Schweitzer Fachinformationen
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Hannes Prager wächst an einem ungewöhnlichen Ort auf: in einer verfallenden Villa mitten im Moor, mit einer selbstbewussten Mutter, einem kauzigen Vaterersatz und dem Mädchen Polina. Hannes ist ein stiller Junge, in seinem Kopf jedoch lässt er ganze Sinfonien entstehen, ohne je auch nur eine Note aufs Papier zu bringen. Darin erfasst er das ganze Wesen eines Menschen, seine Träume, sein Hoffen.
Als Hannes vierzehn ist, muss er die Moorvilla verlassen. Hannes verliert Polina, die seine beste Freundin ist und seine erste Liebe wird. Und er hört auf zu komponieren. Statt auf Klavieren zu spielen, trägt er nun in Hamburg Flügel und Klaviere in Häuser, Wohnungen und Konzertsäle. Doch niemals geht Hannes das strahlende Licht seiner Kindertage aus dem Kopf, das Mädchen Polina, die nach einem Streit aus seinem Leben verschwunden ist. Um sie zu finden, tut er das Einzige, was er wirklich kann: Er beginnt, wieder Musik zu machen.
In den Sommerferien vor ihrem Abitur reiste Fritzi Prager mithilfe mehrerer Regionalzüge, einer Lastwagenfahrerin und eines verliebten Paares, das sie über den Brenner mitnahm, in die toskanische Stadt Lucca. Dort bezog sie in einer günstigen Pension am Piazza San Michele ein Zimmer, das nach gebratenen Zwiebeln roch. Tagsüber lag sie im Schatten der alten Stadtmauer und las die wunderbar duftenden Bücher, die sie mitgebracht hatte. Abends aß sie Focaccia mit Rosmarin und scharfem Olivenöl und lief durch die Gassen, bis ihre kleinen Zehen in den Sandalen wund gescheuert waren. Fritzi genoss, dass sie allein war, sah den Menschen zu und träumte sich in die vielen Leben hinein, die sie würde führen können, wenn sie die leidige Schule endlich abgeschlossen hätte. Irgendwann wollte sie auch mit einer Familie an einem Tisch mit rot-weiß karierter Decke sitzen und den Straßenmusikern zuhören.
An einem Abend lernte sie einen älteren Mann aus Hamburg kennen. Er sprach sie an, gab ihr zwei Negronis aus, erzählte, er sei in seiner Firma eigentlich der Chef, und legte wie zum Beweis eine dicht bedruckte Visitenkarte neben ihr Glas, was Fritzi so unbeholfen fand, dass es sie rührte. Sie trank und hörte zu. Er sei beruf?lich in der Toskana. Natursteinhandel, sagte er, er trage außerdem die gleiche Uhr wie der Erstbesteiger des Mount Everest, er sprach über Politik, Carrara, Parmaschinken, über eingelagerte Minerale im Cipollino-Marmor und die daraus resultierenden wellenförmigen Strukturen, über seinen vertrottelten Vorgesetzten, über Fußball, hielt dann unvermittelt inne und fragte, ob sie, Fritzi Prager, schon einmal gehört habe, dass ihr Gesicht aussehe wie das der Dienstmagd mit Milchkrug auf dem gleichnamigen Gemälde Jan Vermeers.
