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12. Oktober 1917
Zuerst kam ein Junge aus dem Haus mit dem dunkel gedeckten steilen Dach und den ausgeblichenen, mit Efeu überwachsenen Mauern, von denen der Putz bröckelte. Er schritt ungelenk die Sandsteinstufen hinunter und nestelte dabei nervös an den Trägern seines Tornisters. Ein hoch aufgeschossener Junge, um die sechzehn, siebzehn Jahre alt. Am Tor hielt er an; etwas vornübergebeugt stand er da und wartete. Er lächelte, sein Atem ging schnell. Es war ein schöner Herbsttag. Der Junge schloss einen Moment lang die Augen: durch die Lider hindurch spürte er das Sonnenlicht.
Dann kamen die anderen, ein Mann und eine Frau, die Eltern des Jungen. Der Mann bewegte sich langsam, sein beigefarbener Anzug war ordentlich gebügelt, bauschte sich aber weit um seinen Körper, als wäre er für einen größeren Mann gemacht worden. Auch seine Gesichtszüge wirkten, als wären sie ihm zu groß und nicht seine eigenen, ein Ensemble von unzusammenhängenden Grimassen, mittendrin ein unsicherer Blick, der auf den Jungen fiel und von ihm weg auf das Spalier und auf das alte Haus hinter ihnen irrte. Die Frau ging einen halben Schritt hinter ihm und führte ihn am Ellbogen die Stufen hinab. Sie war noch jung. Ihre ganze Haltung wirkte stolz und streng. Der Junge schlug die Augen auf, als er sie kommen hörte, und sah zu ihnen hin. Er lächelte immer noch, aber das Lächeln galt nicht ihnen; es wurde ihm bewusst, und er presste die Lippen aufeinander. Er stand am Tor und beobachtete sie, lange Zeit, so schien es. Endlich waren sie bei ihm, und die drei traten hinaus auf die Straße.
Sie gingen untergehakt in Richtung auf die graue Mauer am Kanal, hinter der man lebhaft farbige Dächer sah. Es roch nach Holzfeuer. Am Kanal bogen sie ab in eine enge Gasse. Die Frau betrachtete schweigend den Jungen. Er und ihr Mann redeten in gleichgültigem Ton miteinander, aber sie hörte nicht zu. Der Mann sah den Jungen nicht an beim Reden, er schaute auch nicht auf den Weg, sein Blick ging wie immer irgendwo in die Ferne. Der Junge redete immer weiter, nur um die Minuten auszufüllen, und behielt das Gesicht seines Vaters fest im Blick. Von Zeit zu Zeit lachte er gezwungen auf.
Nach einigen Minuten kamen sie an eine gekieste Allee, die zu einer gemauerten Brücke und aus der Stadt hinaus führte. Sie blieben auf der Brücke stehen und schauten ins Wasser hinab. Nach einer Weile kam ein Mann mit einem teigigen Gesicht auf einem Fahrrad gefahren. Die Frau winkte ihm zu, und er blieb bei ihnen stehen.
»Na, Oskar«, sagte der Mann und grinste den Jungen an. »Jetzt geht's also los. Wurde ja auch Zeit, was?«
»Ja, Onkel Gustl.«
»Ja, und wir sind stolz auf dich. Verdammt stolz.«
»Wir sind überhaupt nicht stolz, Gustl«, sagte die Frau.
Der Mann auf dem Fahrrad grinste. »Mütter nehmen solche Sachen immer gleich tragisch.« Er klopfte dem Jungen auf die Schulter. »Jeder hat sein Päckchen zu tragen, wie man so sagt.«
»Warum bist du noch nicht in Italien?«, fragte der Junge.
»Das Herz, Oskar, das weißt du doch. Das blöde Herzklopfen.« Er seufzte. »Aber, na ja, an der Heimatfront werden auch gute Männer gebraucht, sagt der Kaiser. Oder nicht, Karl?«
Der Vater des Jungen gab einen Laut von sich, den man als Zustimmung deuten konnte. Er blickte durch die Allee mit ihren weiß getünchten Weidenstämmen in Richtung Bahnhof.
