Heracleon Philologus

Ausgangspunkt dieser Untersuchung zu Herakleon ist der Streit um den gnostischen Charakter des Johannes-Evangeliums. Ansgar Wucherpfennig leistet damit einen Beitrag zu einer umfassenderen Theologiegeschichte des 1. und 2. Jahrhunderts. Herakleons Bedeutung fuer diese Phase der Entstehung christlicher Theologie ist bislang in Folge seines Rufs als gnostischer Lehrer verborgen geblieben. Nach den antiken Quellen war Herakleon naemlich ein Gnostiker der Schule Valentins. Herakleons Fragmente sind als Zitate bei Origenes ueberliefert. Ihre detaillierte Untersuchung ergibt, dass sie seinen Versuch dokumentieren, das Johannes-Evangelium nach den Regeln zeitgenoessischer Bildung auszulegen. Die Schrift, der Herakleons Fragmente entstammen, ist also der aelteste erhaltene wissenschaftliche Kommentar zum Neuen Testament. Herakleon hat ihn als Manuskript fuer einen Unterricht verfasst, in dem er das Evangelium weitgehend kursorisch erklaert hat. Die Fragmente seines Kommentars lassen Aspekte fruehchristlicher Schoepfungslehre und Anthropologie und Ansaetze zu einer gesamtbiblischen Theologie erkennen. Fuer seine Schriftauslegung konnte Herakleon auf den Methodenplan der Philologie zurueckgreifen, die sich seit der Zeit des Hellenismus als eigenstaendige wissenschaftliche Disziplin etabliert hatte. Das erlaubt Ansgar Wucherpfennig neue Rueckschluesse auf die Entstehung der Gnosis im 2. Jahrhundert. Sie erweist sich in Herakleons Kommentar als ein ambivalentes Phaenomen: Einerseits kennzeichnet die Gnosis das Bemuehen des Christentums, sich im gesellschaftlichen Umfeld der Kaiserzeit als konkurrenzfaehige Lehre darzustellen. Andererseits zeigt Herakleons gnostisierende Erklaerung des Johannes-Evangeliums, dass das monotheistische juedische Erbe des Christentums bei diesem Bemuehen in eine ernstzunehmende Krise geraet.