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1970, als die Chance bestand, dass ich während des Vietnamkriegs zum Militärdienst eingezogen werden würde, besuchte ich die Thomas-Starr-King-Amtsschule, ein unitarisch-universalistisches Priesterseminar in Berkeley, Kalifornien. In Priesterseminaren eingeschriebene Studierende wurden vom Militärdienst zurückgestellt, sodass die Zahl solcher Einschreibungen Ende der 1960er Jahre dramatisch anstieg. Im Rahmen meiner Ausbildung veranstaltete ich einen von Studierenden geleiteten Kurs namens »Utopie und Revolution«. Zehn Wochen lang traf ich mich mit etwa einem Dutzend anderer Studenten aus den verschiedenen Seminaren des Theologischen Graduiertenverbands Berkeley (Berkeley Graduate Theological Union), um die Prinzipien und Perspektiven einer revolutionären Transformation der amerikanischen Gesellschaft sowie der übrigen Welt zu diskutieren. Wir waren jung und voller Ernst bei der Sache, angetrieben vom Idealismus der Bürgerrechts- und Antikriegsbewegungen sowie der gegenkulturellen Strömungen, die sich dem Wettbewerbsindividualismus und Konsum entgegenstellten. Wir diskutierten die Perspektiven eines revolutionären Umsturzes des amerikanischen Kapitalismus und die Einzelheiten der »Diktatur des Proletariats« sowie die Möglichkeit einer gegenkulturellen Zersetzung bestehender Macht- und Herrschaftsstrukturen durch die Praxis alternativer Lebensweisen.
Um unsere Diskussionen in diesem Kurs zu erleichtern, nahm ich die Sitzungen auf Band auf und fertigte wöchentlich eine Transkription an, die ich dann sämtlichen Teilnehmern aushändigte. Während der ersten Sitzung diskutierten wir darüber, was wir jeweils unter »Utopie« verstanden. Gegen Ende der Sitzung schlug ich Folgendes vor:
Ich glaube, es wäre nicht wünschenswert, den Entwurf einer Vorstellung von Utopie, wie er uns hier beschäftigt, als Versuch zu begreifen, abschließende institutionelle Antworten auf verschiedene Probleme zu finden. Wir können vielleicht bestimmen, welche Art gesellschaftlicher Institutionen unsere Ziele negieren und welche Art von Institution sich zumindest auf diese Ziele zuzubewegen scheint, aber es wäre unmöglich, detaillierte Blaupausen tatsächlicher Institutionen zu entwickeln, die sämtliche unserer 28Ideale vollständig verkörpern würden. Unsere wirkliche Aufgabe besteht im Versuch, Institutionen zu konzipieren, die selbst zu dynamischer Veränderung fähig sind, die auf die Bedürfnisse der Menschen reagieren und sich entsprechend entwickeln können, und nicht etwa Institutionen, die dermaßen perfekt sind, dass sie keiner weiteren Veränderung bedürfen.
Bald darauf wurde das System zur Rekrutierung junger Männer für den Militärdienst auf ein Losverfahren umgestellt. Ich hatte Losglück, sodass ich 1971 mein Studium der Soziologie an der University of California in Berkeley aufnehmen konnte.
Über die nächsten zwei Jahrzehnte drehte sich meine Arbeit um das Problem einer Rekonstruktion des Marxismus und insbesondere des theoretischen Rahmens, dessen er sich zur Klassenanalyse bediente. Das Problem des Sozialismus und der Alternativen zum Kapitalismus kam gelegentlich auf, stand aber nie im Mittelpunkt meiner Forschungs- und Publikationstätigkeit.
1992 widmete ich mich erneut der Frage der Utopie und der emanzipatorischen Transformation. In Berlin war es zum Mauerfall gekommen, die Sowjetunion war zerfallen. Neoliberalismus und Marktfundamentalismus beherrschten die Regierungspolitik der kapitalistischen Demokratien. Aufgrund des Untergangs und der Diskreditierung der zentralisierten Planwirtschaften glaubten viele Menschen, Kapitalismus und liberale Demokratie seien die einzige mögliche Zukunft der Menschheit. Das »Ende der Geschichte« wurde ausgerufen.[1]
Das war der Kontext, in dem ich Anfang der 1990er Jahre das Real Utopias Project begann - der Versuch, die ernsthafte Diskussion der Alternativen zu bestehenden Macht-, Privilegien- und Ungleichheitsstrukturen zu vertiefen. Das Projekt war von dem Gedanken getragen, auf spezifische Entwürfe zur grundlegenden Umgestaltung verschiedener Bereiche gesellschaftlicher Institutionen zu fokussieren anstatt auf die allgemeine, abstrakte Formulierung ehrgeiziger Entwürfe oder kleine, unmittelbar umsetzbare Reformen bestehender Praktiken. Es ist schwierig, diese Art von Diskussion rigoros zu führen. Über konkrete Möglichkeiten zu sprechen, an den bestehenden Verhältnissen herumzuflicken, ist viel einfacher, als plausible Entwürfe eines radikalen Neuaufbaus zu formulieren. Marx hatte recht, als er feststellte, dass detailrei29che Blaupausen alternativer Ordnungen oft sinnlose Fantastereien sind. Was ich und meine Kollaborationspartner im Real Utopias Project erreichen wollten, war die klare Ausarbeitung tragfähiger institutioneller Prinzipien, die in emanzipatorische Alternativen zur bestehenden Welt einfließen können. Dieses Ziel nimmt eine Mittelstellung ein zwischen der bloßen Diskussion jener moralischen Werte, die uns zu dem ganzen Unterfangen veranlassen, und den genaueren Details der Eigenschaften von Institutionen.