»Wir müssen weiter, Gustl«, sagte die Frau ruhig. »Du kommst zum Essen heute Abend?«
»Ja, ja, Dora.« Er atmete tief und wandte sich dem Jungen zu. »Also, Oskar«, sagte er mit einem Augenzwinkern, »tu deine Pflicht bei den Katzelmachern. Heiz denen tüchtig ein, das bist du deinen Lieben daheim schuldig.«
»Jetzt reicht's, Gustl«, sagte die Frau. »Also wirklich!«
»Wiedersehen, Onkel Gustl. Ich tu mein Bestes.«
»Das nehm ich doch schwer an.«
»Der Zug, Dora«, sagte der Vater drängend.
Als er so, eskortiert von seinen Eltern, in Eile die Bahnhofstraße entlangging, kam dem Jungen zum ersten Mal die Bedeutungsschwere dessen, was gerade passierte, zum Bewusstsein, und er sah immer wieder über die Schulter zurück. Gerahmt von den gestutzten Weiden der Allee, eingefasst von dem Berg dahinter, lag das Städtchen in der Sonne da wie auf einer alten Brosche gemalt, und zugleich war es, als entfernte es sich mit stampfenden Rädern, tauchte ein in den Wald. In ein und demselben Moment erkannte er, dass es schön war und dass es für immer aus seinem Leben verschwand. Seine Mutter redete jetzt gehetzt und drängend auf ihn ein; sein Vater schritt so schnell dahin, wie er nur konnte, er keuchte und riss bei jedem Atemzug die Augen weit auf. Dem Jungen wurde bewusst, dass er auf dem ganzen Weg seine Mutter nicht angeschaut hatte, und er brachte es auch jetzt nicht über sich, obwohl ihm klar war, dass er ihr wehtat. Ich weiß, wie sie aussieht, dachte er. Ich weiß, wie sie jetzt in diesem Augenblick aussieht. Ich brauche sie nicht anzusehen.
»Hast du genug warme Sachen eingepackt, Oskar?«, sagte sie. »Hast du genug Wintersachen dabei?«
»Maman«, sagte er und lachte. »Ich kann mir doch nicht aussuchen, was ich anziehen will. Ich kriege doch eine Uniform.« Er sah seinen Vater an. Der nickte ernst.
»Findest du das so komisch, Karl?« Die Stimme der Mutter klang gespannt, gereizt, humorlos.
»Ein bisschen schon, Dora. Nur ein bisschen.«
»Ich dachte an Unterwäsche, Oskar«, sagte die Mutter und zog den Sohn mit sich vorwärts. Der Vater hinter ihnen lachte leise auf.
Am Bahnhof zeigte der Junge seinen Einberufungsbescheid und bekam eine Fahrkarte. Auf dem Bahnsteig standen noch etliche andere Familien, aber er hielt sich mit seinen Eltern abseits und starrte in die Richtung, aus der der Zug kommen sollte. Eine von den Frauen schluchzte und klammerte sich an ihre beiden Söhne, Zwillinge mit breiten Schultern und rötlichen Haaren. Sie tuschelten und schnitten Grimassen.
