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Heute
Mira beugte sich über die Reling. Sie sah zurück auf die Schleppe aus Gischt. Dort wirbelte kein zorniger Wassergeist mit Schaum vor dem Mund. Keine verwunschene Braut versuchte vergeblich ihren Bräutigam zu erreichen und versank auch nicht in den Fluten. Nur die Fähre pflügte das Meerwasser in der Fahrrinne. Miras Fantasie versagte, seit Ocko sie nicht mehr am Anleger in Wittdün erwartete. Seit letztem Sommer. Er würde nie mehr Geschichten für sie erfinden und sie seinen Faden nicht weiterspinnen. Solange sie denken konnte, liebte sie es, in diese Welt einzutauchen, auch mit siebenunddreißig noch. Mira scherte sich nicht darum, dass ihre Schwester das für Kinderkram hielt. Anke hatte die Insel auf ihre Weise erobert, zusammen mit dem Nachbarsjungen Niels. Ockos Geschichten waren für Mira wie eine Burg in den Dünen, in die sie jederzeit fliehen konnte. Selbst wenn die Wellen um sie herumtosten, fühlte sie sich geborgen. Ockos Worte knüpften ihr ein Netz, das sie auffing und ihr Sicherheit gab. Daran hatte Mira immer geglaubt, auch wenn ihre Eltern Ockos Geschichten als Seemannsgarn abtaten.
Salzige Tropfen sprühten ihr ins Gesicht. Sie drehte sich von der Reling weg. Niemand saß auf den sonnengelben Bänken an Deck. Überall bildeten sich Pfützen. Der Tag fühlte sich nicht an wie im Mai. Seit Ockos Tod mied Mira die Insel, obwohl sie sein Haus geerbt hatte und ihre Schwester gleich nebenan wohnte. Allerdings war ihr kein Grund eingefallen, die Bitte ihrer Schwester abzulehnen. Jedenfalls kein triftiger Grund, einer, der bestehen würde vor der Familie. Sie erinnerte sich noch genau an den Tag kurz vor Weihnachten, als Anke anrief und sie mit der Nachricht überfiel.
Mira atmete tief durch, bevor sie ihrer Schwester gratulierte. »Diesmal wird es ein Mädchen!«, fiel Anke ihr ins Wort. »Ich weiß es genau! Es wird ein Mädchen! Es fühlt sich ganz anders an als bei den Jungs. Ich wusste es vom ersten Moment an! Endlich ein Mädchen! Da kannst du nicht kneifen, Mira, diesmal nicht. Bitte, Mira, du hast es mir versprochen! Diesmal wirst du Patentante!«
Der Boden unter Miras Füßen schien zu schwanken. Was sollte sie dazu sagen? Einfach Ja? Sie schloss die Augen, nur um sie gleich wieder zu öffnen. Sie stand in ihrem Wohnzimmer, so viel war sicher. Keine Schiffsplanken unter ihren Sohlen. Mira lehnte sich an die Wand. Und doch war ihr, als schaukelte sie auf einem winzigen Boot durch die Wellen.
Ankes Worte rauschten weiter, überfluteten Mira, ließen ihr kaum Luft zum Atmen. »Unsere Kleine wird ein Frühlingskind! Taufe im Mai. Am besten so um Pfingsten. Jedenfalls vor der Hauptsaison. Da kann ich ein paar Zimmer freihalten. Du schläfst ja sicher in Ockos alter Kate .«
Im Kapitänshaus. Für Mira war und blieb es Ockos Kapitänshaus. Obwohl es nun ihr gehörte. Ihr allein. Ocko hatte das schon vor mehr als dreißig Jahren so festgelegt, sagte ihnen der Notar nach der Beerdigung. Das Haus und das Grundstück, auf dem es stand, waren für Mira bestimmt und nicht für seine beiden Patentöchter gemeinsam. Seit Anke leer ausgegangen war, nannte sie das Haus nur noch »die alte Kate nebenan«. Sie wollte genau dort einen Bungalow für noch mehr Feriengäste bauen. Der Entwurf lag längst in ihrer Schublade. Nur Mira konnte sich nicht entscheiden. Weder dafür noch dagegen.