Fritzi fand, er rede zu viel. Aber sie mochte seine sonnenbraunen Hände und die Tatsache, dass sie mit einem fremden Mann sprach an einem toskanischen Sommerabend, der so warm und satt war, als könnte man ihn in Scheiben schneiden - obwohl sie sich gewünscht hätte, der Mann wäre Italiener und ein wenig unberechenbarer. In einer Trattoria bestellte er für sie die gefüllten Zucchiniblüten, die sie schon den ganzen Urlaub kosten wollte, er sagte, er würde Fritzi natürlich einladen. Die Zucchiniblüten waren salzig, das Fett lief Fritzi beim Reinbeißen über das Kinn, und der Mann konnte sie dann doch nicht einladen, weil er kein Bargeld dabeihatte, sondern nur goldene Karten aus Plastik. Dafür gab er Fritzi im nächsten Lokal, das über ein Kartenlesegerät verfügte, drei Gläschen Piemonteser Haselnussgeist aus. Als er sagte, in seiner Hotelbar gebe es einen Tresen, der aus einem einzigen Block grünem Silikatmarmor geschnitten war, den müsse sie gesehen haben, tat er ihr leid. Sie ging mit. Sie fand es interessant, die Nacht mit einem Mann zu verbringen, der graue Haare hatte. Sie wusste nicht, dass das Medikament, das sie eine Woche vorher nach dem Genuss eines verdorbenen Tiramisus eingenommen hatte, die Verhütungspille unwirksam machte. Die Packungsbeilage war auf Italienisch und die Apothekerin römisch-katholisch.
Einige Wochen später stieg Fritzi Prager in der staubigen Augusthitze im Zentralbahnhof Lucca in einen Zug nach Norden. Eine halbe Stunde später übergab sie sich in den kleinen metallenen Klappmülleimer neben ihrem Sitz. Sie ahnte, dass das keine Reiseübelkeit war.
Der Frauenarzt daheim in Hannover Linden untersuchte Fritzi kurz nach ihrer Rückkehr. Er hatte ihr die Pille verschrieben, die dann versagt hatte, und nahm die Angelegenheit persönlich. Er wusste, dass Fritzi eine der besten Schülerinnen ihres Jahrgangs war, und das trotz ihres prügelnden Vaters und der noch mehr prügelnden Mutter. Fritzi wollte in München Jura studieren. Jura, weil ihr die klare Sprache in dem Gesetzbuch gefiel, das sie sich in einer Buchhandlung nahe der Leibniz Universität angesehen, nicht verstanden, aber sofort ins Herz geschlossen hatte. München, weil es zwar nicht Italien war, aber an guten Tagen fast, wie Fritzi gehört hatte.
Der Arzt bot ihr an, mit ihr über alle Optionen zu sprechen. Er benutzte das Wort Missgeschick. Fritzi legte eine Hand auf ihren Bauchnabel und eine auf die plastikblau behandschuhte Hand des Arztes und sagte leise: »Herr Doktor, ich an Ihrer Stelle würde jetzt sehr vorsichtig sein.«
Im folgenden April, als das Fruchtwasser den Teppich in ihrem Zimmer ruinierte und die Wehen in ihrem Unterleib wühlten, setzte Fritzi sich den für diesen Anlass gepackten Rucksack auf und ging zu Fuß ins Krankenhaus Siloah. Die Geburt dauerte eineinhalb Tage. Der Umstand, dass Fritzi schmal gebaut und wahrscheinlich noch im Wachstum war, machte irgendwann sogar der alten Hebamme Sorgen, die ohnehin müde wurde und hungrig obendrein. Wenn Fritzi den Kleinen nicht bald auf die Welt presse, müssten sie die Zange holen oder einen Kaiserschnitt vorbereiten. Fritzi wollte keinen Kaiserschnitt. Sie wollte so schnell wie möglich das Krankenhaus verlassen, damit sie ihre schriftliche Abiturprüfung ablegen könnte. Sie versuchte, an etwas Schönes zu denken, damit sie vor Schmerzen nicht ohnmächtig würde, was sie einem Kaiserschnitt vermutlich noch nähergebracht hätte. Sie dachte an den Geruch von Herbstlaub, an warme Pfannkuchen, aus denen Erdbeermarmelade tropft. Sie dachte an das Gefühl, das sie in der Lunge spürte, als sie zum ersten Mal die Alpen überquert und geglaubt hatte, von nun an würde es bis zum Meer nur noch bergab gehen. Und sie dachte an den teuf?lisch starken Espresso auf italienischen Autobahnraststätten, den sie mit zwei Löffeln Zucker verrührt wie schwarzen Sirup trank. Als der Blutverlust kritisch wurde und sie merkte, dass all die guten Gedanken nicht halfen, ein Kind auf die Welt zu bringen, und weil die Hebamme sie beständig anbrüllte, sie solle verdammt noch mal pressen, begann Fritzi Prager mit einer durch die vergangenen eineinhalb Tage Kampf etwas heiseren Stimme zu singen. Alle, die mit uns auf Kaperfahrt fahren. Ein Kinderlied von der Nordsee. Etwas Besseres fiel ihr vor lauter Schmerz nicht ein.
