Schweitzer Fachinformationen
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Rastloser Westwind über dem Meer und über der Insel, in Böen stürmisch. Sie hörte es genau. Obwohl das Fenster geschlossen war. Doro zog sich die Decke über den Kopf. Fünf Uhr früh und gleich würde der Wecker klingeln. Noch so ein Tag an Land. Weil das Meer zu aufgewühlt war. Der achte in dieser Schicht. Wieder nur bis zum Hafen gehen und nicht an Bord. Nicht hinausfahren in den Windpark, sondern auf Station arbeiten. Diese Wettertage erschienen ihr endlos. Stunde um Stunde zogen sie sich hin. Wenn es hinausging zu einem Windrad, kam ihr das nie so lange vor. Dabei dauerte so eine Schicht sogar sechs Stunden bis zur Mittagspause und danach noch einmal sechs bis zum Feierabend.
Sie gähnte. Heute würde sie nicht die Erste beim Frühstück sein. Sie schob die Beine über die Bettkante und richtete sich langsam auf. Vielleicht hätte sie ein paar Tage freinehmen sollen. Heimfahren. Zur Großmutter aufs Festland. Elsie damit überraschen. Und sich selber auch. Sie brach selten aus diesem vorgegebenen Rhythmus aus: vierzehn Arbeitstage und vierzehn Tage frei. Doch wenn der Wind weiter zulegte, fuhr nicht einmal mehr das Schiff nach Cuxhaven. Dann kam auch keine Ablösung. Und sie saß hier fest. Auf diesem kahlen roten Felsen.
Doro drehte die Dusche auf. Bloß nicht daran denken, dass es so weit kommen konnte. Dass sie über ihre Schicht hinaus noch tagelang bleiben musste. In den vier Jahren, die sie hier arbeitete, war das selten vorgekommen. Sie erinnerte sich kaum noch daran. Das heiße Wasser lief über ihre Schultern. Die Anspannung wegspülen. Einfach so, mit dem Wasser den Rücken hinunter, in den Abfluss. Sie schloss die Augen, zögerte den Moment hinaus, in dem sie ihre Hand auf den Edelstahlknauf legen und den Regler von heiß auf kalt stellen würde. Eiskalt.
Wenig später setzte sie sich zu Steffen, einem der Schlosser, an den Frühstückstisch. »Moin.«
Er nickte ihr zu und wischte sich Krümel aus dem Bart.
Sie blies in ihre Kaffeetasse.
»Jetzt machst du auch noch Wind.« Er grinste.
»Und was sagt der Wetterbericht?«, fragte Doro.
Steffen winkte ab. »Wir müssen noch zwei, drei Tage Geduld haben.«
Gegen sechs Uhr brachen sie alle auf. Es war dunkel draußen und kalt. Doro schlug den Kragen hoch. Ein paar Grad über null. Wenigstens fühlte es sich im Wind so an. Sie gingen zügig. Einige Männer unterhielten sich über ein Handballspiel, das sie am Abend zuvor im Sportkanal gesehen hatten. Doro dagegen hatte sich früh zurückgezogen. Das Handy stumm, das Tablet ausgeschaltet. Hatte sich nach Ruhe gesehnt und nach Alleinsein. Manchmal brauchte sie das. Besonders nach so einer Reihe von Wettertagen.
Gut zwanzig Minuten später erreichten sie das Gelände am Südhafen. Die neongrünen Streifen auf Jespers Montur leuchteten ihnen bereits von Weitem entgegen. Der Leiter der Station erwartete sie an der Tür zum Servicegebäude. Er verteilte die Tagesaufgaben, erteilte die Freigabe und schickte die Männer in die Halle. Dann wandte er sich Doro zu. »Komm mit.« Sie steuerten sein Büro an. »Hast du es dir inzwischen überlegt?« Er deutete auf den Stuhl neben seinem Schreibtisch. »Du hast doch das Zeug dazu, die Station zu leiten!«
Doro sah ihn nachdenklich an. »Dann bin ich aber nicht mehr jeden Tag mit draußen.«
Er legte seine Unterlagen ab. »Hin und wieder schon. Und bei allen Schulungen, Übungen und Sicherheitstrainings natürlich auch. Das Abwinschen vom Heli bleibt dir jedenfalls nicht erspart.«
Als ob sie es darauf anlegte! Sich vom Hubschrauber abzuseilen, gehörte zu ihren Lieblingsübungen. Sie musste dazu zwar auch in den unförmigen Überlebensanzug steigen, aber wenig später sicher am Haken zu hängen und durch die Luft zu schweben, fühlte sich für Doro nach Freiheit an. Obwohl ihr dieses Wort nicht über die Lippen kam. Ebenso wenig wie irgendein Wort, das auch nur ansatzweise die Erfahrung beschrieb, sich unter Wasser aus einem Helikopter zu befreien.
»Du leistest gute Arbeit, sonst hätte ich dich gar nicht erst gefragt. Beim Troubleshooting bist du spitze, und das weißt du auch.«
Doro setzte sich hin. »Ich brauche jemanden, auf den die Männer hören. Nicht nur die Azubis. Die Handwerker, die Techniker, die ITler. Und die Crews auf den Schiffen. Du hast mehr als das nötige Wissen, die Erfahrung - und ein Händchen dafür.« Jesper sah sie erwartungsvoll an. »So verkaufst du dich unter Wert.«
Doro verschränkte die Arme.
Jesper blätterte kurz in einer Mappe auf dem Schreibtisch.
