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2. Der kognitive Dialog - oder: Kein Dialog der Religionen ohne Kenntnis der anderen und der eigenen Religion
2.1 Charakterisierung der Dialogebene
Im kognitiven Dialog trete ich von außen an die Religionen heran. Ich nehme also die Außenperspektive ein. Die Gründe können verschieden sein: theologisches, religionswissenschaftliches, dialogisches Interesse. Selbst Agnostikern oder Atheisten ist diese Perspektive zuzumuten, auch wenn diese Personengruppe vermutlich nicht von Dialog sprechen würde. Zur intellektuellen Redlichkeit gehört aber, dass man weiß, wogegen genau man ist, und entsprechende Ansichten argumentativ vertreten kann. Positiv gewendet: Sich über Religionen kundig zu machen, wenn auch aus skeptischer Distanz, trägt zur Sprachfähigkeit bei und gehört gegenwärtig zur gebotenen Allgemeinbildung. In diesem Zusammenhang finde ich es bemerkenswert, dass im Mehrreligionengebäude House of One in Berlin1 neben Räumen für die drei Weltreligionen Judentum, Christentum und Islam ein vierter Raum eingerichtet wird. Ein solcher Raum für Skeptiker, Atheisten oder Agnostiker kann und soll auch zum Raum für Erkundungen werden.
Der »kognitive Dialog« ist Sache des Verstandes, man könnte, wie gesagt, auch vom »Dialog des Kopfes« sprechen. Es steht das Wahrnehmen, Denken, Erkennen der fremden Religion in ihrer äußeren Gestalt, etwa in Form von Ritualen im Vordergrund. Das kann zu wechselseitigen Rückfragen führen: von Muslimen zu Christen und umgekehrt. Ich schaue mir, ähnlich wie ein Religionswissenschaftler,2 die Religion sozusagen von außen an.
Wo die Bereitschaft zu Erkundungen vorhanden ist, lassen sich rasch Informationen zu den Weltreligionen finden. Dabei muss nicht zuerst an Bücher gedacht werden, auch wenn hier Empfehlenswertes auf dem Markt ist. Ich denke an das Internet und erinnere mich einer Begebenheit während meiner beruflichen Tätigkeit am Berliner Dom: Jemand kam auf mich zu und sagte, er habe sich im Internet über alle Weltreligionen informiert; das Christentum habe ihm am meisten eingeleuchtet. Er wolle sich nun taufen lassen! - Informationen zum Christentum stehen zahlreich in Print- und Digitalmedien zur Verfügung, auch für Muslime, die sich näher für das Christentum interessieren. Umgekehrt stehen auch für Christen verlässliche Informationen zum Islam vielfältig bereit. Um nur ein leicht zugängliches Beispiel herauszugreifen, das von der Evangelischen Kirche verantwortet wurde: »Was jeder vom Islam wissen muss« ist eine Broschüre, die als PDF-Datei im Internet in einer siebenundzwanzigseitigen Kurzfassung abrufbar ist.3 Der Islamdiskurs beschränkt sich hier weitgehend auf die Ebene des sachkundigen Austauschs von Informationen. Die Schrift liefert differenzierte Informationen zu unterschiedlichen Strömungen im Islam, wie z.B. über den Sufismus. Es wird den Lesern überlassen, eigene Werturteile im Quervergleich zum Christentum zu fällen; sie werden nicht vorgegeben. Insofern verstehe ich die Schrift als Einladung zur Beschäftigung mit dem Islam: »[I]n Kenntnis des eigenen Standpunkts und im Respekt gegenüber der anderen Seite [sollte] ein aufrichtiger Dialog geführt werden, der kritisch und selbstkritisch Gemeinsamkeiten und Unterschiede sucht, die Wahrheitsfrage nicht ausklammert und es ermöglicht, ethische Handlungsziele gemeinsam zu verfolgen.«4
Neben dem Internet spielen auch Printmedien bei der Förderung des kognitiven Dialogs zwischen Muslimen und Christen eine Rolle. Ich denke daran, dass Tageszeitungen Suren aus christlicher und muslimischer Perspektive kommentieren lassen oder dass man sich dafür interessiert, wenn in einer Stadt der muslimische Gebetsruf erklingen darf. Ein Beispiel: Während der Zeit der ersten »Welle« der Corona-Krise im April 2020, als auch Moscheen zum Freitagsgebet geschlossen waren, erwirkte eine Gemeinde in Flensburg, dass ein Muezzin öffentlich zum Gebet aufrufen durfte.5 Sofort war auch das interreligiöse Interesse da und man fragte Experten, ob der Gebetsruf mit dem Glockenläuten zu Beginn des Gottesdienstes vergleichbar sei. Die Antworten lauteten: »ja« und »nein«! »Ja« einerseits, denn sowohl der Gebetsruf als auch das Glockenläuten erfüllen die Funktion der Einladung; »nein« andererseits: Der Gebetsruf umfasst nämlich mehr. Zwar ist das Läuten vor dem Kirchgang liturgisch auch immer schon Teil des Gottesdienstes, aber der Gebetsruf des Muezzin6 beinhaltet bereits das Bekenntnis (sahada) und ist damit beides: die Einladung zum Gebet und selbst schon Gebet. Angekündigt wird im Gebetsruf, dass die Zeit zum Morgen-, Mittags-, Nachmittags-, Abend- oder Nachtgebet gekommen ist. Manche Muslime nehmen am gemeinschaftlichen Gebet in der Moschee teil, manche beten zu Hause. In der Regel wird das gemeinschaftliche Gebet empfohlen.
