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»Hast du das gehört?«, fragte Ulrich von Schellenberg zu mitternächtlicher Stunde sein neben ihm liegendes Weib, das ihn erst vor kurzer Zeit wie Treibgut aus dem Westmeer gezogen und ihm somit das Leben gerettet hatte.
Weil sie einander von kirchlicher Seite aus betrachtet gleich aus mehreren Gründen nicht angetraut werden konnten, lebten sie seither in einem lottrigen Verhältnis zusammen. Aber dies spielte für die beiden keine Rolle. Sie hatten sich auch ohne den Segen der Kirche lieben gelernt. Und dass sie hoch im Norden der deutschen Lande auf der kargen Frieseninsel Syld wie Randständische abseits der Gesellschaft leben mussten, störte sie ebenfalls nicht - im Gegenteil: Sie fühlten sich hier sogar wohl. Und dies, obwohl sie sich alles andere als sicher fühlen konnten.
Da der ehemalige Reichsritter glaubte, etwas gehört zu haben, war er von seinem einfachen Strohlager aufgeschreckt. »Ist das nicht das Geheule eines Wolfs? Oder .« Noch bevor er eine Antwort erhielt, schloss er wieder die Augen. Kaum eingeschlafen, wurde der Mann abermals aus dem Schlaf gerissen. »Ich glaube .« Auf seine Ellenbogen gestützt, versuchte er nun, die Geräusche zu lokalisieren und zu identifizieren. Aber er konnte nur das Pfeifen des Windes durch die Ritzen ihrer Kate hören. Nachdem er auf sein Strohkissen zurückgefallen war, um wieder Schlaf zu finden, stutzte Ulrich erneut. »Verdammt: Da schreit doch ein Balg?«
»Nein, mein Geliebter: Da ist nichts! Schlaf wieder«, murmelte die neben ihm liegende Theresa Schwaegelin, die er unsanft aus dem Schlaf gerissen hatte. Sie drückte ihm ein zartes Küsschen auf die Wange und streichelte ihm auch noch sanft übers Gesicht. Dann drehte sie sich zur Seite, um ihn weiterschlafen zu lassen. In Wahrheit wollte die »Kräuterhexe« ihren Gefährten nur beruhigen - obwohl sie spürte, dass etwas Schreckliches geschehen war und sich weitere schlimme, für sie im Augenblick allerdings noch unerklärliche Dinge ereignen würden. Theresa war mit Kräften gesegnet, die von den Insulanern als übersinnlich bezeichnet wurden. Deswegen hatte sie die markerschütternden Schreie deutlich genug gehört, um zu wissen, dass diese nur von einem menschlichen Wesen stammen konnten, dem etwas Furchtbares zugestoßen sein musste. Oder waren es gar die Schreie mehrerer Menschen und das Heulen von Wölfen gewesen? Wahrscheinlich hat mir die Wahrnehmung einen Streich gespielt. Wenn ein Kind geschrien hätte, wäre mir das sicher nicht entgangen - hoffte sie zumindest. Denn die in diesem harten Winter ganz besonders stark auflandigen Winde verursachten die verschiedensten Geräusche und konnten im Halbschlaf ihre ansonsten klare Sinneswahrnehmung verwischt haben.
Theresa konnte nicht mehr einschlafen und lauschte noch eine ganze Weile konzentriert mit zu Schlitzen verengten Augen ins dunkle Nichts.
Die für ihre erst 19 Jahre ungewöhnlich erfahrene und belesene Frau wusste, dass - egal was auch geschehen sein mochte - sowieso jede Hilfe zu spät kommen würde. In diesen grausamen Zeiten war es fast schon an der Tagesordnung, dass Menschen eines ungewöhnlichen Todes starben. Und wer sich auch noch zu nachtschlafender Zeit über den Dünendamm zum einzigen Wäldchen auf Syld traute, war sowieso selbst schuld, lautete die allgemeine Meinung der hier ansässigen Seefahrer, die nicht wussten, was sich dort abspielte. Die Inselbewohner waren ein rauer Menschenschlag, der jahreszeitenbedingt äußerst erfolgreich den Heringsfang und sogar den Walfang betrieb. Deswegen mussten die verschrobenen Insulaner weniger Hunger leiden und waren in jeder Hinsicht anders als ihre auf dem östlichen Festland lebenden Mitmenschen. Dennoch verband sie etwas mit den »Ländischen«: Sie alle glaubten an übernatürliche Schattenwesen, die insbesondere im Winter mit heulendem Geschrei und Getöse aus den Wäldern kamen, um das Nutzvieh zu reißen und ihren Nachwuchs in die ewige Finsternis zu holen. Deshalb beteten die Insulaner inbrünstig zu Gott.
Auch wenn die Sylder glaubten, weniger Geister und Dämonen auf ihrer fast baumlosen Insel zu haben als die Ländischen mit ihren weiten Wäldern im Hinterland, konnte Theresa nur wegen der im Aberglauben tief verwurzelten Angst der einfachen Inselbevölkerung vor Übergriffen sicher sein. Würde sie zum Wohle der Inselbevölkerung nicht so viel von der Heilkunde und - wie hinter vorgehaltenen Händen getuschelt wurde - von Magie und Zauberei verstehen, hätte man sie schon längst öffentlich der Hexerei bezichtigt. So aber konnte sie dem ehemaligen Reichsritter Ulrich von Schellenberg von der Inselbevölkerung unbehelligt Unterschlupf gewähren und ihm ein gemütliches Heim bieten, dem die Liebe innewohnte. Sie führte mit ihm ein verhältnismäßig friedliches Leben in der abgeschiedenen Stille des einzigen kleinen Wäldchens inmitten der langgezogenen Westmeerinsel.
