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Unwiederbringlich
Nele
Das Gefühl, etwas Verbotenes zu tun, ließ ihren Bauch rumoren. Mit zusammengekniffenen Augen starrte sie durch die beschlagene Windschutzscheibe in die Dunkelheit. Der Regen, der gegen die Scheibe klatschte, und die hin- und herschwingenden Scheibenwischer erschwerten die Sicht auf die Straße.
»Im Schutze der Dunkelheit, von wegen.« Sie schüttelte den Kopf über ihr idiotisches Vorhaben. Auf dem Büttger Friedhof würde es am frühen Abend dieses sechsten Novembers absolut finster sein. Dunkel, nass und kalt - der Besuch am Grab versprach eine Tortur zu werden, für sie selbst, für ihre Klamotten und vor allem für die Schuhe.
Aber immerhin konnte Nele ziemlich sicher sein, ungesehen die Blumen ablegen zu können. Bei dem Wetter würde wohl kaum irgendwer auf die Idee kommen, Grabpflege zu betreiben. Und genau deshalb war jetzt der richtige Zeitpunkt.
Sie schämte sich, aber vor allem vor sich selbst. Welches Recht hatte sie, herzukommen und jemanden zu betrauern, dem sie vor neunzehn Jahren nicht nur den Rücken gekehrt, sondern den sie auch noch aus dem Gedächtnis gestrichen hatte? Für viele Jahre.
Doch den eigenen Lebenslauf so zurechtzubiegen, dass Teile der Vergangenheit nicht mehr damit verzahnt waren, konnte nur auf begrenzte Zeit funktionieren. Irgendwann trudelten die unterdrückten Elemente unweigerlich an die Oberfläche, um klarzustellen: Du bist das, was du getan, gefühlt, gedacht und erlebt hast. Vielleicht mehr, aber auf keinen Fall weniger.
Für Nele war die Nachricht von seinem Tod im Oktober letzten Jahres der Auslöser gewesen. Kurz vor Weihnachten hatte sie per Zufall davon erfahren. Nach dem Schock erinnerte sie sich plötzlich wieder an alles. Wie im Zeitraffer zog eine Flut von Bildern an ihrem inneren Auge vorbei. Mit affenartiger Geschwindigkeit wurde die Verbindung zur Vergangenheit wiederhergestellt. Klick, eingerastet.
Und der Zwang, ihm nahe zu sein, ließ sich nicht mehr unterdrücken. Daher die heimlichen Besuche am Grab.
Sie parkte den Wagen auf dem Parkplatz vor dem Altenheim am Nebeneingang des Friedhofs. Nachdem sie nach den in Papier eingeschlagenen Blumen auf dem Beifahrersitz gegriffen hatte, holte sie tief Luft und sprang aus dem Auto.
Regen und Kälte schlugen ihr entgegen. Der Friedhof verschluckte sie in einem Meer aus schwarzen Schatten. Ihr Magen ballte sich nervös zusammen, während sie sich an den richtigen Weg durch die Grabreihen zu erinnern versuchte.
»Mistwetter«, schimpfte sie. Der Wind riss an ihrem Haar, aus dem bald das Wasser tropfte. So wie an einem anderen, weit zurückliegenden sechsten November, in einem anderen, unschuldigeren Leben.
Die Erinnerung stieg dermaßen machtvoll in ihr auf, dass ihr schwindelig wurde und sie auf dem schlammigen Boden fast ausgerutscht wäre.
6. 11. 1988 - Sie war durch den Regen mit Mamas Auto die kurze Strecke vom Elternhaus bis zu dem in Grau und Grün gestrichenen Mehrparteienhaus direkt gegenüber dem Kaarster Bahnhof gefahren. Das sperrige Geschenk hatte sie zunächst im Kofferraum gelassen. Fest in die gefütterte Winterjacke gewickelt und dennoch fröstelnd, hatte sie an der Haustür geklingelt, bis endlich von drinnen der elektrische Türöffner betätigt wurde. Hastig stieß sie die Haustür auf und lief die paar Treppenstufen hinunter ins Souterrain.
Er lehnte im Türrahmen und lächelte sein einzigartiges schiefes Lächeln, das bis in die grauen Augen strahlte. Kopflos überließ sie sich seiner festen Umarmung, schmiegte sich an ihn, nahm seine Wärme in sich auf, genoss das wohlige Ziehen im Unterbauch und streichelte die weiche Haut an seinen Armen und im Nacken. Sie versank in ihrer Verliebtheit, und sie war sich vollkommen sicher, dass ihre Gefühle mit der gleichen Heftigkeit erwidert wurden.
»Alles Liebe zum Geburtstag«, flüsterte sie in sein Ohr.
So lange her, dachte sie traurig, während sie weiter über den Weg zwischen den Gräbern und den zu Zylindern getrimmten Lebensbäumen hastete, und die Chance, ihm je wieder in die Augen zu sehen, sein Herz klopfen zu hören, Haut an Haut, war vertan. Für immer. Denn vor etwas mehr als einem Jahr war er gestorben, ganz plötzlich.
Damals, im Juni '89, war es ihr lebensnotwendig erschienen, den Kontakt abzubrechen. In Sicherheit hatte sie sich bringen wollen. Heute hielt sie die Entscheidung für unverzeihlich. Unwiederbringlich hatte sie ihn verloren. Konnte man irgendetwas mehr bedauern als das? Und auch deshalb war sie hier: um den Fehler von damals wiedergutzumachen, obwohl sie doch wusste, dass es unmöglich war.
»Ich vermisse dich. Du fehlst mir.« Wie gern hätte sie ihre Worte an den energiegeladenen Mann, an den sie sich erinnerte, gerichtet anstatt an einen Grabstein über einem verrottenden Körper. Trotzdem würde sie es tun; es war ein hilfloser Versuch, Abbitte zu leisten.