»Du hilfst mir doch bei den Vorbereitungen für die Taufe, Mira? Mama und Papa kommen auch ein paar Tage früher.«
»Ich denke .«
»Bitte, Mira, du bist doch meine große Schwester!«
»Es sind noch fast sechs Monate bis Mai.«
»Die vergehen im Nu! Und wir wollen hier im Haus feiern. Ein bisschen so wie früher. Ganz unter uns. Die Nachbarn kommen ja vorher schon zum Kindskieken.«
»Na klar.«
»Niels' Bruder hat zugesagt. Der hat's ja nicht weit mit seiner Familie von Föhr, und seine Cousins mit Anhang aus Niebüll und Leck. Die Amerikaner sagen wie immer ab. Dabei will Niels seinen Onkel so gerne mal wiedersehen. Dann wären wir also dreiundzwanzig Personen. Oder bringst du jemanden mit?«
Mira blieb keine Zeit zum Antworten.
»Abgemacht!«
Die Stille in der Leitung sprach dafür, dass Anke aufgelegt hatte. Mira warf das Telefon aufs Sofa. Sie lehnte weiter an der Wand, bis das Schlingern aufhörte. Im Mai sollte sie also Taufpatin von Ankes Töchterchen werden. Ihre Schwester zweifelte nicht daran. Ihre Mutter sicher auch nicht. Und sie? Würde Ocko noch leben, wäre Mira für ein paar Tage zu ihm auf die Insel gefahren. Sie wären gemeinsam um die Odde herumgestiefelt. Hätten den Wind an ihren Kleidern zerren lassen, dem Meer gelauscht und den Horizont angeschwiegen. Vielleicht hätten sie Treibgut aus dem Spülsaum geborgen. Einen geborstenen Monitor voller Seegras oder eins von diesen Geisternetzen. Und Ocko hätte ihr eine Geschichte erzählt.
Von den Schwestern Ebbe und Flut, die ständig ihre Kräfte messen wollten. Die eine hielt die dicksten Treibgutbrocken am Boden oder ließ sie sogar im Sand versinken, während die andere sie in den Wellen wiegte oder wütend zerschmetterte. Schwester Ebbe langweilte das Spiel jedoch bald. Sie lehnte sich zurück und ließ die Flut einfach gewähren. Die sprühte vor Freude, Gischt spritzte in alle Richtungen. Die Wellen sprangen weit den Strand hinauf. »Gewonnen!«, rief die Flut und überschlug sich. »Gewonnen! Gewonnen! Gewonnen!« Doch nur die Möwen kreischten mit. Der Spaß verflog. Die Flut spürte ihre Kräfte schwinden. Sie dümpelte vor sich hin. Sie brauchte Ruhe. Am besten einen Rückzugsort. Das erinnerte sie an ihre Schwester Ebbe. Sie drehte sich nach ihr um und sah, dass sie die ganze Zeit bei ihr gewesen war.
Mira hätte den Kopf an Ockos Schulter gelegt und ohne ein weiteres Wort gewusst, dass sie das Richtige tun würde, egal, was sie tat.
Jetzt stand sie am Heck der Uthlande. Ihre Wetterjacke knisterte im Wind. Jeden Moment mussten sie Föhr passieren. Ihre Eltern waren gestern schon angereist. Eigentlich hatten sie mit ihr zusammen fahren wollen. Doch im letzten Moment behauptete Mira, nicht eher freizubekommen. Sie wollte die Stunden vor dem Familientrubel auf der Insel in Ruhe verbringen. Und allein. Die Feier fand zwar erst am Sonntag statt, aber ihre Mutter und ihre Schwester würden schon dafür sorgen, dass in den kommenden vier Tagen aufgeregtes Flattern in jedem Winkel herrschte. Sogar ihr Vater und Niels ließen sich einspannen. Mira kannte das von den Taufen der Jungen. Sie hatte ihre Aufträge rasch und ohne Nachfragen erledigt. Ihre Mutter und Anke bezweifelten das jedoch und kontrollierten jeden Handgriff zweimal. Mira hatte sich dazu durchgerungen, nur noch darüber zu lächeln. Denn Ocko war nebenan gewesen, und er bot ihr stets eine stille Bucht zum Ankern. Immerhin konnte sie sich in sein Haus zurückziehen. Wenn Anke nicht auch dort Verwandte vom Festland untergebracht hatte. Miras Einverständnis setzte sie sowieso immer voraus.
