Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Das Problem mit der Normalität
Ich bin eine ganz normale Frau. Das sage ich mir oft. Ich bin eine ganz normale Frau von Ende vierzig mit zwei erwachsenen Kindern. Die ideale, allernormalste Kombination. Ich bin geschieden, auch das ist heutzutage normal, und ich bin berufstätig. Natürlich. Es ist kein aufregender Job, den ich ausübe, aber einer, der mir genug Geld zum Leben einbringt. Ich arbeite in der Kaarster Stadtverwaltung. So weit, so gut.
Denn an dieser Stelle endet die Normalität. Sosehr ich mir einrede, wie alle anderen zu sein, so wenig bin ich es. In meinem Inneren wohnen Verlust und ohnmächtiger Schmerz - seit meinem vierzehnten Lebensjahr, seit 1980, als zunächst meine beste Freundin von einem Serienmörder getötet und wenige Monate später mein einziger Bruder auf brutalste Weise von einem seiner besten Freunde umgebracht wurde.
Kein Gespräch und keine Therapie konnten mich heilen, und so schleppe ich die Traumata und Fragen von damals noch heute mit mir herum, unentwegt auf der Suche nach Antworten und dem Begreifen.
Und obwohl es auch in meinem Leben den Alltag mit den üblichen Sorgen und Problemchen wie auch mit Freuden und Spaß gibt, überschatten die Tragödien von damals die Normalität von heute. Jeden Tag. Überall.
* * *
Worte eines Alltagsphilosophen:
Es sind die vielen Rätsel, die das Leben zu dem machen, was es ist: unvorhersehbar. Wir alle verbergen Dinge, die nicht an die Öffentlichkeit dringen sollen, in uns und vor anderen. Solcherart Geheimnisse bestimmen nicht nur unsere Vergangenheit und Gegenwart, sondern auch unsere Zukunft. Denn irgendwann wird alles ans Licht kommen, ausnahmslos. Und dann wird man sich wundern oder erschrecken und die Wahrheit, von der man gerade eben noch glaubte, sie felsenfest zu kennen, korrigieren müssen.
Auch die Erde birgt Geheimnisse, natur- und menschengemachte. Erstere überwiegen, ihnen widmen sich die Wissenschaften.
Aber wer nimmt sich der von Menschen gemachten an? Des hellblauen Fahrrads zum Beispiel mit den darauf gepinselten weißen Wölkchen, das seit weit über dreißig Jahren zusammen mit einer Zahnspange unter der Erde verrostet? Gräser, Disteln, Klee und Kamille wuchern über ihnen. Für wie lange noch?
Gerade in letzter Zeit lese ich oft in meinem alten Tagebuch beziehungsweise in dem von Silvia und mir. Als sie vorschlug, immer abwechselnd hineinzuschreiben, war ich von der Idee sofort begeistert.
Jede von uns hatte das wattierte orangefarbene Buch mit dem winzigen Messingvorhängeschloss immer nur einen Tag lang. Jede von uns besaß einen dazu passenden Schlüssel, den wir an einer Kette um den Hals trugen. Hatte ich abends meine Erlebnisse und Gedanken dem Tagebuch anvertraut, verschloss ich es, lief zu Silvia rüber und warf es in ihren Briefkasten. Oder ich gab es ihr in der Schule in der ersten Fünfminutenpause. Wenn ich es am nächsten Tag zurückbekam, las ich gespannt ihren Eintrag, der oft viel lustiger und lebendiger als meiner geschrieben war.
Seit wir zwölf waren, hielten wir das so. Seit wir beschlossen hatten, beste Freundinnen zu sein.
Silvia und ich besuchten gemeinsam ein Gymnasium in unserer Heimatstadt Kaarst am Niederrhein. Während einer Klassenfahrt in die Eifel freundeten wir uns an. Wir merkten, wie sehr wir uns trotz aller Unterschiede mochten. Oder vielleicht gerade ihretwegen, ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass mir Silvia bald fast näher war als ich mir selbst und ich ihre ansteckende Fröhlichkeit und ihre Lebenslust nie mehr missen wollte. Was für ein Mensch sie war, davon zeugen heute noch ihre Einträge, wie zum Beispiel einer vom Sommer 1979, als wir beide gerade dreizehn Jahre alt waren:
7. 7. 1979
Sonne, Hitze und Ferien! So könnte es immer sein! War heute mit Nina im Freibad im Neusser Südpark. Während sie blass wie die Wand ist, bin ich schon knackig braun. Dafür hat sie eine super Figur, und ich seh neben ihr aus wie ein Klops. Ein mit Jägersauce übergossener Klops.
Aber egal. Auf jeden Fall hatten wir viel Spaß. Ich habe extra eine Arschbombe nach der anderen ins Becken gemacht, genau neben zwei geschminkten Tussis mit Föhnfrisuren, die sich auf ihren Handtüchern sonnten. Natürlich sind die patschnass geworden und haben gequiekt wie Miss Piggy! Sehr lustig! Nina war das Ganze ein bisschen peinlich, aber irgendwann hat sie mitgemacht.
Später haben wir am Kiosk ein Wassereis gekauft - einen Flutschfinger. Neben uns stand eine Clique mit Jungs, etwas älter als wir, und einer von denen war total süß. Also habe ich mein Eis besonders genüsslich geschleckt, ganz langsam, mit der Zunge an dem bunten Finger aus Eis entlang. Nina ist rot wie eine Tomate geworden, aber die Jungs fanden es toll. Sie haben uns zu einer Cola eingeladen. Super war das. Und sie waren echt nett.