*
Ulrich von Schellenberg hatte es ungewollt vom - wie Theresa immer zu sagen pflegte - »südlichsten Süden« der deutschen Lande auf diese im hohen Norden liegende Insel verschlagen. Ursprünglich stammte Ulrich - wie er dann immer stolz bekundete - ebenfalls von einem Eiland; von der Sonneninsel Reichenau im Mare Brigantium, die damals herrschaftlich mit dem nahe an der freien Reichsstadt Lindau gelegenen Wasserburg verbunden gewesen war. Seine Vorfahren wurden erstmals 1137 als Vasallen des Otto von Freising erwähnt. Da die Schellenberger ihren Stammsitz im oberen Isartal hatten und den Staufern ebenso dienten wie den Habsburgern, hatte sich ein Zweig der Schellenberger im vorarlbergischen Feldkirch, also am westlichen Rand des Habsburgerreiches, niedergelassen. 1243 hatte Ulrichs Großvater Joseph von Kaiser Rudolf I. die unweit davon gelegene eigenständige Herrschaft Staufen mit zugehörigem Besitz als Reichslehen zugesprochen bekommen. In jenem südlichen Ort der deutschen Lande, den Theresa meinte, hatte er dann auf alten Mauerresten die Burg Staufen errichtet, die Ulrichs Vater Marquart zu Beginn des Jahres 1311 an den Grafen Hugo von Montfort zu Bregenz verkauft hatte.
Zu diesem Zeitpunkt waren die Schellenberger bereits auf bestem Weg, zu einer der mächtigsten Adelsfamilien in Süddeutschland aufzusteigen. Während Ulrichs Bruder Marquart schon als Kind darauf vorbereitet wurde, dereinst die nahe der Residenzstadt Kempten gelegene Burg Sulzberg von seinem späteren Schwiegervater Konrad von Sulzberg zu übernehmen, hätte Ulrich selbst der Herr zu Staufen werden sollen. Aber es kam alles ganz anders.
Als der Vater die Burg Staufen notgedrungen an den Grafen von Montfort hatte verkaufen müssen, war Ulrich noch ein Säugling gewesen, weswegen er nur die ersten Jahre seiner Kindheit in diesem Teil des Allgäus verbracht hatte. Seine Jugend hatte er dann in anderen Teilen des Allgäus und im Oberschwäbischen, also nach wie vor im »südlichsten Süden« der deutschen Lande, verbracht. Kein Wunder also, dass er und Theresa kaum gegensätzlicher sein konnten. Dies äußerte sich beispielsweise in ihren grundverschiedenen Dialekten: Wenn Ulrich mit dem Friesischen immer noch Probleme hatte und er mit dem Sörling, der typischen Sylder Mundart, überhaupt nichts anfangen konnte, erging es Theresa mit dem breiten, aus dem alemannischen Sprachraum kommenden Allgäuer Dialekt ähnlich.
Dennoch hatten Ulrich und Theresa sich auf Anhieb blendend verstanden . und dies, obwohl die feinfühlige Frau ahnte, dass ihr Geliebter ein düsteres Geheimnis hütete.
Erst vor knapp eineinhalb Jahren hatte sie den damals 20-jährigen Mann mit dem langen flachsgelben Haar völlig erschöpft und am ganzen Körper mit Schürfwunden übersät bei ihrem wöchentlichen nächtlichen Gang zum Meer entdeckt. Als Theresa den Fremden aufgefunden hatte, hatte er besinnungslos im feuchten Sand des Weststrandes der Insel gelegen. Während sein Unterkörper bereits vom Meer mit Sand überspült worden war, hatte es das leicht schwappende Wasser noch nicht geschafft, auch den Oberkörper mit nassem Sand zu bedecken und in die Tiefe des Meeres zu ziehen.
Anstatt ihr wöchentliches Bad im Schutz der Nacht zu nehmen und Muscheln zu suchen, hatte die Frau mit den heilenden Händen den Besinnungslosen in ihre versteckt liegende Waldkate geschleppt und sofort damit begonnen, seine Wunden zu behandeln. Da sie damals schon mit der Kräuterkunde bestens vertraut gewesen war, hatte sie ihren Patienten innerhalb weniger Tage wieder auf die Beine gebracht. Und es war ihr sogar gelungen, den gefürchteten Wundbrand zu verhindern und die Hitze in seinem Körper zu senken. So ging es dem Mann, der sich bald als Nachkomme eines der ältesten Adelsgeschlechter aus den deutschen Landen vorgestellt hatte, körperlich rasch wieder besser. Seine seelischen Wunden konnte Theresa - obwohl sie schon bald darauf ein Paar geworden waren - allerdings nie ganz heilen. Denn Ulrich wich immer aus, wenn sie ihn darauf ansprach, weshalb es ihn von weit her ausgerechnet an ihren Strand gespült hatte. »Ich werde schon noch hinter dein Geheimnis kommen«, hatte die warmherzige Frau nicht nur einmal laut zu sich selbst gesagt und sich fest vorgenommen, dies auch zu tun.
Nicht nur in der bestens ausgebauten und ausgestatteten Holzkate inmitten des »vergifteten Waldes«, wie die verängstigten Sylder das einzige Wäldchen der Insel wegen dessen seltsam anmutender Bewohnerin nannten, war es still geworden. Auch dort, von wo das Geschrei und Geheule gekommen war, schien alles wieder ruhig zu sein. Jedenfalls...
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