot sah den Vater erstaunt an. »Ich dachte immer, dass Königin Margarethe sich ausschließlich mit theologischen und philosophischen Problemen beschäftigt hat.«
»Sie war eine Frau, die sich für alles interessierte, auch für Dichtkunst und Musik«, gab er lächelnd zurück. »Sie war weltoffen, liebte die heitere Seite des Lebens und alles, was zu den Freuden des Lebens gehört, eine gute Tafel, Tanz und Gesang. Lies die Geschichten, in ihnen spiegelt sich die Lebensfreude der Königin wider.«
»Vater, Ihr erlaubt mir, Liebesgeschichten zu lesen. Ich durfte Ovid lesen, warum? Die Tochter eines protestantischen Pfarrers darf für gewöhnlich Bibel und Gebetbuch lesen.«
»Ich bin gegen Verbote, Margot. Hätte ich dir die Lektüre des Ovid verboten, so hättest du die Ars Amatoria irgendwann heimlich gelesen. Stimmt es, oder habe ich recht?«
»Es stimmt, Vater.«
»Siehst du, Verbote reizen dazu, sie zu übertreten. Was ich dir jetzt sage, Margot, muss unter uns bleiben. Meiner Meinung nach verbietet unsere Königin zu viel. Das ist der Grund, warum sie in Navarra nicht beliebt ist. Wie reagiert die Bevölkerung auf die Verbote? Die Menschen verschaffen sich heimlich etwas Lebensgenuss. Wie oft erlebe ich das, und ich drücke dann beide Augen zu und sehe nichts.
Es gibt heimliche Messen im Wald. Wenn ich zu einem Sterbebett gerufen werde, ist manchmal Essenszeit, dann stehen mehrere Gerichte auf dem Tisch. Im Sterbezimmer hängt irgendwo in einer Ecke ein Marienbild. Ich weiß auch, wo die Männer sich treffen, um Karten zu spielen. Ich übersehe alles. Warum soll man den Menschen nicht ein bisschen Lebensfreude gönnen?«
Margot betrachtete das Heft, sah den Vater an und fragte zögernd: »Wie kam es, dass die Königin Euch ihre Erzählungen schenkte? Seid Ihr nach dem Ende Eures Studiums in Genf nicht nach Paris zu Montmorency gegangen und habt als Sekretär bei ihm gearbeitet?«
»Nein, Margot. Deine Mutter und ich haben dir erzählt, was du als Kind verstehen konntest. Die familiären Zwistigkeiten mit deiner Tante haben wir verschwiegen, du solltest ihr unbefangen gegenübertreten.«
»Das ist nur zum Teil gelungen. Seit der Beerdigung meiner Mutter mag ich Tante Johanna nicht mehr.«
Der Pfarrer führte Margot zu dem Stuhl vor dem Schreibtisch, ging zum Wandschrank, nahm eine Flasche Rotwein, zwei Zinnbecher und stellte alles auf den Tisch. Er füllte die Becher.
»Auf deine Zukunft, Margot. Ich erzähle dir, wie mein Leben nach dem Ende meines Studiums in Genf verlief.«
*
Am Johannistag des Jahres 1548 betrat Nicolas Cauvin den Hof des königlichen Schlosses in Pau. Er sah sich unschlüssig um und ging zu einem der Soldaten, die den Eingang zum Schloss bewachten.
»Verzeiht, ich hörte in der Stadt, dass die Königin an jedem Werktag zwischen zwei und vier Uhr Besucher und Bittsteller ohne Voranmeldung empfängt.«
»Das ist richtig, ich werde Euch zu ihr bringen.«
Sie gingen durch eine große Halle zu einer Terrasse. Dort begann der Schlosspark.
Der Soldat blieb stehen.
»Seht Ihr den Springbrunnen? Die Königin und ihre Damen verbringen dort die Nachmittage, weil die Wasserfontänen angenehme Kühle spenden.«
Nicolas schritt langsam zu dem Brunnen, ging um ihn herum, hörte plötzlich eine wohlklingende Stimme und blieb stehen.
»Sintemalen ich mir oft gewünscht hab, meine Damen«, begann die Rednerin, »Schicksalsgenoss desjenigen zu sein, von dem ich Euch jetzt berichten will, erzähl ich Euch hiermit, dass in der Stadt Neapel, zur Zeit des Königs Alphonse …«
Hier liest jemand eine Geschichte vor, dachte Nicolas, und ging ein paar Schritte weiter. Auf der steinernen Bank, die um den Brunnen führte, saß eine große schlanke Dame, die einige Bögen Papier in den Händen hielt.