»Wer ist das?«, fragte die Mutter des Jungen. »Wer ist die Frau mit diesen zwei Jungen, Karl?« Sie runzelte die Stirn. »Ich kenne überhaupt niemanden von all diesen Leuten hier.«
»Aber natürlich kennst du die, Maman«, sagte der Junge. Er sah dabei seinen Vater an und verdrehte die Augen. »Das sind Franz und Christian Rindt. Ihr Bruder Willi hat das neue Gasthaus am Marktplatz, gegenüber von Ryslavy. Und die daneben kennst du auch: Erich, Maria und Peter Hoffenreich.«
Der Körper der Mutter straffte sich. »Na ja, für mich gibt es nach wie vor nur einen Gasthof in Niessen: den Niessener Hof.« Sie sah ihren Mann an, der ungerührt auf die Gleise blickte. Ihre Lippen waren verkniffen, und sie wirkte geziert und komisch. Als ob sie gerade in eine Frucht aus Wachs gebissen hätte, dachte der Junge. Durch und durch freudlos, und das nicht nur wegen Père. Sie war schon immer so gewesen, auch als es ihm noch besser ging. Ganz die feine Dame aus der Provinz. Er dachte wieder daran, dass er auch ohne den Krieg schon bald von ihnen fortgegangen wäre, ob es ihnen gefiel oder nicht.
»Der Krieg macht uns alle gleich, Maman«, meinte der Junge. »Das hat unser Kaiser gesagt.«
Sein Vater hob eine Hand vor seinen Mund. »Tu dir keinen Zwang an«, sagte die Mutter. »Lach ruhig, Karl.« Aber auch sie musste lächeln.
In diesem Moment zeigte jemand nach vorn, und die drei sahen jetzt über den Bäumen die erste Dampfwolke. »Ja, Oskar«, sagte seine Mutter ruhig. Sie hatte ihm die Hände auf die Schultern gelegt und sah ihn forschend an, musterte ihn gründlich mit großen entschlossenen Augen. Für den Fall, dass ich nicht zurückkomme, dachte der Junge und bewegte den Gedanken hin und her, um zu spüren, wie er sich anfühlte. Er sah an ihr vorbei auf seinen Vater, der bewegungslos fasziniert den Zug beobachtete, als passierte jetzt das Unentrinnbare, auf das er gewartet hatte. Das ist es nicht, dachte der Junge. Das ist es nicht, aber es erinnert ihn daran.
Eine Minute lang sprach keiner von ihnen ein Wort. Hinter ihnen weinte Frau Rindt und verwünschte in ihrem Gebirgsdialekt den Krieg.
»Führ ein Tagebuch, Oskar«, sagte sein Vater, als der Zug den Bahnhof fast erreicht hatte. »Mir zuliebe, ja? Schreib alle die nichtigen Kleinigkeiten auf. Es gibt bestimmt jede Menge Absurditäten. Schick es mir in Fortsetzungen zusammen mit deinen Briefen. Ich habe so ein Tagebuch für meinen Père geführt, als ich in Dalmatien im Krieg war.« Er lächelte. »Tust du mir den Gefallen?« Seine Stimme war sehr sanft, fast beschwörend.
Der Junge warf einen Blick auf seine Mutter. »Würde dir das helfen, Père?«, fragte er zögernd.
Sein Vater nickte. »Es wäre wirklich nett von dir. Deinen alten Großvater hat es damals davor bewahrt, an Langeweile einzugehen.« Er hob langsam, widerstrebend die Schultern - es sah aus, als kämpfte er verbissen gegen eine Kraft an, die sie nach oben zog. »Sei so gut, Oskar. Damit ich nicht in diesem netten Nest am Ende der Welt langsam verrotte.«
»Bitte, Karl«, sagte die Mutter des Jungen, jetzt plötzlich wieder streng.
»Entschuldige, Dora. War doch nur Spaß.«
»Das kannst du nicht machen, Karl. Nicht jetzt, hörst du?«
»Ist ja gut, Maman, mein Gott!«, sagte der Junge. »Lass gut sein!« Hinter sich hörte er schon das Geräusch des Zugs.
»Entschuldige, Dora«, sagte sein Vater. »Ich hab doch nur Spaß gemacht. Wir werden ihn nie wiedersehen, weißt du.«
»Karl!« Sie zitterte jetzt.
»Bitte, Maman. Lass ihn. Bitte.«
»Oskar«, sagte sie und hielt seinen Arm...
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