Schweitzer Fachinformationen
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Liebe Mrs. Haven,
um 08:47 Uhr EST bin ich heute Morgen aufgewacht und fand mich von der Zeit ausgeschlossen.
Ich sehe Dich vor mir, wie Du diesen Brief liest. Ich sei vor Kummer verrückt geworden, wirst Du Dir sagen, hätte den Verstand verloren, doch war ich nie klarer im Kopf. Bitte glaube mir, Mrs. Haven, wenn ich schreibe, dass dies kein Scherz ist. Ungebremst dreht sich die Zeit um mich herum, gluckert wie ein Whirlpool, wandelt sich wie ein Quantenfeld, rotiert wie eine Galaxie um ihre zentrale Nabe - in der Mitte aber ruht alles still.
Besteht die Hoffnung, wie unendlich klein auch immer, dass Du eines Tages dieses Manuskript finden und lesen wirst? Glaubte ich nicht daran, könnte ich nicht weitermachen. Und wenn ich nicht weitermache, verschwinde ich vollends.
Ein Physiker würde diesen Ort wohl eine nennen, einen Punkt in der Raumzeit, an dem die Gesetze des Kosmos nicht gelten, doch gleicht er keiner mir geläufigen Singularität. Die einzige von der Physik anerkannte Singularität ist, wie Du sehr wohl weißt, ein Punkt unendlicher Dichte und Schwere, der alles - sogar das Licht - aus jenem Kontinuum reißt, in dem Zeit existiert. Ein schwarzes Loch, mit anderen Worten, das mich längst in Stücke hätte reißen müssen.
Nur ist dieser Ort kein schwarzes Loch, da bin ich mir sicher.
Zunächst einmal ist er nämlich bequem: ein Sessel, ein kleiner Tisch, eine halbleere Flasche Foster's Lager, ein Stapel Briefpapier, ein nachfüllbarer Federhalter aus Schildpatt jener Art, wie man ihn in Duty-free-Katalogen von Flugzeugen findet, aber im Traum nicht kaufen würde. Zudem ist es ein Ort, den ich gut kenne: die Bibliothek meiner verstorbenen Tanten in ihrer Wohnung in der 109th Street, Ecke Fifth Avenue, im vierten Stock eines verfallenen Stadthauses mit dem recht unwahrscheinlichen Namen , am gutbürgerlichen Ende vom Central Park. Du bist nie hier gewesen, Mrs. Haven, weil nie jemand herkam - seit der Nixon-Ära haben meine Tanten keine Besucher mehr empfangen. Allerdings will ich mir sicher sein, dass Du Dir diesen Ort genau vorstellen kannst. Er ist ziemlich vollgestopft, doch ist er meine ganze Welt.
Montag, 08:47 Uhr EST
Wäre Noah von Gott beauftragt worden, eine Arche für Konsumgüter statt für Tiere zu bauen - und wäre Noah ein betrunkener Paranoiker gewesen -, hätte seine Arche vermutlich wie diese Wohnung ausgesehen. Das Zimmer, in dem ich sitze, ist sechs mal neun Meter groß, geradezu riesig für Harlemer Verhältnisse: Parkettboden, gotische Erker, die Decke braun und altersbucklig. Verschwommen erinnere ich mich aus Kindertagen an taubenblaue Wände, doch kann ich von meinem Platz aus ihre Farbe nicht erkennen. Und das liegt daran, dass bis auf einen glockenförmigen Umkreis um meinen Sessel - sowie eine Art Tunnel, der sich von einem Zimmer zum anderen schlängelt - jeder Quadratzentimeter dieser Wohnung mit Schuhkartons vollgestellt ist, mit Zeitungsstapeln, Gasbetonsteinen, Schaufensterpuppen, Verpackungschips, Gameboys, Lautsprecheranlagen, Puppenhäusern, Groschenheftchen, Sammeltellern, Kronleuchtern, Sägeböcken, Vergasern, Fahrrädern, Almanachen, Humidoren, Sturmgewehren, verschlissenen Sofas, Tafeln, VHS-Videospielern, Betamax-Videospielern, CD-Spielern, Frisbees, Pyramiden aus abgewetzten Tennisbällen, den Ausgaben eines halben Jahrhunderts Popular Mechanics, Omni, The Wall Street Journal, Amazing Stories, Scientific American, Barley Legal, Juggs und Modern Internment Magazine, Bestellkatalogen, College-Jahrbüchern, Highschool-Jahrbüchern, Betriebsanleitungen für längst nicht mehr hergestellte Produkte sowie mit allem auch nur erdenklichen, von Menschenhand gefertigten Strandgut. Uhren will ich gar nicht erst erwähnen, schließlich reden wir von Tolliver-Besitz: Chronometer jedweder Art und jedweden Modells, mit einem Pendel versehen, mit geöltem, aufgezogenem Federwerk oder summenden Schaltkreisen vermessen derart beharrlich Spanish Harlems Fortgang durch die sogenannte Dimension, dass ich weinen möchte.
Ich bin mir nicht sicher, was Du über das Ableben meiner Tanten gehört hast - eine Weile stand allerhand darüber in den Zeitungen, insbesondere in der Regenbogenpresse -, nun, ein würdevolles Dahinscheiden war ihnen jedenfalls nicht beschieden. Meine Tanten hatten Mühe loszulassen, Mrs. Haven. Und das, wurde mir gesagt, liege in der Familie.