Doro sah sich in dem winzigen Büro um. Auf einem der Monitore war die Karte des Windparks mit den Symbolen für jede der achtzig Turbinen zu sehen. Die Betriebsdaten wurden angezeigt und wiesen die Windgeschwindigkeit, produzierte Leistung, Drehzahl und Statusmeldungen der Steuerung aus. Im Moment liefen sie alle.
»Am besten du siehst mir die nächsten zwei, drei Tage über die Schulter, damit du einen Eindruck von den Aufgaben hier bekommst«, sagte Jesper. »Und wenn du zusagst, sorge ich für den Rest und leite alles in die Wege.«
Doro zögerte. Einerseits liebte sie neue Herausforderungen, und Jespers Job zu übernehmen, Site Managerin zu werden, schien eine zu sein. Andererseits fand sie es jeden Morgen aufs Neue spannend, zu den Windrädern oder zum >dicken Malte<, wie sie die Trafostation nannten, hinauszufahren und dort mit zwei Kollegen zu arbeiten. Sie konnte sich kaum vorstellen, stundenlang in diesem Büro vor den Bildschirmen zu hocken. Und immer Rücksprache mit der Leitwarte in Bremerhaven zu halten. Am besten auf Englisch, wegen der Mitarbeiter aus Skandinavien. Und wer weiß, was noch alles dazukam.
»Sind wir uns einig?«, drängte Jesper.
»Tja, einverstanden - was die nächsten zwei, drei Tage angeht.«
»Fein! Dann mal los.«
In den folgenden achtundvierzig Stunden flaute der Wind tatsächlich ab. »Deutsche Bucht nord- bis nordostdrehend um 4, abnehmend um 3, später schwach umlaufend, See 1 Meter«, notierte Jesper. Nicht mehr als eine mäßige Brise, um die zwanzig Stundenkilometer. Leicht bewegte See, die Wellenhöhe deutlich unter einem Meter fünfzig, wusste Doro. Also konnten die Männer wieder zu den Windrädern hinausfahren. Jesper teilte die Teams ein, überprüfte, ob jeder seine persönliche Schutzausrüstung angelegt hatte und die benötigten Werkzeuge und Ersatzteile gepackt waren. Doro fröstelte. Sie zog den Reißverschluss ihrer Jacke bis unters Kinn zu. Ein wenig beneidete sie die Männer jetzt. Dann fragte sie sich, ob es wohl auch jemanden unter ihnen gab, der lieber an ihrer Stelle an Land bliebe. Der fand, dass ihm die Leitung der Station eher zustand als ihr. Der länger dabei war oder sich für qualifizierter hielt. Gehört hatte sie bisher nichts. Nicht einmal Sticheleien. Doro hielt das Klemmbrett mit den Listen fest in beiden Händen. Sie beobachtete das Boarding an der Kaikante, rührte sich nicht, als das Schiff ablegte. Sie sah ihm länger als nötig hinterher, gerade so, als müsste sie es mit ihrem Blick aus dem Hafen lotsen. Rasch verschwand es in der Dunkelheit. Nur die weiße Gischtspur wies noch einen Moment lang nach Norden, bevor sie verging. Schließlich folgte Doro dem Site Manager wieder ins Büro.
»Vielleicht bist du irgendwann froh, nicht mehr jeden Tag in den Turm klettern zu müssen«, sagte Jesper.
Vielleicht, dachte Doro, irgendwann.
»Dann kümmern wir uns heute erst mal um die Ersatzteilbestände und sehen, was nachbestellt werden muss. Aber nie das Büro ohne den Funk verlassen!« Jesper reichte ihr sein Tablet. »Gib gleich alles in die Tabelle ein.«
Der Tag verlief ohne Zwischenfälle. Und doch atmete Doro auf, als die Männer abends gegen sieben wieder an Land kamen. Die Feierabendroutinen nahmen ihren Lauf, und eine halbe Stunde später gingen sie gemeinsam zurück zum Hotel.
Am nächsten Morgen meldete sich ein Elektriker krank. Jesper musterte den Dienstplan eingehend.
»Ich fahr mit raus!«, rief Doro, noch bevor er fragen konnte.
»War's denn so schrecklich, hier mit mir im Büro?«
Doro schüttelte den Kopf.
Jesper grinste. »Schon gut. Das war ja wohl nicht dein letztes Wort, was die Stationsleitung angeht?«
»Nein. Bestimmt nicht.«
Doro eilte zu den anderen hinüber. Die Teamleiter packten mit den Lageristen die Ausrüstung und verstauten die Ersatzteile, die sie da draußen möglicherweise brauchten, in den orangefarbenen Lifting Bags. Jeder Handgriff saß. Sie verstanden sich wie immer ohne viele Worte. Wenig später überprüfte Jesper noch einmal, wer zu welchem Team gehörte, stellte klar, was auf welcher Mühle zu tun war, und erteilte schließlich die Freigabe.
Als das Zubringerschiff den Hafen Richtung Windpark verließ, entspannte sich Doro. Insgeheim hatte sie befürchtet, dass Jesper sie im letzten Moment doch noch zurückrufen und auf der Station behalten würde. Sie rieb sich die Hände, spürte, wie die Vorfreude auf die Arbeit in der Gondel ihren Körper flutete. Am liebsten hätte sie die ganze Fahrt über an der Reling gestanden und nach den rot blinkenden Leuchtfeuern Ausschau gehalten, nach der Hindernisbeleuchtung, die signalisierte, dass sie sich den Anlagen näherten. Doch im Morgengrauen zehrten Kälte und Wind schnell an ihren Kräften. So blieb Doro unter Deck und streckte sich, wie die Männer, in ihrem Sitz aus. Die meisten dösten vor sich hin. Einige wiegte das Schaukeln sogar wieder in den Schlaf. Doro...
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