Schweitzer Fachinformationen
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Tag der Entlassung
Meine Tochter musste nicht gegen mich aussagen. Sie tat es freiwillig.
Rose Gold war dafür verantwortlich, dass ich ins Gefängnis ging, aber nicht als Einzige. Müsste ich weitere aufzählen, dann würde ich den Staatsanwalt und seine wild ins Kraut schießende Fantasie sowie die leichtgläubigen Geschworenen und die blutrünstigen Reporter nennen. Sie alle forderten lautstark Gerechtigkeit.
Dabei wollten sie eigentlich nur eine Schauergeschichte.
(Popcorn raus, Leute, denn wahrlich, sie erfanden eine!)
Es war einmal, erzählten sie, eine böse Frau, die eine Tochter zur Welt brachte. Die Kleine schien sehr krank zu sein, es gab vieles, was bei ihr nicht in Ordnung war. Sie musste künstlich ernährt werden, die Haare fielen ihr büschelweise aus, und sie war so schwach, dass sie sich nur im Rollstuhl fortbewegen konnte. Ganze achtzehn Jahre fand kein einziger Arzt heraus, was eigentlich mit ihr los war.
Dann traten zwei Polizisten zur Rettung der Tochter auf den Plan. Denn siehe da: Die böse Mutter war die Kranke - das Mädchen war vollkommen gesund. Der Staatsanwalt posaunte in die Welt hinaus, dass die Mutter ihre Tochter über Jahre hinweg vergiftet habe. Die Mutter sei daran schuld, dass das Mädchen nichts bei sich behalten könne und an Unterernährung leide. Schwere Kindesmisshandlung nannte er es. Und forderte, die Mutter müsse bestraft werden.
Kaum war sie verhaftet worden, stürzten sich die Medien wie die Geier auf die Familie und weideten sich daran, wie sie auseinandergerissen wurde. Schrille Schlagzeilen verlangten nach dem Blut von »Giftmischer-Patty«, der etwa fünfzigjährigen Großmeisterin der Manipulation. Alle Freunde der Mutter fielen auf die Lügen herein. Im ganzen Land stieg man aufs hohe Ross: Jeder Anwalt, Polizist und Nachbar war überzeugt, das Mädchen persönlich gerettet zu haben. Die Mutter wurde ins Gefängnis gesteckt und der Schlüssel weggeworfen. Der Gerechtigkeit war Genüge getan, und die meisten lebten glücklich und zufrieden weiter. Ende der Geschichte.
Aber wo waren die Anwälte, als die Mutter zum tausendsten Mal das Erbrochene ihrer Tochter aus dem Teppich schrubbte? Wo waren die Polizisten, als die Mutter Nacht für Nacht über medizinischen Büchern brütete? Wo waren die Nachbarn, als das kleine Mädchen noch vor Tagesanbruch nach seiner Mutter rief?
Folgendes soll man mir mal erklären: Wenn ich fast zwei Jahrzehnte lang meine Tochter misshandelt habe, wieso hat sie dann angeboten, mich heute abzuholen?
Wie versprochen erscheint Connolly Punkt zwölf Uhr an der Tür meiner Zelle. »Bereit, Watts?«
Ich mühe mich von meiner Pritsche und ziehe meine kratzige Gefängniskluft straff. »Ja, Sir.«
Ich bin zu einer Frau geworden, die mit piepsiger Stimme spricht.
Der Wärter mit dem Schmerbauch holt einen großen Schlüsselring hervor und öffnet pfeifend die Tür. Ich bin Connollys Lieblingsinsassin.
Am Bett meiner Zellengenossin halte ich kurz inne, will aber keine Szene heraufbeschwören. Allerdings sitzt Alicia schon an die Wand gelehnt da und hat ihre Knie umschlungen. Als sie mir in die Augen blickt, bricht sie in Tränen aus und wirkt wesentlich jünger als zwanzig.
»Schsch.« Ich bücke mich und schließe das Mädchen in meine Arme. Dabei versuche ich, heimlich einen Blick auf ihre verbundenen Handgelenke zu werfen, aber sie ertappt mich dabei. »Trag immer wieder die Salbe auf und wechsle die Verbände. Das darf sich nicht entzünden«, mahne ich und wackle mit den Augenbrauen.
Alicia lächelt unter Tränen und sagt hicksend: »Ja, Schwester Watts.«
Ich bemühe mich, mir meinen Stolz nicht anmerken zu lassen. Zwölf Jahre lang habe ich als Pflegehelferin gearbeitet. Mit Zertifikat.
»Braves Mädchen. Díaz macht heute den Hofgang mit dir. Dreißig Minuten. Auf Anordnung des Doktors.« Ich lächle und streichle ihr das Haar. Ihr Schluckauf hat sich gelegt.
»Schreibst du mir denn?«
Ich nicke. »Und du kannst mich jederzeit anrufen.« Ich drücke ihr noch mal die Hand, richte mich auf und gehe zu Connolly, der geduldig gewartet hat. An der Türschwelle verharre ich, werfe noch einen Blick zu Alicia und mache mir in Gedanken eine Notiz, ihr zu schreiben, sobald ich zu Hause bin. »Jeweils eine ganze Stunde.«
Alicia winkt mir scheu. »Viel Glück da draußen.«
Connolly und ich machen uns auf den Weg zur Aufnahme und Entlassung. Meine Mitgefangenen rufen mir Abschiedsworte zu.