Obwohl, an Alex kamen sie natürlich nicht ran. Alex ist der süßeste und tollste Junge überhaupt! Ich liebe seine grünen Augen und die blonden Locken. Auch wenn Nina sagt, er sei viel zu alt für mich, kann ich ihn doch ein bisschen anschmachten, oder? Ph, die vier Jahre! Ich warte einfach noch zwei, drei Jährchen, dann fällt der Altersunterschied gar nicht mehr auf. Vielleicht bin ich dann auch etwas schlanker und größer als jetzt, aber mit den Titten von heute. Träumen darf man, finde ich. So, jetzt mache ich aber mal Schluss und das Licht aus. Hoffentlich kann ich gut schlafen, denn der Sonnenbrand auf den Schultern ziept. Aua!
Silvia
Ich kann mich noch gut an jenen unbeschwerten Sommertag erinnern. Was war ich damals verklemmt - im Gegensatz zu meiner Freundin.
Zu der Zeit las ich ihre Einträge oft mehrmals hintereinander, um mir ihre Sichtweise der gemeinsamen Erlebnisse näherzubringen. Heute ist das Tagebuch noch wertvoller für mich, denn es führt mir vor Augen, wie mein Leben hätte sein können, hätte es die Katastrophen nie gegeben.
Willich, Januar 2015
Liebe Nina,
wieder einmal schreibe ich dir, obwohl ich weiß, dass du mir nicht antworten wirst. Ich habe dich um Verzeihung gebeten, damals und während all der Jahre, und ich tue es heute wieder. Dein Schweigen sagt alles, trotzdem kann ich es nicht lassen. Es wäre mir so wichtig, dass du mir vergibst, gerade jetzt. Denn stell dir vor: Sie lassen mich raus. Nach fünfunddreißig Jahren. Ich darf noch ein bisschen in Freiheit leben. Verdiene ich das? Ich weiß es nicht.
Die Sache von damals war nicht so, wie du denkst. Das habe ich dir oft geschrieben. Klar hatte ich Schuld, aber anders, als du denkst. Auf eine Art, die ich dir nicht erzählen kann. Noch nicht, aber vielleicht bald. Würdest du mich dann anhören? Darf ich mich bei dir melden? Bitte.
Dein A.
Ich habe den Brief des Mörders in den Kamin geworfen. Allerdings erst, nachdem ich ihn gelesen hatte. Ich ärgere mich immer noch. Nicht darüber, ihn verbrannt zu haben, sondern darüber, dass ich nun weiß, dass sie ihn freilassen werden. Der Gedanke daran macht mich rasend wütend. Was für eine himmelschreiende Ungerechtigkeit! Mein Bruder Alex ist seit 1980 tot, und sein Mörder darf bald seine Zelle verlassen und einfach in die Sonne hinausspazieren. Eine Sonne, die Alex nie mehr sehen wird, weil er zu Staub zerfallen ist. Schon seit dreieinhalb Jahrzehnten.
Ich muss mit jemandem darüber reden. Dirk, mein Ex, ist der Einzige, der mir einfällt. Eigentlich wollte ich ihn nicht mehr so häufig anrufen, sonst denkt er womöglich noch, dass ich unsere alte Beziehung wiederbeleben will. Ich schaue in die Flammen im Kamin, während vor den Fenstern Dunkelheit und klirrende Kälte lauern.
Jannik und Maja, meine erwachsenen Kinder, kann ich jedenfalls unmöglich mit dieser Geschichte behelligen. Sie wissen nur das Nötigste, und das soll auch so bleiben. Maja ist gerade in Spanien und absolviert ein Soziales Jahr in einem Kinderheim. Jannik studiert in Köln, kellnert nebenbei und tingelt mit seiner Band durch die Studentenkneipen. Beide leben in ihrer eigenen Welt. Ich glaube, sie können sich die meine gar nicht vorstellen. Gott sei Dank, kann ich nur sagen. Ich greife zum Hörer.
»Hi, Dirk, ich bin es, Nina.«
»Oh, hallo.« Er klingt nicht mehr ganz nüchtern. Typisch, denn mein Ex säuft. Am Alkohol ist unsere Ehe zugrunde gegangen, trotzdem schätze ich Dirk und seine Meinung noch immer.
»Hast du es schon gehört?«
»Was?«
»Er kommt raus.«
Dirk ist sofort klar, von wem ich rede. Es gibt nur eine Person, deren Namen ich nicht über die Lippen bringe. »Ja, ich weiß es von seiner Führungsaufsicht.«
»Ach.«
»Der Typ hat mich in seinem Namen angerufen. Andi möchte mich treffen, sobald er entlassen ist.«
Ich bekomme Panik. Sie schnürt mir die Kehle zu. Der Mörder will sich zurück in mein Leben drängen.
»Was hast du geantwortet?«, krächze ich mit versagender Stimme.
Dirk zögert. »Nun .«
»Jetzt sag schon.«
»Ich habe . nicht direkt abgelehnt«, nuschelt er. Ich höre ihn schlürfen, dann schlucken. Wahrscheinlich kippt er Rotwein in sich hinein, schweren, trockenen Rotwein. Ob es schon die zweite Flasche ist? Es ist erst kurz nach acht an diesem Freitagabend, aber die Möglichkeit besteht durchaus.
»Tu mir das nicht an!«, bricht es aus mir heraus. »Bitte nicht!«
Dirk seufzt. »Reg dich nicht auf, Nina. Vielleicht ist es ja wichtig, was er zu sagen hat. Wir alle tragen die Geschichte schon so lange mit uns herum,...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: ohne DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet – also für „glatten” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Ein Kopierschutz bzw. Digital Rights Management wird bei diesem E-Book nicht eingesetzt.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.