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Elena hatte Nicola zum ersten Mal an ihrem letzten Abend mit Michele gesehen. Nach dem Tag an der schroffen Felsküste im Süden, wo das Meer glasklar und abgrundtief war. In der Dämmerung waren sie zurückgefahren, auf schmalen Straßen, die sich durch das verdorrte Land wanden. Am Rande eines Dorfes hatten sie vor einem Schild angehalten: »Antica Osteria di Clemente«. An der Hauswand und über der Terrasse mit den Tischen hatte eine rote Bougainvillea geleuchtet, Zikaden hatten in der Luft gesirrt. Es war Micheles dreißigster Geburtstag gewesen.
»Allora, wird das Leben nun ernst?« Michele lächelte Elena ein wenig spöttisch an, als sie mit einem Glas kalten Rosato die Antipasti probierten. Manchmal war sie immer noch die ernsthafte Vierzigjährige, wie damals, als sie Michele in Lecce kennengelernt und sich einfach nicht getraut hatte, sich in den zehn Jahre jüngeren ragazzo zu verlieben. Ihm war der Altersunterschied egal gewesen und ihr war nach seiner Charme-Offensive nichts anderes übrig geblieben, als sich in diesen gut aussehenden römischen Maler zu verknallen. Und als der nun 30-jährige Michele sie an diesem Sommerabend mit seinen Grübchen angrinste, konnte sie nicht anders, als ihn auf den Mund zu küssen. »Sciocchezze, Blödsinn!«
Er lebte inzwischen als Dauergast bei Elena und Ben, gern gesehen von ihrem Onkel Gigi. Michele war ein angenehmer Anblick und außerdem für Elena hoffentlich mehr als ein kleiner Trost nach dem normalen Ende ihrer normalen Ehe.
Am nächsten Morgen wollte Michele nach Rom fahren. Eine Ausstellung vorbereiten, ein Kinderbuch fertig illustrieren - die erste Hitzewelle hatte ihn nicht mehr arbeiten lassen in seinem provisorischen Atelier, einer Mansarde auf Gigis Dachterrasse.
»Was willst du, dort hast du Licht!«, hatte Gigi versucht, ihn aufzuhalten.
»Gigi, la luce non è il problema!«, hatte Michele gereizt erklärt, »warst du mal länger dort oben? Im Winter ist die Bude feuchtkalt, im Sommer eine Sauna.«
Es war das erste Mal gewesen, dass Michele Gigi angegiftet hatte. Ein halbes Jahr nachdem Michele nach Lecce gekommen war, schien ihm alles zu eng zu werden in dem Städtchen am Ende von Italien. Er musste offensichtlich mal wieder nach Rom, in seine große Stadt, wo er aufgewachsen war. In sein kleines Atelier, Kumpels auf Pizza und Bier treffen. Wen noch? Elena hatte keine Ahnung. Versuchte einfach zu vertrauen. Eine Woche oder zwei ohne Michele, das war ja nun kein Drama.
Nach dem Essen wollten sie gerade ins Auto einsteigen, als Trommelschläge durch die Nacht hallten. Sie folgten ihnen durch belebte Gassen, ließen sich mitziehen und fanden sich auf einer tanzenden Piazza wieder. Zwischen Mädchen in Kleidchen, älteren Ehepaaren und bunten Freaks - alle hüpften und drehten sich umeinander und warfen sich leidenschaftliche Blicke zu. Von der Bühne klangen schnelle Rhythmen rasselnder Tamburine zu ausgelassenen Melodien von Geige, Gitarren und Akkordeon. Über allem erklang eine Stimme, die aus dem zierlichen Körper einer jungen Sängerin drang. Von den anderen Musikern im Halbdunkel umrahmt, wiegte sie sich in einem weißen Kleid mit knöchellangem, schwingendem Rock - sie erstrahlte in einem Lichtkegel auf der Bühne wie eine Madonna.
»Was ist das für Musik?«, hatte Elena eine Frau in langem Rock gefragt, die am Rand der Piazza nach Atem rang.
»Pizzica!«, hatte die gerufen, »dazu kann man einfach nicht still sitzen, oder?«, und war wieder im Getümmel verschwunden.
Dann hatte Elena zum ersten Mal Nicola gesehen, schräg hinter der Sängerin. Das Tamburin aufrecht in der linken Hand, die rechte wirbelte über das Ziegenfell. Sein Ohr über den Holzrahmen mit den Schellen geneigt, als ob er hineinkriechen wollte in das Tamburin. Die Augen halb geschlossen, in Trance trommelnd, während die Piazza wie ein Vulkan in der Nacht sprühte.
*** »Un classico«, konstatierte Gigi am nächsten Morgen, als Elena ihm von der Magie auf der Piazza erzählte. Wie ein Arzt, der eine banale Grippe diagnostiziert, lächelte er verständnisvoll: »Hat es dich also auch erwischt, das Pizzica-Tamtam. War ja zu erwarten.«
Sie standen am Tresen des Caffè Alvino an der zentralen Piazza Sant'Oronzo in Lecce. In dem ehrwürdigen Caffè war es angenehm kühl, es duftete nach Espresso und süßem Gebäck. Verschiedene Kekssorten lagen zu Pyramiden aufgehäuft in einer Vitrine. Wenn Ben mitkam, öffnete der barista Salvatore regelmäßig das Glastürchen und drückte dem hübschen biondino zwei cartouche, kleine gerollte Kekse aus weichem Mandelteig, mit einer Serviette in die Hände. Zwei, natürlich, eine für die rechte, eine für die linke Hand. Elena hatte längst jeden pädagogischen Widerstand aufgegeben.