An diesem Beispiel deutet sich die Durchlässigkeit der Dialogebenen an: vom kognitiven zum empathischen Dialog. Denn wer vom christlichen Glauben aus in den Dialog eintritt, bringt immer schon ein Vergleichsmoment mit. Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen der eigenen und der fremden Religion werden - oft eher intuitiv als schon reflektiert - festgestellt. Im Anschluss mag man sich fragen, warum dem so ist. Die analytische Frage, die aus der komparativen Betrachtung der Religionen folgt, ist erkenntnisgeleitet und lässt Rückfragen auf die eigene Religion zu. Warum werden Muslime fünfmal am Tag zum Gebet eingeladen, warum Christen in der Regel dreimal? Warum ist diesbezüglich die gemeinsame Gebetspraxis für Muslime wichtig, während bei uns - abgesehen vom Läuten am Sonntag vor dem Gottesdienst - das tägliche Glockenläuten um 12:00 und um 18:00 Uhr eher an eine ehemals lebendige Gebetspraxis in der Gemeinschaft erinnert? Umgekehrt mögen sich Muslime fragen, warum das persönliche Gebet spätestens seit der Reformation für Christen einen zentralen Stellenwert hat. Im empathischen Dialog gebe ich diesen Warum-Fragen Raum und leuchte sie aus der Innenperspektive des Glaubenden aus: Warum ist Christen das persönliche, Muslimen das gemeinsam gehaltene (Ritual-)Gebet wichtig? Ist es bloß Pflicht? Herrscht Angst vor? Fürchtet man bei Nichtbeachtung die Strafe Gottes? Worauf vertrauen Muslime am Ende - vor Gottes Gericht? Auf die Beachtung religiöser Regeln oder die Barmherzigkeit Gottes? Vorab: Die Antworten, die ich erhielt, waren einfach. »Am Ende vertraue ich auf die Barmherzigkeit Gottes.« Oder: »Nicht Angst vor der Strafe, sondern davor, dass ich Gott vergessen könnte!« Denn: »Sünde beginnt mit dem Vergessen!«
Hinter diesen Antworten ist ein Gottesbild erkennbar, in dessen Mittelpunkt die Hoffnung auf Gottes Barmherzigkeit steht.7 Bereits vom Wortstamm her ist interessant: Das arabische Wort für Barmherzigkeit (ar-rah?ma¯n, der Barmherzige) ist etymologisch verwandt mit dem hebräischen rahamim, Erbarmen, das gemeinsam mit den Suffixen hen und hesed das semantische Umfeld des neutestamentlichen Wortes für Gnade (griech. cháris) - in der lateinischen Bibel, der Vulgata, mit lat. gratia wiedergegeben - bildet, was wir unter den vier reformatorischen soli bei Luther in der Figur des sola gratia (»allein aus Gnade«) finden. Nach Luther erkennen wir »des Vaters hulde und gnade [.] durch den Herrn Christum, der ein spiegel ist des Veterlichen hertzens, ausser welchem wir nichts sehen denn einen zornigen und schrecklichen Richter«.8 Christen wissen von der Barmherzigkeit Gottes, indem sie auf Christus schauen. Wir fragen: Woher wissen Muslime von seiner Barmherzigkeit? Führt auch hier ein Weg über Jesus von Nazareth, genauer: den muslimischen Jesus? Oder über Muhammad?
2.2 Bedingungen für den kognitiven Dialog: Kenntnisse über die Schlüsselfiguren in Christentum und Islam
2.2.1 Jesus und Muhammad - Mittler oder Verweis auf Gott?
Im Mehrreligionengebäude House of One in Berlin hat sich eine interessante Praxis entwickelt. Dort lesen wir als Vertreter des Judentums, des Islams und des Christentums regelmäßig wechselseitig in den Heiligen Schriften. Wir sprechen darüber, tauschen uns aus und machen immer wieder spannende Entdeckungen. Ausgangspunkt war das Interesse eines Muslims, mehr über den neutestamentlichen Jesus zu erfahren. Ich empfahl, mit dem Markusevangelium zu beginnen. Nach der Lektüre gab es erste Rückmeldungen, wie: »Interessant! Jesu Handeln wird erzählt!« In der Tat, dachte ich, das Jesusbild in den synoptischen Evangelien ist, ähnlich dem Koran, häufig in Erzählungen gekleidet. Bei der Lektüre von Markus 5, der Wundergeschichte von der Dämonenaustreibung und der Heilung des besessenen Geraseners (Markus 5,1-20), machte mein muslimischer Gesprächspartner eine überraschende Beobachtung: »Man sieht doch, Jesus verweist auf Gott!« »Er möchte nicht selbst als Gott angebetet werden!« Hintergrund war die Schlusspassage (V. 18-20), auf die ich eigentlich nie besonders geachtet hatte (und der Blick in die einschlägige Kommentarliteratur zeigte mir, dass ich damit nicht allein bin). Der von seiner Besessenheit Geheilte wollte bei Jesus bleiben; dieser schickte ihn aber zu seinen Angehörigen mit der Aufforderung: »berichte ihnen, was der Herr für dich getan und wie er sich über dich erbarmt hat!« (V. 19; kursiv: R.W.). Er aber ging »und begann, im...
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