Schweitzer Fachinformationen
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Der Große Brandbrief war im Mittelalter ein Erlass, der die Bestrafung von Dieben und Feuerlegern regelte. Später wandelte sich die Bedeutung, Behörden bestätigten mit Brandbriefen Bedürftigen, dass sie ihr Hab und Gut durch Feuer verloren hatten und betteln durften. Ein Brandbrief konnte aber auch eine Drohung sein, jemandem das Haus anzuzünden. Heute werde darunter meist ein Appell verstanden, erläutert Wikipedia. Genauer: ein Notruf, »der Missstände aufzeigt oder anprangert und häufig auch Abhilfe einfordert«.
Im internen Rundschreiben, das Bahnchef Richard Lutz am 7. September 2018 per Intranet an die Führungskräfte seines Unternehmens schickt, taucht das Wort Brandbrief zwar nirgendwo auf. Doch die Überschrift hätte gut gepasst. Denn ein Notruf, der Missstände aufzeigt und Abhilfe einfordert, ist der vierseitige Brief zweifellos, zumal er rasch an Medien gelangt und eine weitere öffentliche Debatte über die Dauerkrise und Zukunft des Unternehmens auslöst.
Die Deutsche Bahn AG ist eines der wichtigsten Transportunternehmen der Welt und der größte Staatskonzern Deutschlands. Die Bilanz 2018 weist 44 Milliarden Euro Umsatz und 542 Millionen Euro Jahresüberschuss aus. 319 000 Mitarbeiter in mehr als 140 Ländern rund um den Globus haben diese Erträge erwirtschaftet, im Personen- und Güterverkehr und in der Logistik. Allein in Deutschland sind täglich rund 7,4 Millionen Menschen in Bahnen und Bussen der DB unterwegs. 43 000 Züge, zwei Drittel davon mit DB-Logo, befahren Tag für Tag das rund 33 300 Kilometer lange staatliche Schienennetz, das die Konzerntochter DB Netz AG in möglichst gutem Betriebszustand halten soll, ebenso wie 5700 Bahnhöfe.1 Wenn solch ein Multi-Unternehmen Brandbriefe verschickt und in der Not eine strenge Ausgabenkontrolle verhängt, schrillen zu Recht die Alarmglocken.
Bei der Bundesregierung kommt die Botschaft aus der nahen Bahnzentrale allerdings gar nicht gut an. Und das nicht nur wegen der öffentlichen Aufregung. Im Kanzleramt von Angela Merkel (CDU), bei Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer (CSU) und dem Koalitionspartner SPD wird der Hilferuf nämlich als kaum verhohlene Drohung empfunden. Eine Drohung, dass das wichtigste bundeseigene Unternehmen vollends an den Prellbock fährt, wenn es nicht mehr Unterstützung von seinem Eigentümer erhält. Die Verantwortlichen in der Politik wissen: Der Schuldenberg der DB AG könnte ohne Gegensteuern noch höher wachsen, von bereits 25 auf 30 Milliarden Euro und mehr. Also bald so viel, wie Bundes- und Reichsbahn aufgehäuft haben - allerdings in mehr als vier Jahrzehnten und unter deutlich schlechteren Bedingungen.
Tatsächlich liest sich das Rundschreiben stellenweise wie ein Offenbarungseid. Die »schwierige Situation« der DB habe sich in den letzten Monaten »nicht verbessert, sondern verschlechtert«, räumt Lutz gleich zu Beginn ein. Neben dem Bahnchef hat auch sein Vize, Infrastruktur-Vorstand Ronald Pofalla, den Alarmruf unterzeichnet. Ebenso die weiteren DB-Konzernvorstände Berthold Huber (Personenverkehr), Alexander Doll (Finanzen, Güterverkehr, Logistik), Sabina Jeschke (Technik und Digitalisierung) und Martin Seiler (Personal) - bis auf Lutz und Huber alle noch nicht lange im Amt. Auch CDU-Mann Pofalla, vormals Chef des Bundeskanzleramts, hat seinen Vorgänger Volker Kefer erst 2017 abgelöst.
Die Probleme, die das Sextett auf vier Seiten beschreibt, sind Bahnkunden wie Experten sattsam bekannt. Tenor: Es mangelt an Pünktlichkeit, Qualität und Wirtschaftlichkeit. »Wir wissen alle, dass wir mit unserer Leistung nicht zufrieden sein können«, bilanziert die DB-Spitze. Eigene Probleme wie die Verfügbarkeit von Fahrzeugen habe man »schlicht nicht im Griff«. Die Trendwende bei den Verspätungen sei nicht gelungen. Im Gegenteil, die Pünktlichkeitsquote sei bis August auf nur noch 76 Prozent gesunken - und damit noch schlechter als 2015, als der Konzern einen Milliardenverlust auswies und das Sanierungsprogramm »Zukunft Bahn« von Lutz' Vorgänger Rüdiger Grube gestartet wurde.
Grube warf Anfang 2017 entnervt und verärgert hin. Wie wenig dessen Programm gebracht hat, beweist der Brandbrief ebenfalls. So sehe die finanzielle Performance »nicht besser aus«, konstatiert Lutz. Das operative Ergebnis liege »weit weg von unserer Zielsetzung«. Auch hier habe man »keine Trendwende geschafft«. Zum Zeitpunkt des Alarmschreibens hat der Bahnchef bereits zwei Mal die Ertragsprognose nach unten korrigieren müssen. Eine dritte Gewinnwarnung, warnt Lutz, »würde unsere finanzielle Lage weiter destabilisieren und Vertrauen und Goodwill, die wir bei Eigentümer und Öffentlichkeit noch haben, zusätzlich beschädigen«.