»Caffè?«, rief Salvatore hinter dem Tresen.
»Due, grazie!«, antwortete Gigi und hob zwei Finger zur Bestätigung.
»Caldo o freddo?«, echote es, und wem es bisher noch nicht klar gewesen wäre, wusste es jetzt: Der Sommer war definitiv ausgebrochen! Man bestellte nicht mehr einfach caffè, sondern wahlweise heißen oder kalten.
»Wie viel Zucker?«
»Eineinhalb Löffel!«, warf Gigi zurück.
»Einen halben«, seufzte Elena, die gerade erst Michele nach einer viel zu kurzen Nacht in den Zug nach Rom geschoben hatte. Ihr Onkel war unterdessen mit Benjamin in die katholische Vorschule geschlendert.
Bevor er seinen Trödel- und Antiquitätenladen öffnete, pflegte er einen zweiten, mehr oder weniger schnellen caffè mit seiner geliebten Nichte im Caffè Alvino zu nehmen. Ein Ritual, das Elena sehr genoss, auch wenn sie an diesem Tag leider nicht präsent war, sondern der vergangenen Nacht noch nachhing.
Salvatore verrührte sorgfältig die jeweilige Zuckermenge mit caffè in Tässchen und schüttete die Mischung in Gläschen über knackende Eiswürfel. Eine kräftige, kalte Mischung, die Elena den Dunst aus ihrem Kopf vertreiben sollte.
»Meine-Schwester-deine-Tante hat übrigens mal wieder klare Worte gesprochen«, erzählte Gigi mit säuerlichem Unterton. Elena hob kurz fragend den Blick, dann wandte sie sich wieder dem Eiswürfel zu, der im caffè langsam schmolz. Seine Schwester Benedetta war Nonne, lebte im Kloster und arbeitete tagsüber als Pförtnerin in der katholischen Schule ihres Ordens. Seit dem Winter besuchte Ben - dank Benedetta - dort die Vorschule und würde nach den Sommerferien in die erste Klasse wechseln. Zwar war weder Elena katholisch noch Ben getauft, aber das war der Schulleitung angeblich egal gewesen. Zumindest hatte sich Ben schnell eingelebt und Italienisch gelernt, es gab eine Mensa und Nachmittagsbetreuung. Elena würde also wieder arbeiten können. Zudem unterrichteten die Nonnen nur Religion, überließen normalen Lehrerinnen die anderen Fächer und beschränkten sich - im Wesentlichen - auf klare Worte auf dem Pausenhof.
»Benedetta hat dafür gesorgt, dass Ben eine tragende Rolle bei der Vorführung am Ende des Schuljahres bekommt«, berichtete Gigi.
»Das ist ja toll! Davon hat Ben ja gar nichts erzählt!«
»Sollte ja auch eine Überraschung für uns sein.«
»Gelungen, würde ich sagen!«, lächelte Elena.
»Benedetta konnte natürlich nicht dichthalten, sie ist vor Stolz über ihre Heldentat geplatzt und musste sie mir unter die Nase reiben.«
»Und die wäre?«, Elena begann sich zu amüsieren.
»Ein freundliches Gespräch mit seiner Lehrerin, kurze Erinnerung, dass Ben ihr Großneffe sei, und so weiter und so weiter .«, höhnte Gigi, »als ob die Lehrerin unserem Ben nicht sowieso eine schöne Rolle gegeben hätte.«
Das eigentlich Interessante war etwas vollkommen anderes: Derlei Kommunikation zwischen den Geschwistern deutete auf ein Ende ihrer Eiszeit hin. Benedetta hatte ihren Bruder jahrelang geflissentlich ignoriert. Gigi hatte sein schwules Leben zwar nie an die große Glocke gehängt, aber auch nicht verheimlicht. Sein Palazzo lag im centro storico zwar ihrem Kloster gegenüber, doch das höchste der Gefühle war ein Gruß auf der Gasse gewesen, wenn sie quasi übereinander stolperten. Nun schien der kleine Ben, das einzige Kind ihrer einzigen Nichte, ein Wunder zu bewirken. Großonkel und -tante schenkten sich keinen Meter, wenn es um Benjamins Wohl ging. Keiner wollte dem anderen das Feld überlassen. Aber immerhin sprachen sie wieder miteinander.
»Ich werde mit Ben natürlich üben«, sagte Gigi.
»Was denn üben? Die proben doch in der Schule bestimmt schon seit Wochen«, entgegnete Elena.
»Bisschen Unterstützung kann nicht schaden«, sagte Gigi bestimmt, »oder kannst du salentinischen Dialekt singen?« Elena schüttelte verwundert den Kopf.
»Ecco!«
Warum sollte der kleine deutsche Junge, der gerade erst Italienisch gelernt hatte, eigentlich unbedingt in einem salentinischen Dialekt singen? Weil der schwule Onkel und die fromme Tante allen Ernstes in den Ring steigen wollten, um einander ihre guten Taten für den Neffen um die Ohren zu hauen? Na, halleluja!
Aber das war nichts gegen die Überraschung, mit der der Onkel nun rausrückte.
»Bella mia, weißt du, mit wem ich gestern mal wieder ausführlich telefoniert habe, als du am Meer turteln warst?« Wenn Gigi so anfing, ahnte Elena, hatte er etwas zu verkünden. »Gloria!« Elenas...