Einen ersten Hinweis darauf, dass mein Vater und ich aus verschiedenen Sternensystemen stammen, erhielt ich als Kind durch einen Witz. Es war im ländlichen Teil des Staates New York während der Hundstage eines makellosen Sommers, der, wie ich mir schon halb eingeredet hatte, niemals zu Ende gehen würde: Ich saß mit meiner Mutter in unserer schwülwarmen, sonnendurchtränkten Küche, knibbelte am Schorf meines linken Ellbogens und nörgelte darüber, wieder zur Schule zu müssen. Orson - er bestand darauf, dass ich ihn nannte, niemals - kam aus seinem Schreibzimmer im Souterrain und grinste aus irgendeinem Grund, den ich nie herausgefunden habe. Er hörte sich mein Geschimpfe an, bis er es schließlich nicht länger ertrug.
«Es gibt da ein Sprichwort der Venusianer, Waldy, von dem du vielleicht etwas lernen kannst.»
Ich schluckte den Köder und stellte die erwartete Frage.
«Auf der Erde mag die Zeit fliegen wie ein Pfeil», der dramatischen Wirkung zuliebe legte er eine Pause ein, «Fliegen aber mögen Bananen.»
Das war's. Er schaute meine Mutter an, dann mich, stieß einen zufriedenen Rülpser aus und verschwand in seinen Keller wie eine Krake, die eine Tintenwolke hinter sich zurücklässt.
Orson hatte einen schrecklichen Sinn für Humor, Mrs. Haven - kein Humor ist so abgeschmackt wie der eines Science-Fiction-Autors -, doch gerade dieser Scherz saugte sich wie eine Zecke an meinem sechsjährigen Verstand fest. Als ich Jahre später herausfand, dass er ihn von den Marx Brothers geklaut hatte, führte ich einen kleinen Freudentanz auf: Damit mussten also die Groucho-Kinder fertigwerden, nicht ich. Trotzdem drängt sich mir heute diese Erinnerung auf, jetzt, da die Zeit für mich gar nicht mehr vergeht, schon gar nicht wie im Flug, und mein Leben dieser Banane gleicht: leicht angeditscht, reglos, weich und matschig, eine träge Masse, von Erinnerungen umschwärmt wie von Fliegen.
Es gab einen Grund, warum mir Orsons Scherz so unter die Haut ging: Ich wusste schon damals, dass die Zeit nicht wie ein Pfeil fliegt. Die Überzeugung, seit Newton sei jeder Physiker nur ein Schwindler oder ein Simpel (oder beides) gewesen, gilt in unserer Familie als ein Dogma, das von Generation zu Generation vererbt wird wie eine Blutrache oder eine Nussallergie. Ich wuchs in dem Wissen auf, dass die Zeit wie ein Bumerang fliegt, wie ein Satellit oder - wenn es denn unbedingt ein Pfeil sein muss - wie der Pfeil einer gutgeölten Wetterfahne. Meine Tanten haben stets behauptet, ich wäre dazu auserkoren, die Tollivers aus dem Souterrain des Vergessens zu führen, wäre derjenige, der ihren spinnerten Ansichten zum Durchbruch verhülfe, der unsere gemeinsamen Obsessionen der Welt nahebrächte: Allein deshalb hatte man mich auf den Namen meines Großonkels getauft. Ich widersetzte mich ihrer Prophezeiung, so lang ich konnte - gut zwanzig Jahre -, musste am Ende aber doch die Kärrnerarbeit für sie erledigen. Was bleibt einem mit einem Namen wie Waldemar auch anderes übrig?
Ob Du es glaubst oder nicht, Mrs. Haven, aber es gab eine Zeit, da klang der Name edel und fremd in meinen Ohren, fast wie Aragorn, Thor oder Ivanhoe. Ich war kaum mehr als ein kniehoher Rotzlöffel, wie Orson sich auszudrücken beliebte, und hielt meine Tanten und meinen Großvater (sogar Orson selbst) für Zauberer oder Halbgötter. Ich wusste nichts über meinen Namenspatron - dafür hatten sie alle gesorgt -, nur, dass er etwas Außergewöhnliches vollbracht hatte. Wenn die Sprache auf ihn kam, senkten die Erwachsenen ihre Stimme, doch wurde sein Name nur selten in den Mund genommen, fast als verlöre er mit jeder Wiederholung an Macht. Ich wuchs in dem Glauben auf, rechtmäßiger Erbe einer großen okkulten Tradition zu sein - einer, von der aber niemand sprach, solange ich noch nicht volljährig geworden war, und ich schwor mir, alles über diesen Großonkel in Erfahrung zu bringen, um meinem mystischen Geburtsanspruch möglichst gerecht zu werden, erzählte jedoch niemandem von diesem Vorhaben, nicht einmal meiner mich abgöttisch liebenden, duldsamen Mutter.
Ich muss schon früh geahnt haben, dass einmal der Tag kommen würde, an dem ich ihr damit Kummer bereitete.
Von meinem jetzigen Platz aus kann ich nicht viel sehen, sitze aber nicht allzu weit weg von den Fenstern, weshalb es mir - wenn ich den Hals recke und an einer vergilbenden Plexiglasbüste von J.W. Dunne vorbeischaue - gelingt, den lichtbesprenkelten Streifen eines Parks auszumachen. Für etwa eine Stunde am Tag haftet dieser Aussicht die Patina einer retuschierten Bilderpostkarte an: durchhängende Weidenäste, dämmrige Asphaltpromenaden, und Nutter's Battery sowie das alte Holzbootshaus summen so...
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