Hannes Prager kam bei der neunten Wiederholung des Refrains. Er war ein dicker Säugling, der aussah wie ein Greis mit blonden Haaren oder, je nach Blickwinkel, wie eine alte rote Kartoffel. Ganz still rutschte er der Hebamme in die Finger. Sie hielt ihn ans Fenster und hieb ihm zwei Mal klatschend auf den Hintern, bevor Fritzi sich vor Schmerz stöhnend aufbäumte und ihr, so sanft es ging, den Jungen entwand.
Eine Liebe durchrollte Fritzi, schön und erschütternd, und sie begriff, dass dieser stille Gnom, der sich auf ihrer Brust zu einer kleinen Kugel zusammenigelte, das wunderbarste Missgeschick war, das ihr hatte passieren können.
Später, als Fritzi mit ihrem Krankenhausbett und dem kleinen Hannes auf der Brust in ein Mehrbettzimmer gerollt wurde, lag dort bereits eine Frau, nicht viel älter als sie, kreidebleich und mit einem winzigen Mädchen im Arm.
»Hey«, sagte die Frau.
»Hey.«
»Mein Gott, ist das schön, oder?«
Die junge Frau hieß Günes, sie kam vom anderen Ende der Stadt, plapperte pausenlos, lachte ein paarmal laut, sprach leise auf Türkisch mit ihrer Tochter und stand nach einer halben Stunde auf, als hätte sie nicht gerade ein Kind geboren, ging an Fritzis Bett und gab ihr eine in der Mitte leicht eingedellte, mit Fetakäse gefüllte Blätterteigtasche. Günes sagte, diese Blätterteigtasche würde eine Muttermilch machen, dass der Kleine bis morgen einen halben Kopf gewachsen wäre. Sie sah genau zu, bis Fritzi die gesamte Blätterteigtasche gegessen hatte, und strahlte sie dann an. Beide Frauen bekamen keinen Besuch an diesem Tag und am nächsten ebenfalls nicht. Als mitten in der Nacht ein Aprilhagel gegen die Fenster prasselte und Fritzi wach lag und besorgt über die Zukunft und überwältigt von der Gegenwart ihrem schlafenden Sohn zusah, sagte Günes, ohne zu ihr herüberzuschauen: »Ich kann gar nicht glauben, dass so ein Engel zur Hälf?te von so einer Gurke abstammt.«
Fritzi schwieg und dachte zum ersten Mal seit Langem an den Marmorhändler.
Günes sagte, sie würde ihre Tochter Polina nennen, das sei ein Name aus ihrem liebsten Dostojewski und gerade gut genug für das Glück auf ihrem Arm. Und sie sagte, sie schwöre auf ihr Blut, dass der Vater dieses Kind niemals halten werde.
Kurz darauf entriegelte sie die Sperrhebel des Krankenhausbettes und rollte ihr Bett nah an Fritzis heran, sodass die beiden jungen Mütter dalagen wie in einem Ehebett, was eine in das Zimmer eilende Krankenpflegerin verhindern wollte, aber Günes nur mit dem Satz quittierte: »Sie können uns ja rausschmeißen.« Dann legten sie ihre Kinder nebeneinander und schauten dem neuen Leben zu. Ein flaumig dunkler Säugling, ein runzeliger roter, die Augen meist geschlossen. Ab und zu bewegten sie sich ein wenig und drohten in die Ritze zwischen den Matratzen zu rollen, sonst taten sie nichts, aber es war Fritzi und Günes genug, dass sie atmeten. Nach einer Weile spürten die Kinder einander und schmiegten sich zusammen, als würden sie die Wärme des anderen in sich...
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