So schonungslose Analysen kommen selten direkt aus der Spitze eines Großkonzerns ans Licht der Öffentlichkeit. Die offenen Worte erhalten Anerkennung, sind aber zweischneidig. Denn die meisten der beschriebenen Defizite bestehen nicht erst seit gestern. Und gerade Lutz kennt sie bestens: Als langjähriger Finanzchef und zuvor Controller arbeitet der Pfälzer seit 1994 beim Staatskonzern.
Nach dem Brandbrief spitzt sich die Lage bei der Bahn zu. Im November 2018 kommen die 20 Aufsichtsräte des Konzerns zu einem zweitägigen Krisentreffen im DB-Tower zusammen, um unter Vorsitz von Michael Odenwald über Auswege zu beraten. Der frühere Staatssekretär im Verkehrsministerium hat wenige Monate zuvor die Leitung des Gremiums übernommen, nachdem sein Vorgänger Utz-Hellmuth Felcht einige Male unglücklich agiert und das Vertrauen der Regierung verloren hatte.
Gleich zum Auftakt bekommt das Gremium von Lutz und seinen Kollegen wenig Erfreuliches zu hören. Steigende Verschuldung, riesiger Finanzbedarf, bröckelnde Erträge, milliardenschwere Gewinnkorrekturen, häufige Qualitätsmängel und Verspätungen, hohe Verluste im Güterverkehr auf der Schiene und insgesamt trübe Aussichten auf mittlere Sicht - die Zwischenbilanz des neuen Bahnchefs fällt ziemlich verheerend aus und hätte in anderen Unternehmen den sofortigen Rauswurf bedeuten können. Zum Glück für die neue DB-Spitze kann das Debakel aber zum Teil noch dem glücklosen Vorgänger Grube angekreidet werden. Dessen von McKinsey-Beratern geschriebenes Rotstiftkonzept »Zukunft Bahn« entpuppt sich vor allem im Güterverkehr als Rohrkrepierer und wird von der Arbeitnehmerbank, die im Aufsichtsrat die Hälfte der Stimmen besitzt, über Jahre blockiert.
Nun soll ein neues Konzept helfen, das die DB-Spitze optimistisch »Unsere Agenda für eine bessere Bahn« benannt hat. Auf rund 200 bunten Powerpoint-Seiten bekommen die Kontrolleure wieder viele Ideen und Strategien für mehr Qualität, Kunden und Erfolg präsentiert. Einige Aufsichtsräte reagieren wenig begeistert: »Angesichts der bisher unklaren Strategie und problematischen Geschäftsentwicklung behalten wir uns die Zustimmung vor«, betont ein Arbeitnehmervertreter. Und fügt hinzu: Besonders im Fern- und Güterverkehr auf der Schiene gebe es massive Qualitätsdefizite und bisher wenig überzeugende Konzepte. Seit Jahren werde von wechselnden Managern viel versprochen, aber unzureichend geliefert.
So wurde bei der dramatisch heruntergewirtschafteten Güterbahn DB Cargo in den letzten 20 Jahren schon acht Mal der Produktionsvorstand ausgetauscht, insgesamt gab es 30 Wechsel im Vorstand. Trotzdem fährt die größte Frachtbahn Europas auch 2018 dreistellige Millionenverluste ein. »Es fehlen Züge und Lokführer, die Abläufe funktionieren nicht, Ansprechpartner vor Ort wurden abgeschafft, und wir haben deshalb massiv Kunden verärgert und verloren«, kritisiert ein anderer Aufsichtsrat.
In der Bundesregierung sieht man die Lage des Staatskonzerns mit Verdruss. Kanzlerin Merkel will dort keine Unruhe. Schon die Demonstrationen von DB-Beschäftigten gegen »Zukunft Bahn« kamen vor den letzten Bundestagswahlen recht ungelegen und trugen mit zum plötzlichen Abgang von Ex-Bahnchef Grube bei. Die neue DB-Spitze muss nun zeigen, was sie kann. Infrastruktur-Vorstand Pofalla will weitere Steuermilliarden für die klamme Bahn organisieren - auch für das mit Abstand größte Problemprojekt Stuttgart 21. Pikant: Der CDU-Mann Pofalla hat noch vor Jahren selbst als rechte Hand Merkels eifrig aus dem Kanzleramt die Strippen gezogen für die hoch umstrittene Weiterführung von S 21, wie entschwärzte Akten des Kanzleramts beweisen. Nun hat der Aktienkonzern den Schaden dieser heiklen politischen Einflussnahme. Denn für die DB ist S 21 krass unwirtschaftlich, wie Lutz inzwischen einräumen musste.
Kein Wunder also, dass der Staatskonzern so großen Finanzbedarf hat. Rund fünf Milliarden Euro zusätzlich will die DB-Spitze bis 2022 vom Bund haben, offiziell nur für mehr Pünktlichkeit und Qualität - und um die 200 bestellten Züge bezahlen zu können, die bis 2023 geliefert werden und mehr als sieben Milliarden Euro kosten sollen. »Eine bessere Bahn gibt es nicht zum Nulltarif«, betont...
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