Sie trug ein Kleid aus silbergrauer Seide, die Haare waren mit einer Haube aus rosa Seide bedeckt.
Zu ihren Füßen saßen ungefähr sechs junge Damen auf gepolsterten Schemeln und sahen andächtig zu der Vorleserin auf.
Nicolas betrachtete einen Augenblick das ovale weiße Gesicht der Dame, die längliche Nase, die vollen roten Lippen und atmete tief durch. Das war die Königin Margarethe von Navarra, sie musste inzwischen Mitte fünfzig sein. Er ging einige Schritte weiter und verneigte sich vor ihr.
Die jungen Damen fingen an zu kichern, und er hörte sie flüstern:
»Schon wieder einer in schwarzer Kleidung.«
»Schon wieder einer aus Genf.«
Nicolas spürte, wie er errötete.
Die Königin legte die Papiere neben sich und klatschte in die Hände. »Meine Damen, ich möchte mich mit dem Herrn unterhalten.«
Die Hofdamen eilten in den Park.
Margarethe lächelte Nicolas an. »Setzt Euch neben mich, was führt Euch nach Navarra?«
Der warme Ton ihrer Stimme und die gütigen blauen Augen wirkten beruhigend auf Nicolas.
»Majestät, mein Name ist Nicolas Cauvin, ich bin Franzose und habe vor einigen Wochen mein theologisches Studium an der Hochschule in Genf mit dem Doktorgrad abgeschlossen. Monsieur Calvin war so liebenswürdig, mir einen Brief für Euch zu geben.«
Er nahm das Schreiben aus seinem Wams, und während die Königin las, wartete er gespannt auf ihre Reaktion.
Nach einer Weile sah sie auf. »Es ist natürlich zu gefährlich für Euch, als protestantischer Prediger in Frankreich zu leben. Ich verstehe auch, dass Ihr Euch nicht zum Märtyrer berufen fühlt. Was ich nicht verstehe, ist die religiöse Intoleranz meines Neffen Heinrich. Seit seinem Regierungsantritt vor einem Jahr lässt er die Protestanten systematisch verfolgen. Warum? Der Grund dafür ist meiner Meinung nach nicht sein katholischer Glaube, sondern seine Mätresse, die ihm einflüstert, wie er regieren soll. Dieses Weib, diese Diane de Poitiers, die ihn seit Jahren umgibt, wird von der erzkatholischen Familie Guise gelenkt, mit der sie weitläufig verwandt ist. Diese Familie wird vom Machttrieb beherrscht, die Guisen wollen faktisch in Frankreich regieren und sehen in den Protestanten eine politische Gefahr.
Mein seliger Bruder Franz hat sich weder von einer Mätresse beherrschen lassen noch von einer Familie des Hochadels. Zurück zu Euch, Monsieur Cauvin, Ihr dürft selbstredend überall in Navarra die reformierte Lehre verkünden. Doch bevor Ihr Eure Reise durch mein Land beginnt, möchte ich Euch näher kennenlernen. Besucht mich bis zum Ende des Monats jeden Nachmittag. Ab vier Uhr bis zum Abend können wir uns über Religion, Philosophie und Literatur unterhalten.
Von Juli bis Ende September reist Ihr durch das Land, nach Eurer Rückkehr werdet Ihr in Pau predigen. Ich werde Euch oft zu mir bitten, um mich mit Euch über philosophische und theologische Probleme zu unterhalten.«
»Majestät, ich danke Euch von ganzem Herzen, dass Ihr mir in Navarra Asyl gewährt.«
»Das ist für mich selbstverständlich. Eine Frage müsst Ihr mir noch beantworten: Wie kam es, dass Ihr protestantischer Pfarrer wurdet?«
»Während meines Jurastudiums an der Sorbonne lernte ich deutsche Studenten kennen. Sie erzählten von der reformierten Lehre Martin Luthers. Ich war beeindruckt, lernte die deutsche Sprache und las Luthers Schriften.
In dieser Zeit breitete der reformierte Glaube sich allmählich auch in Frankreich aus. Der Name Calvin wurde bekannt in Europa. Ich schloss mein Studium mit dem Doktorgrad ab, und mein Vater schenkte mir zur Belohnung eine Reise durch Europa.
Mein Vater war damals ein reicher Seidenhändler in Paris. Mein älterer Bruder Charles sollte einmal das...
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