Bis zum Jahr 2003 waren aus dem Projekt vier Bücher hervorgegangen (seitdem sind noch zwei weitere erschienen). Das schien ein guter Zeitpunkt, von spezifischen Entwürfen Abstand zu nehmen und zu versuchen, das Projekt in einen umfassenderen analytischen Rahmen einzubetten.[2] Zeitgleich nahm ich mit Michael Burawoy die Arbeit an einem (bislang unabgeschlossenen) Buchprojekt auf, das wir Sociological Marxism (Soziologischer Marxismus) nannten. Wir hatten bereits einen gemeinsamen Beitrag dieses Namens zu einem Handbuch soziologischer Theorien verfasst und hielten es für eine gute Idee, dieses Paper zu einem Buchmanuskript zu erweitern.[3] Die Kernthese des ursprünglichen Artikels lautet, dass die Klassenanalyse den robustesten und dauerhaftesten Bestandteil der marxistischen Tradition darstellt und dass es möglich ist, davon ausgehend einen umfassenden soziologischen Marxismus zu entwickeln. In dem von uns geplanten Buch wollten wir die historischen Ursprünge des soziologischen Marxismus in der marxistischen Tradition nachzeichnen - dafür sollte vor allem Burawoy verantwortlich sein - und dessen theoretische Fundamente gründlicher entwickeln - dafür sollte vor allem ich zuständig sein. Ich begann, eine erste Fassung meines Teils 30des Manuskripts zu schreiben, dessen Schlusskapitel die Idee eines Entwurfs realer Utopien entwickelte. Dann wurde Burawoy allerdings zum Präsidenten des amerikanischen Soziologenverbands (American Sociological Association) gewählt und schlug in seinem Denken und Schreiben eine neue Richtung ein, indem er sich dem Thema der »Öffentlichkeitssoziologie« (public sociology) widmete, sodass unser Buchprojekt aufs Nebengleis geriet. Burawoy ermutigte mich aber, die von mir verfassten Schlusskapitel zum Kernstück eines anderen Buches zu machen. So entstand Reale Utopien. Wege aus dem Kapitalismus.
Im Herbst 2004 präsentierte ich eine erste Fassung der Kernthese des Buches in Form eines Vortrags, »Taking the >Social< in Socialism Seriously« (»Das >Soziale< im Sozialismus ernst nehmen«), den ich auf der Jahresversammlung des amerikanischen Soziologenverbands und der Gesellschaft zur Förderung der Sozioökonomie (Society for the Advancement of Socio-Economics) hielt. Die These schien bei den Teilnehmer beider Versammlungen gut anzukommen. Anschließend hielt ich den Vortrag auf der Versammlung der Analytical Marxism Group, eines Zusammenschlusses von Akademikern, die sich seit etwa 1980 fast jährlich zur Diskussion ihrer jeweiligen Arbeitsvorhaben trafen.[4] Den Mitgliedern der Gruppe gefiel mein Vortrag nicht sonderlich. Sie stießen sich insbesondere an meinem Versuch, verschiedene Wirtschaftssysteme anhand der in ihrer wirtschaftlichen Organisation jeweils »vorherrschenden« Machtform zu unterscheiden. Wir führten eine lange, intensive (und ein Stück weit frustrierende) Diskussion um das Problem, wie die »Vorherrschaft« eines bestimmten Elements innerhalb eines komplexen Beziehungsgeflechts zu bestimmen sei. Niemand hatte 31sonderlich konstruktive Vorschläge, und ich fühlte mich am Ende des Treffens etwas zermürbt.
In den Monaten nach dem Treffen dachte ich weiter nach und gelangte zu dem Schluss, dass es sich bei dem in der Diskussion angesprochenen analytischen Problem zwar um ein reales handelt, Kern und Stoßrichtung meiner Herangehensweise aber nicht ernsthaft davon beeinträchtigt werden (ich gehe in Kapitel 5 auf diese Fragen ein). Ich setzte mich also erneut an den Vortrag und unterzog ihn 2005 einer gründlichen Überarbeitung. Das Vortragsmanuskript, das die Kerngedanken darstellt, die in diesem Buch ausführlicher entwickelt werden, wurde schließlich 2006 in der New Left Review als Artikel veröffentlicht.[5]
Im Frühjahr 2005 glaubte ich über eine belastbare Kernthese zu verfügen, aber ich war mir noch nicht sicher, wie ehrgeizig mein Buch angelegt sein sollte. Sollte es sich dabei im Wesentlichen um eine bescheidene Ausarbeitung des Beitrags für die New Left Review handeln? Sollte ich versuchen, die spezifischen Argumentationslinien zum Entwurf realer Utopien in ein umfassenderes Programm emanzipatorischer Gesellschaftstheorie einzubetten? Sollte ich mich unmittelbar mit dem Marxismus auseinandersetzen, sowohl um die Stellung meiner Argumentation innerhalb der marxistischen Tradition zu verdeutlichen als auch um aufzuzeigen, wo sie sich von bestimmten Aspekten dieser Tradition entfernt? Ich gelangte zu dem Schluss, dass die beste...
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