Sie fror. Doch Mira scheute sich davor, die restliche Zeit an Bord unten im Salon zu verbringen. Alle Tische und Bänke waren besetzt. Vor allem die begehrten Fensterplätze. Wie früher Anke und ihr schien es auch heute noch vielen darum zu gehen, wer als Erster einen Zipfel der Insel erspähte oder sogar den Leuchtturm. Dabei ließen die Scheiben, trüb vom Salzwasser, kaum Aussicht zu. Manche orientierten sich an den Bildschirmen, die an den Querwänden hingen. Dort bewegte sich die Fähre als roter Punkt auf einer Karte durch die Fahrrinne auf die Insel zu. Wenn nicht gerade Schreckensnachrichten aus aller Welt eingeblendet wurden.
Mira entschied sich, die Stufen hinabzusteigen, einen Becher Kaffee zu kaufen und ihn mit an Deck zu nehmen. Warme Luft schlug ihr entgegen, als sich die Glastüren mit leisem Zischen öffneten. Zwei etwa Fünfjährige rannten an ihr vorbei und weiter um den Papierkorb herum. Kreischend fegten sie um die mittleren Sitzgruppen. Mira reihte sich in die Schlange am Buffet ein. Während sie wartete, erinnerte sie sich an ihre erste unbegleitete Überfahrt. Die lag fast dreißig Jahre zurück. Wegen ihr hätte Ocko schon lange nicht mehr auf die Fähre steigen müssen, um sie und ihre Schwester in Dagebüll von ihren Eltern zu übernehmen. Sie hatte stets ein Buch dabeigehabt und hätte die ganze Zeit lesen können. Wenn sie allein gewesen wäre. Ihre kleine Schwester jedoch saß kaum eine halbe Stunde still, selbst wenn Mira ihr vorlas. Eigentlich war Anke nur fünfzehn Monate jünger, aber manchmal kam es Mira so vor, als wären es Welten. Bei ihrer ersten Überfahrt ohne Begleitung wollte Anke das Schiff erkunden, kaum dass sie in See gestochen waren. Als sie merkte, dass Mira hinter ihr herlief, schrie sie: »Lass mich! Ich bin doch kein Baby mehr!«
»Du bleibst hier drin!«, drohte Mira halblaut.
Die Blicke der Mitreisenden trafen sie wie ein eiskalter Luftzug. Mama hatte ihr doch eingeschärft, Anke nicht aus den Augen zu lassen. Die Kleine sollte nicht aufs Deck hinaufgehen. Schon gar nicht ohne Mira. Aber am besten überhaupt nicht. Sie würde auf die Bänke klettern und herunterspringen. Womöglich wagte Anke sogar, auf der Reling herumzuturnen. Und dann war es Miras Schuld, wenn etwas passierte. Es war immer Miras Schuld. Denn sie war ja schon groß und vernünftig. Die Gäste an den Nachbartischen, die von ihren Zeitungen aufsahen, signalisierten ihr, ausgerechnet ihr: Wehe, du tust der Kleinen was an! Der niedlichen Kleinen, die sich nur mal umsehen will. Und kaum hatten sie sich wieder in ihre Lektüre vertieft, plärrte Anke los. Im Nu war Mira bei ihr. Sie stellte die Kleine auf die Füße und zog sie von der Schwingtür vor der Treppe weg. Jemand brachte einen Löffel und drückte das kalte Metall auf die Beule an...
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