»Melde dich mal, ja?«
»Wir werden dich vermissen, Mama.«
»Pass auf dich auf, Skito.« (Die Abkürzung für >Moskito< ist nicht kränkend, sondern als Kompliment gemeint. Moskitos sind unverwüstlich.)
Ich bedenke alle mit meinem majestätischsten Winken, verteile aber keine Luftküsse. Besser, man bleibt seriös. Ohne innezuhalten, gehen Connolly und ich immer weiter.
Auf dem Flur werde ich fast von Stevens umgerannt. Sie hat unheimliche Ähnlichkeit mit einer Bulldogge: kräftig und gedrungen, schlaffe Hängebacken, hin und wieder geifert sie. »Und tschüss!«, grunzt sie.
Stevens war der Boss, als ich hier ankam. Sie war nie eine Befürworterin des Zuckerbrot-Ansatzes, sondern schwor auf die Peitsche. Aber mit roher Gewalt und Einschüchterungstaktik kommt man nur bis zu einem gewissen Punkt - und nirgendwohin bei einer Frau meiner Statur. Es war leicht, ihr die Macht zu entreißen. Ich nehm's ihr nicht übel, dass sie mich hasst.
Jetzt winke ich kokett mit den Fingern. »Ein schönes Leben noch, Stevens.«
»Vergifte keine kleinen Mädchen mehr«, knurrt sie lahm.
Da ich sie nicht erwürgen kann, mache ich ihr mit Freundlichkeit den Garaus. Ich lächle, ganz heitere Gelassenheit, und folge Connolly.
Die Abteilung für Aufnahmen und Entlassungen ist nichts Besonderes: ein lang gestreckter Flur mit Betonboden, viel zu weißen Wänden und Zimmern mit dicken Glasfenstern. Am Ende des Flurs befindet sich ein kleiner Bürobereich mit Schreibtischen, Computern und Scannern. Könnte auch eine Buchhaltung sein, wenn Buchhalter Dienstmarken und Waffen tragen würden.
Am Empfang hat der Angestellte seinen Stuhl zum Radio gedreht. Gerade kommen Nachrichten. Nach einer kurzen Pause, sagt der Sprecher, gibt es Informationen zu einem kleinen Jungen in Indiana, der vermisst wird. Außerdem gehen wir der Frage nach, ob man von Süßigkeiten Krebs bekommen kann. Die nächsten Neuigkeiten auf WXAM. Seit meinem Prozess habe ich Nachrichten weder gehört oder gesehen noch gelesen. Die Presse hat meinen guten Namen besudelt. Ihretwegen hat meine Tochter vier Jahre lang nicht mit mir geredet.
Ich starre finster auf das Radio. Als der Angestellte seinen Stuhl zu mir dreht, wird mir klar, dass ich ihn kenne. Im Geiste habe ich den kahlen, bulligen Mann Meister Proper genannt. Vor fünf Jahren sah ich ihn das erste Mal. Er flirtete den ganzen Tag mit mir und fragte nach meinem Parfüm, während ich ihn auf Abstand hielt. Dabei gab ich mich selbstsicher und munter, aber innerlich schwankte ich zwischen Wut über mein ungerechtes Urteil und Angst vor den nächsten fünf Jahren. Seitdem habe ich ihn nicht mehr gesehen.
»Patty Watts?«, fragt er und schaltet das Radio aus.
Ich nicke.
»Ich erinnere mich an Sie«, sagt er und lächelt.
Meister Proper holt ein Formular aus seinem Schreibtisch und verschwindet im Lager. Nach ein paar Minuten kommt er mit einem kleinen Pappkarton zurück. Er reicht mir ein Blatt Papier. »Sie müssen die Bestandsliste prüfen und ganz unten unterschreiben, dass Sie alles zurückgekriegt haben, was Sie mitgebracht haben.«
Ich öffne den Karton, sichte ihn und unterschreibe dann.
»Sie können jetzt Ihre Straßenkleidung anziehen«, bemerkt Meister Proper, weist zum Waschraum und zwinkert mir zu, als Connolly gerade nicht hinschaut. Ich nicke, umklammere den Pappkarton und schlurfe davon.
In einer Toilettenkabine reiße ich mir die Jacke mit der Aufschrift »Justizvollzugsanstalt« vom Leib und wühle im Karton. Nach fünf Jahren Gefängnisfraß sitzt meine Lieblingsjeans mit dem bequemen Gummibund ein bisschen locker. Ich ziehe mein Garfield-T-Shirt und ein rotes Sweatshirt mit den Initialen meines Community Colleges an, GCC. Meine alten Socken sind steif vor Schweiß, aber immer noch besser als die groben Wollsocken, die ich trage. Als ich meine weißen Turnschuhe anziehe, bemerke ich noch einen Gegenstand am Boden der Schachtel. Erst will ich das herzförmige Medaillon in die Tasche stecken, hänge es mir dann aber um. Sie soll sehen, dass ich die Kette trage, die sie mir als Kind geschenkt hat.
Ich verlasse den Waschraum und gebe Meister Proper den leeren Pappkarton zurück.
»Passen Sie auf sich auf.« Wieder zwinkert er.
Connolly und ich gehen durch den neonbeleuchteten Flur der Aufnahme Richtung Parkplatz. »Kommt jemand, Watts?«
»Ja, Sir. Ich werde gleich abgeholt.« Sorgfältig achte ich darauf, nicht zu erwähnen, von wem, denn obwohl Rose Gold mittlerweile dreiundzwanzig ist, halten...
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