Schweitzer Fachinformationen
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Juni 2019
Es war früh am Morgen und ziemlich kühl. Noch versteckte sich die Sonne hinter dem Horizont, aber am dämmrigen, durchscheinenden Himmel stand keine Wolke. Laut Wettervorhersage würde es ein schöner, warmer Frühsommertag werden.
Während Anne den Motor des alten Wohnmobils anließ und ihr das wohlbekannte Scheppern des Dieselmotors ein sehnsüchtiges Ziehen im Bauch verursachte, lächelte sie ihrer vierundzwanzigjährigen Tochter Alina zu, die fröstelnd neben der heruntergelassenen Scheibe stand. In Gedanken vergewisserte sie sich noch einmal, dass sie nichts vergessen hatte. In der Handtasche auf dem Beifahrersitz befanden sich ihr Handy, das Portemonnaie mit den Ausweispapieren, der Girokarte, Euros und jeder Menge dänischen Kronen. In einem Extra-Umschlag steckte das Fährticket. In den Getränkehalter hatte sie eine Wasserflasche geklemmt. Die mit Proviant gefüllte Kühltasche stand im Fußraum.
Es konnte losgehen.
Plötzlich wurde Anne nervös, denn so souverän, wie sie vorgab, fühlte sie sich bei weitem nicht.
»Hast du das Navi schon eingestellt?« Alina schob sich mit einer für sie typischen Geste das lange blonde Haar hinter die Ohren und beugte sich vor.
»Klar.« Anne wies auf das in die Jahre gekommene Gerät, das mittels eines Saugnapfs an der Windschutzscheibe befestigt war. »Ich melde mich, sobald ich auf Rügen angekommen bin. Und egal, wie lange ich brauchen werde, verhungern kann ich nicht. Die belegten Brote und das Obst reichen vermutlich für Wochen.«
Alina lachte. »Sehr gut. Früher hatten wir auch immer viel zu viel mit, weißt du noch? Wenn wir am Ziel waren, haben wir erst mal haufenweise zerdrückte und durchweichte Butterbrote verputzt, damit wir die nicht wegschmeißen mussten.« Dann zögerte sie. »Mama .?« Sie streichelte Anne über den nackten Arm. Dabei hatten sie sich doch schon vorhin mit einer festen Umarmung voneinander verabschiedet.
»Ja?«
»Fahr vorsichtig. Ich hab dich lieb.«
Anne schluckte gerührt. »Ich dich auch, meine Kleine.«
Schon nach zwei Stunden Fahrt über die inzwischen stark frequentierte Autobahn wurden Anne die Arme steif, ihre Finger schmerzten vor Anstrengung. Sonst war meist Peter gefahren, wenn sie mit dem Wohnmobil unterwegs waren. Nur in kurzen Intervallen hatte er sie hinters Steuer gelassen, und das auch bloß, bevor ihn die Erschöpfung übermannte.
Anne war es recht gewesen. Sie hatte liebend gern die vorbeiziehende Landschaft betrachtet und ihrem Mann ab und an den Thermobecher mit heißem Kaffee oder etwas zu essen gereicht.
Heute nahm sie vom Umland fast nichts wahr, so sehr musste sie sich auf den Verkehr konzentrieren. Sie fühlte sich als Fahrerin unsicher wie nie zuvor. Was, wenn sie eine Panne hatte, fragte sie sich, oder einen Unfall baute? Kein Peter wäre da, der aus dem Effeff wusste, was zu tun war. Der notfalls einen Reifen wechseln oder Kleinigkeiten reparieren konnte. Bei dem sie sich sicher und geborgen fühlte.
Sie stöhnte auf, umklammerte das Lenkrad noch fester und warf einen Blick in den Rückspiegel.
Neben den Pendlern waren heute zahllose Lkws unterwegs, außerdem etliche Reisemobile und Gespanne. Glänzende Karossen reihten sich schier endlos aneinander.
Als die Sonne grell ins Fahrerhaus schien, klappte Anne die Blende herunter und öffnete das Fenster einen Spaltbreit. Lärm und Zugluft rauschten herein. Immer noch war ihr heiß. Aus der Wasserflasche, die inzwischen griffbereit auf dem Beifahrersitz lag, trank sie durstig. Infolgedessen wurde irgendwann der Druck auf ihre Blase übermächtig. Sie setzte den Blinker, um auf den nächsten Rastplatz abzubiegen.
Dass sie einen Fehler begangen hatte, begriff sie erst, als es schon zu spät war und sie über die Ausfahrt rollte, denn sowohl die Tankstelle, an der sie vorbeifuhr, als auch der Parkplatz, den sie anvisierte, waren rappelvoll. Vor allem Lastwagen und Reisebusse verstopften die Parkbuchten.
Sofort hatte sie Peters Stimme im Ohr: »Wenn wir nicht tanken müssen, nehmen wir einen der kleinen Rastplätze, einen mit Klohäuschen und sonst nichts. Schlange stehen kenne ich noch aus der DDR. Darauf kann ich verzichten.«
Anne beugte sich vor, fuhr im Schritttempo an den dicht an dicht stehenden Fahrzeugen vorbei und war erleichtert, als sie tatsächlich noch einen Parkplatz zwischen zwei Sattelschleppern ergatterte. Sie atmete auf, stellte den Motor aus, griff nach ihrer Handtasche und kletterte aus dem Fahrerhaus. Erst nachdem sie sich vergewissert hatte, dass alle Türen verriegelt waren - eine Zentralverriegelung besaß das alte Gefährt nicht -, machte sie sich auf den Weg zum Rasthaus. Um sie herum waren Motorengeräusche, Stimmengewirr, Türenschlagen und Hundegebell aufgebrandet; das Morgenlicht streichelte ihre Wangen.
