Schweitzer Fachinformationen
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Sie war immer noch da. Laura hörte ihre leise schnorchelnden Atemzüge, der Berg unter der karierten Wolldecke hob und senkte sich, die grün-blauen Haare glänzten auf dem dunkelroten Samtkissen. Laura trat zögernd näher, betrachtete den nackten Arm auf der Decke und las das Tattoo wie eine Postkarte, die nicht an sie adressiert war. Um eine knapp bekleidete Tänzerin rankte sich die Schrift und schlängelte sich hinunter auf den Handrücken: »Wild women don't have the Blues«.
Wer um Himmels willen war diese Frau, die wie eine Dampfwalze in ihre Wohnung eingedrungen war? Wie alt mochte sie sein? Ende dreißig, Anfang vierzig? Egal, sie sollte verschwinden. Einfach weg sein.
Laura wollte sie wachrütteln, aber ihre Hände weigerten sich, hingen schlaff an ihren Armen. Wäre diese Trulla wach, müsste Laura reden, erklären oder würde wieder in dem Sturzbach ihres Gequatsches ertrinken. Zitternd drehte Laura sich weg, ging zurück in ihr Schlafzimmer und schloss die Tür hinter sich.
Was sollte sie tun? Sie begann hin- und herzulaufen, zwischen Bett und Tür, hin und her, Tür und Bett - wehrte sich gegen die innere Erstarrung, die sich in ihr festkrallte, hin und her. Sie öffnete das Fenster und die Lamellen zur Gasse. Sonnenlicht stach ihr in die Augen. Auf der Dachterrasse gegenüber hängte Signora Luisa Bettlaken auf. Sie war es gewesen, die Laura damals schreien gehört, Fabio auf der Terrasse gesehen und die Ambulanz gerufen hatte. Laura schloss das Fenster wieder, bloß keine Fragen beantworten.
Laura ließ sich auf das Bett fallen, schaute an die Decke, die Stuckrosette, den gläsernen Leuchter, die Spinnweben zwischen den Birnen. Sie könnte einen Spaziergang machen. Weggehen, wiederkommen, Erscheinung verschwunden, alles gut. Auch ihre Ärztin hatte neulich Bewegung empfohlen, frische Luft, Licht - das würde ihr guttun. Vielleicht könnte ein kleiner Hund sie aufmuntern? Spaziergänge hätten noch niemandem geschadet, ob mit oder ohne Hund, und könnten nebenbei auch manche Tablette ersetzen. Laura hatte nicht reagiert. Die Gute-Laune-Pillen nahm sie sowieso nicht. Von den Rezepten löste sie nur die Schlaftabletten ein.
Laura sammelte Hose, Pullover, Socken vom Boden ein. Verließ das Schlafzimmer durch die zweite Tür, die sich auf den Flur neben der Haustür öffnete. Griff Wintermantel, Tasche, Strickmütze, Schal und flüchtete aus der Wohnung.
Leichtes Brummen im Kopf - Fra öffnete vorsichtig die Augen. Fremdes Sofa in fremder Wohnung - wo verdammt war sie schon wieder gelandet? Hohe Decke, Bücher, überall Bücher an den Wänden, auf kleinen Tischen. Ein Kamin, behäbige Sessel, schwere Vorhänge, durch die sich ein Sonnenstrahl zwängte. Gediegenes Ambiente, das Sofa war bequem, die Wolldecke kratzte. Sie befühlte den Zustand ihrer Bekleidung - Bluse, Bleistiftrock, Netzstrümpfe, Wäsche -, alles verrutscht, aber vollständig. Sie war angezogen, dann konnte es so schlimm nicht gewesen sein. Fra schloss noch einmal die Augen. Aus dem Nebel tauchten die Bilder der Nacht auf, sie sortierte die Teile, und als sie das Puzzle zusammengesetzt hatte, war klar: Fra hatte ein Problem.
Sie langte nach ihrem Mantel auf dem Teppich, dem Telefon in der Tasche. Mario anrufen. Mario würde helfen. Trotz allem. Mario antwortete nicht. Welcher Tag? Wie viel Uhr? Montag, kurz nach elf, sagte das Handy. Okay, keine Chance, er saß an seinem Postschalter. Fra hinterließ ihm eine Sprachnachricht. Ihre Stimme klang erbärmlich. Aber Mario würde sich melden, sobald er am Nachmittag das Postamt abschloss. Sicher würde er das tun. Seine Hoffnung war unsterblich.
Trotz der ungezählten Nächte, die Fra auf Marios Sofa - und nicht in seinem Bett - geschlafen hatte. Trotz der ungezählten allerletzten Nächte. Mario blieb der ewig beste Freund aus Schultagen. Ein Sanitäter mit dem untrüglichen Gespür, auch ohne Notruf im richtigen Moment in Fras Leben zu landen. Nach Jahren ohne Kontakt war er wie aus dem Himmel in die Schlange an der Supermarktkasse gefallen - Ciao, bella, so eine Überraschung! Wie geht's? Damals ging es gerade gar nicht gut, aber Mario tanzte neuerdings Swing. Er war zwar kein Tiger auf der Tanzfläche, aber munterte das Leben seiner Schulfreundin auf. Damals war ihre Haut noch fast frei von Tattoos gewesen, ihre Haare lang und braun. Allerdings, an ihrem Knöchel leuchtete schon der kleine blaue Schmetterling. Der hätte Mario eine Warnung sein können, für das, was noch kommen sollte.
Sie versuchten eine Liebesbeziehung, aber Fra brach dieses Experiment nach zwei Monaten ab, verschwand eine Weile, kam zurück und pflegte fortan ihre Dankbarkeit für Marios Liebe und Güte und seine unendliche Geduld, ihr zuzuhören, ausschließlich auf seinem Sofa und nicht mehr in seinem Bett.