Verwirrt hielt sie inne. War sie an der Grabreihe vorbeigelaufen? Nein, sie war richtig, direkt links ragte der kitschige weiße Marmorengel auf, an dem sie sich beim letzten Mal orientiert hatte. Sie brauchte nur noch auf den nächsten Pfad rechts abzubiegen.
In dem Moment hörte sie Stimmen, die durch Regen und Wind zu ihr herüberwehten, eine männliche und eine weibliche. Etwa aus der Richtung, die sie anstrebte.
Sofort fühlte sie sich ertappt. Jetzt seiner Mutter, seinem Bruder oder gar seiner Exfrau zu begegnen, wäre wirklich katastrophal! Unwillkürlich duckte sie sich hinter einen Rhododendronbusch, musste ein hysterisches Kichern unterdrücken und lauschte den Stimmen. Sie war sich sicher, nicht bemerkt worden zu sein. Noch nicht. Aber wegschleichen ging nicht. Also verharrte sie in ihrer gebückten Position und spähte hinter dem Busch hervor. Es war so dunkel, dass sie wirklich nur die Umrisse der Leute erkennen konnte. Jetzt blitzte ein schwaches Licht auf. Eine der Personen benutzte ein Handy als Taschenlampe.
»Hab ich es dir nicht gesagt? Das Arschloch ist tot«, hörte sie die weibliche Stimme sagen. »Erster Oktober, letztes Jahr.«
Hinter ihrem Rhododendronbusch stöhnte Nele auf. Der erste Oktober war Matthias Hellmanns Todestag. Die Leute da standen tatsächlich vor seinem Grab. Familienangehörige waren das aber bestimmt nicht, denn die brauchten sich nicht erst anhand einer Grabinschrift des Datums zu versichern.
»Tatsächlich. Du und der Dicke, ihr hattet recht!« Das war der Mann. Er klang verärgert. »Da war er längst tot und begraben. Aber von wem stammt dann der Brief, wenn Hellmann es nicht gewesen sein kann?«
»Woher soll ich das wissen?« Die Frau sprach mit deutlicherer Betonung und war daher viel besser zu verstehen als der Mann. »Vielleicht hat er nicht dichtgehalten, wie er behauptet hat. Wer weiß? Oder irgendwer hat die Beweise gefunden und verwendet sie jetzt. Keine Ahnung! Aber wenn wir nicht ewig weiterzahlen wollen, müssen wir das rausfinden und dem Ganzen einen Riegel vorschieben.«
Der Mann brummelte etwas Unverständliches, dann kam Bewegung in die Szene. Die Gestalten entfernten sich vom Grab, in Richtung Hinterausgang, zu Hallenbad und Radsporthalle hin. Weg von ihr, Gott sei Dank! Sie wartete, bis die beiden ganz von der Dunkelheit verschluckt worden waren, und richtete sich dann auf.
Erst als alle Anspannung von ihr gewichen war, merkte sie, dass sie am ganzen Leib zitterte. Jetzt wollte sie es nur noch hinter sich bringen. Sie tappte über den inzwischen sehr rutschigen Weg die paar Schritte hin zum Grab.
»Matthias Hellmann 06. 11. 1967 - 01. 10. 2007«. Sie konnte die eingemeißelten Zeichen in dem Naturstein nur erahnen. Noch nicht mal vierzig war er geworden. Gefunden hatte man ihn erst zwei Tage nach seinem Tod, am Tag der Deutschen Einheit, am Nordufer des Kaarster Sees, nur wenige Kilometer entfernt von hier. In der Presse hieß es, er sei an Herzversagen gestorben aufgrund der Überdosis irgendeiner harten Droge. Es war ihr ein kleiner Trost, dass das Letzte, was er in dieser Welt gesehen hatte, der See gewesen war. Er hatte ihn gemocht, vor allem in der kalten Jahreszeit. »Hier krieg ich immer einen klaren Kopf«, hatte er ihr bei einem Spaziergang verraten.
Sie wurde so traurig, dass es kaum auszuhalten war. Unwiederbringlich. Schnell bückte sie sich und legte die inzwischen ziemlich zerdrückten Blumen zu den anderen.
»Alles Liebe zum Geburtstag«, flüsterte sie, während der Schmerz ihr fast die Luft nahm. Sie straffte sich. Dann ging sie.
Kaum saß Nele im Auto, vertrieb ihr der Blick auf die Uhr im Armaturenbrett alle Muße zum Trauern. Halb acht schon! Zu Hause war sie längst überfällig. Die vierzehnjährige Greta und ihre zwei Jahre jüngere Schwester Anne wunderten sich garantiert, wo sie blieb. Die beiden Typen auf dem Friedhof hatten Neles Zeitmanagement durcheinandergebracht. Schon allein darum waren sie ihr von Grund auf unsympathisch. Und dann dieser sonderbare Auftritt an Matthias' Grab!
Energisch schob sie den Gedanken beiseite und konzentrierte sich auf das Essen, das sie gleich zubereiten würde: Penne mit zweierlei Soße, geriebenem Parmesan und Salat. Das würde Marc schmecken.
Der Gedanke an Marc führte sie unwillkürlich zur Kleiderfrage. Was sollte sie anziehen? Würde sie es noch schaffen, zu duschen, die Haare zu waschen und zu föhnen und sich dann auch noch zu schminken? Marc hatte sich für halb neun angesagt. Das wurde knapp. Zackig fuhr sie vor ihrem Häuschen im Kaarster Ortsteil Vorst vor.
Chris
Es war halb acht an einem verregneten Donnerstagabend im November. Hier saß er . allein....
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