Vor der Damentoilette im Untergeschoss hatte sich eine lange Schlange gebildet, die nur langsam vorrückte. Anne war heilfroh, als endlich eine Kabine für sie frei wurde. Anschließend kaufte sie sich oben im überfüllten Café mit leisem Trotz und schlechtem Gewissen einen Latte Macchiato to go. Peter hätte das nie gutgeheißen. »Viel zu teuer, das Zeug!«
Der Latte Macchiato war heiß und stark, der Milchschaum perfekt. Er war sein Geld wert, fand Anne. Sie schlenderte durch die Sonne zum Parkplatz zurück und genoss den Windstoß, der durch ihr T-Shirt fuhr.
Gerade hatte sie die schwere Fahrertür geöffnet, um sich auf den Sitz zu schwingen, als eine männliche Stimme sie zurückhielt.
»Entschuldigen Sie .?«
Sie drehte sich um. Die braunen Augen des etwa dreißigjährigen Mannes, der mit einer großen Umhängetasche über der Schulter dastand und ein selbst gemaltes Schild mit der Aufschrift »Hamburg« in Händen hielt, guckten treuherzig. »Entschuldigen Sie? Nehmen Sie mich ein Stück mit? Sie fahren doch Richtung Norden, oder?« Der Mann entblößte beim Sprechen eine Zahnlücke.
Anne schüttelte den Kopf. »Ich nehme keine Anhalter mit, tut mir leid.« Noch so ein Prinzip, das von Peter stammte. Aber in dem Fall eines, das sinnvoll war, sofern man nicht überfallen und ausgeraubt werden wollte.
»Aber Sie sitzen doch in Ihrem Camper ganz allein, oder?« Sein Tonfall wurde schmeichelnder. »Kommen Sie, ich tu Ihnen schon nichts.«
»Trotzdem .« Anne wollte an dem Mann vorbei, um in den Wagen zu steigen. Er machte einen Schritt zur Seite und ließ sie durch. Sie atmete auf, stockte jedoch, als sie sein flehendes »Bitte« in ihrem Rücken vernahm.
»Bitte, ich will zu meiner Frau und meinem Sohn nach Hamburg.«
Sie drehte sich zu ihm um. »Und warum fahren Sie nicht mit dem Zug?«
»Keine Kohle. Und von den Brummifahrern will mich keiner mitnehmen.«
Nun betrachtete sie ihn genauer: seine kurzen dunkelblonden Haare, die abgewetzte Jeans, das Kapuzenshirt, die dilettantisch gestochenen Tätowierungen, die unter den hochgeschobenen Ärmeln hervorlugten und bis auf die Handrücken reichten - alles nicht gerade vertrauenerweckend.
»Aber ich als allein reisende Frau soll Sie einsteigen lassen? Ganz ohne Angst?«
»Angst ist ein schlechter Begleiter.« Er grinste entwaffnend und sah dabei aus wie ein Lausbub. »Ich habe gesagt, dass ich Ihnen nichts tue. Ich bin übrigens der Maik. Und ich halte während der Fahrt die Klappe, versprochen. Ich will echt nur nach Hamburg zu meiner Tanja und meinem Jungen.«
Vielleicht war es die erneute Erwähnung seiner Familie, vielleicht die Sehnsucht in seinen Worten, die sie letzten Endes weich werden ließen. Eventuell hatte es aber auch damit zu tun, dass sie sich unvermittelt an ihre eigene Jugend erinnert fühlte. Mit ihrer Freundin Steffi war sie als knapp Zwanzigjährige auch einmal getrampt. Damals wollten sie zu einem Konzert ihrer Lieblingsband nach Frankfurt. An einem Rastplatz wie diesem hatten sie lange im prasselnden Regen gestanden, bis sich jemand ihrer erbarmt und sie weiter mitgenommen hatte. Das nette Ehepaar war etwa in dem Alter gewesen wie sie jetzt. Noch heute dachte sie voller Dankbarkeit an die beiden zurück.
Was es auch war, jedenfalls saß dieser Maik nun auf ihrem Beifahrersitz, und Anne beschlich ein mulmiges Gefühl.
Du bist einfach zu gut für diese Welt, rügte Peter sie in ihrem Kopf.
Verstohlen musterte sie den jungen Mann. Kurz nachdem sie vom Rastplatz losgefahren waren, war er fest eingeschlafen. Sein Kopf lehnte an der Scheibe und wackelte sacht mit jeder Unebenheit im Asphalt. Blass war er, stellte sie fest, die fahle Haut und die dunklen Ringe unter den Augen zeugten von einer ungesunden Lebensführung. Nachdenklich ruhte ihr Blick auf seinen abgekauten Fingernägeln. Wie hatte sie sich bloß darauf einlassen können, diese windige Gestalt mitzunehmen? Es überlief sie heiß und kalt, als sie sich ausmalte, was ihr alles passieren konnte.
Mühsam kämpfte sie die aufkommende Panik nieder. Die Uhr im Armaturenbrett sagte ihr, dass sie noch...
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