Mario hatte das ertragen und noch viel mehr. Ihre Verwandlung von der freundlichen, gut erzogenen jungen Frau in ein Gesamtkunstwerk. Die bunten Haare, die aufreizenden Klamotten, das laute Make-up und all die Tattoos - Rosen, verbogene Gitarristen und Ballerinen, geschwungene Schriften und düstere Symbole, die nach und nach ihren Körper bevölkerten. Bei jeder Rückkehr auf Marios Sofa war ein weiteres Stückchen ihrer blassen Haut verschwunden. Hin und wieder schüttelte er den Kopf und seufzte wie Eltern, die den pubertierenden Kindern hinterherschauen und wissen, dass sie nur noch das Schlimmste verhindern können, vielleicht.
Er war der perfekte Postangestellte. Der jahrelange Dienst am Schalter hatte ihn gelehrt, stoisch eins nach dem anderen zu erledigen und zeternde, ungeduldige oder gar unverschämte Kunden kühl wie ein Pokerspieler hinzunehmen. Sogar Fras Liebhaber.
Er hatte die anderen Männer nie gesehen, aber Fra wusste, dass Mario sie roch. Ein einziges Mal hatte er mit zusammengebissenen Zähnen »Du stinkst« gezischt, als sie am frühen Morgen in seiner kleinen Wohnung aufgekreuzt war. Er hatte gezittert und plötzlich mit erstaunlicher Wucht ein Loch in die Wohnzimmertür getreten. Es war Marios einziger Ausfall gewesen. Kurz darauf hatte Fra das kleine Pin-up-Girl unter ihr Schlüsselbein gesetzt, das sie seitdem morgens im Spiegel anblinzelte. Es war das Ende der braven Buchhalterin.
Fra mietete eine Mansarde. Sechster Stock ohne Aufzug, ein Zimmer mit Kochnische, schräger Decke und klappriger Dachluke. Sie wollte die Reste ihres biederen Lebens loswerden, inklusive Mario, damals, nach dem Loch in der Tür. Doch im Sommer war die Mansarde ein Backofen, im Winter zischelte der Wind feuchtkalt durch die Luke. Also schlich sich Fra in schlimmen Nächten wie eine streunende Katze wieder auf Marios Sofa. Mario hoffte weiter, dass Fra doch noch zur Besinnung kommen und eines Nachts unter sein Laken rutschen würde.
Wenn Fra sich in lichten Momenten selbst betrachtete, gestand sie sich ein, dass die schwindelerregenden Schlenker aus ihrem bürgerlichen in ein bluesiges Künstlerleben auch für abgebrühtere Typen kaum verständlich gewesen wären. Hätte, könnte, sollte, wollte - auch an diesem Morgen blieb Fra sich selbst treu, rief weder Klempner noch Vermieter an, sondern Mario. Wirklich schade, dass sie in Mario nicht verknallt war. Sie brauchte ihn, aber sie begehrte ihn nicht. So banal. Fra war Mario für all seine Einsätze dankbar, aber mit Mario war es wie mit dem Swing: Der guten Laune des Tanzes fehlte die Leidenschaft.
Die Rettung erschien ihr auf dem Heimweg in einer schmuddeligen Winternacht. Sie schlenderte über die versteckte kleine Piazza in Trastevere, die sich anfühlte wie ein offenes Wohnzimmer. Einige Bäume hatten überlebt, in ihrem Schatten saßen tagsüber alte Männer auf klapprigen Stühlen der Bar und spielten Karten, Mütter schaukelten Kinderwagen. In den Palazzi drum herum gab es ein paar alteingesessene Läden, die Bar Sport, eine Pizzeria. Die wenigen Touristen, die sich auf die Piazza verirrten, bemühten sich, möglichst nicht aufzufallen, oder verschwanden aus dem öffentlichen Wohnzimmer wieder in die üblichen pittoresken Gassen.
In dieser Nacht fiel der Lichtkegel einer Straßenlampe auf einen Zettel, der an eine von Efeu umrankte Haustür gepinnt war: »Zweizimmerwohnung zu vermieten«. Fra betrachtete den ehrwürdigen Palazzo. Die Loggia im Obergeschoss, das breite Eingangstor - das war keiner der einfachen Palazzi gewesen, in denen Arbeiter gewohnt hatten. Trotzdem fasste sie einen Entschluss, riss den Zettel ab und steckte ihn in die Tasche.
Am Morgen rief sie die Telefonnummer auf dem Zettel an. Immobilien-Agent, Fra ignorierte die schnöselige Stimme und präsentierte sich so seriös wie in alten Tagen: alleinstehend, Buchhalterin, keine Kinder, keinen Hund, sie suche eine Wohnung in der Nähe ihrer Arbeitsstelle - wobei sie die Arbeitsstelle nicht näher präzisierte - und fragte vorsichtshalber nicht nach der Höhe der Miete. Die würde sie vermutlich in ein finanzielles Desaster katapultieren. Sie bekam einen Besichtigungstermin.
Der Agent musterte Signora Francesca. Die Haare waren damals noch pink, aber sie hatte einen Hut aufgesetzt und den weiten Wintermantel mit dem breiten Kragen angezogen, um das Wildeste zu kaschieren. Zwei Zimmer und eine bessere Abstellkammer mit Fenster, kleine Küche, Bad mit Duschkabine, freundlich, aber verwohnt. Die Miete? Unerschwinglich. Fra hätte sofort gehen müssen.
Aber die Wohnung war trocken, größer als die feuchtkalte Mansarde, und sie lag an dieser hübschen Piazza. Sofort gehen, warnte die Buchhalterin in ihr. Nur...
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