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Vor mir liegt ein Zeitungsartikel: »Tribune de Genève«, 3. Juli, vermutlich aus den 1920er-Jahren, das Datum ist angerissen. Auf einem Foto sind zwei Zelte mit dem typischen verschränkten Gestänge zu sehen, im Hintergrund Wald, davor eine von Menschen belebte Szenerie. »Irokesisches Lager am Ontariosee«, lautet die Legende. Daneben das Porträt eines Häuptlings: »Der Chef Deskaheh, gestorben in Rochester (New York), nachdem er aus Genf zurückgekommen war.« Titel über dem Bildbeitrag: »Die letzten Rothäute«.
Noch ein Artikel, genauer: von Schreibmaschine getippt ein Text, der sich als Übersetzung eines Artikels aus dem Englischen entpuppt: »Democrat Chronicle« am 8. Juli (wieder keine Jahreszahl): Es ist der Bericht über ein Begräbnis. Ich lese etwas von Six Nations und stolpere über einen indianischen Ausdruck, der mir so fremd klingt wie Tomahawk. Oder Habakuk. - »Haudenosaunee«. Der Mann sei nach Genf gereist, um vor dem Völkerbund für die Rechte seiner Völker einzustehen, der Hau-De-No-Sau-Nee des Grand River. Who the hell are the Haudenosaunee?
Der Jagdtrieb hat mich gepackt. Ich beginne, mit Lexikon und Telefon zu arbeiten. Und arbeite mich langsam in den Fall hinein. Haudenosaunee bedeutet: Volk, das ein langes Haus baut. Langhaus-Volk. Das sei die Eigenbezeichnung der Irokesen, die einer gemeinsamen Sprachfamilie angehörten und verschiedene Untergruppen bildeten.
Gibt es Akten des Völkerbundes über diesen angeblichen Besuch? Ich wende mich an die UNO. Dort werde ich weitergeleitet an eine Archivabteilung. Eine Dame empfiehlt mir die Universitätsbibliothek Genf. Dort dauert es nicht lange, bis man mir sagt, dass die Archivalien des Völkerbunds keine Materialien zu den genannten indigenen Völkern enthielten. Aus welchem Land die Leute stammten? Ich weiß es nicht, USA oder Kanada. Ich erwähne den Chief und nenne seinen Namen. Sie antwortet, sie werde zurückrufen. Eine halbe Stunde später erhalte ich den Bescheid, dass man eine Registerkarte mit dem Namen Deskaheh gefunden habe. Unter Verweis auf ein Dossier mit der Signatur Ms var 1/15. »Les six Nations Iroquoises. Lettres et pièces diverses concernant leur défense par le Bureau international pour la défense des indigènes 1918-1925.« Ich könne den Bestand nach Voranmeldung jederzeit einsehen.
Endlich eine Jahreszahl. Und die Aussicht auf Akten.
Er hatte sich im Osten Kanadas als Holzfäller durchgeschlagen und war nach einem Unfall Farmer geworden. Damals, als er noch nicht Deskaheh hieß. Sein bürgerlicher Name war Levi General. Ein biblischer Vorname und ein prosaisch-preußisch klingender Familienname. Ein Kleinbauer mit Familie, mit Vieh im Gatter und einem Haufen Hunde und Katzen, mit Tieren, die ihm genug Fleisch und Milch und Unterhalt zum Leben boten.
Nun, vielleicht ist das Bild vom selbstgenügsamen Bauern schon Heldenstilisierung. Wenn er irgendwelche Fehler hatte, wurde über sie nicht mehr berichtet nach seiner großen Reise über den See. Sollte er je einmal Vieh geklaut oder dem Träger eines Cowboyhutes die Faust ins Gesicht geschlagen haben, so ist jetzt davon nicht mehr die Rede. In einem Nachruf wird er als »irokesischer Staatsmann und Patriot« bezeichnet.
Wir sind im Gebiet des Grand River, das ist ein Fluss im Südwesten Ontarios in Kanada. Die Gegend ist mir nicht vertraut, schrittweise lerne ich sie kennen. Reiseveranstalter bieten dort Kanu-Fahrten an.
Levi General war ein Cayuga. Seine Eltern hatten dem Jungen wohl schon bald erklärt: Cayuga heiße in ihrer Sprache »Guyohkohnyoh«, und gemeint sei: »das Volk des großen Sumpfes«. Es gab andere Irokesenvölker rundum: Die Onondaga, »das Volk der Berge«. Die Seneca, »das Volk des großen Hügels«. Die Oneida, »das Volk des aufrechten Steins«. Die Tuscarora, »Träger von Hanfhemden«. Die Mohawk, »Leute des Feuersteins«.
Karl May war einmal in der Gegend gewesen. Bei der einzigen Reise, die er zu den Rothäuten aus Fleisch und Blut unternommen hatte. Die einzige reale Erfahrung. Den Rest hatte er abgeschrieben oder fantasiert, wie es Schriftsteller üblicherweise tun.
Nachdem er die drei Bände seines Winnetou geschrieben hatte, machte sich Karl May im Jahr 1908 auf die Reise. Mit seiner Frau Klara fuhr er mit der »Großen Kurfürst«, einem Dampfschiff der Norddeutschen Lloyd, durch den Hudson nach Albany und reiste von dort per Automobil über holprige Landstraßen und mühsam zu überwindende Berge bis nach Buffalo am Eriesee. Der Schriftsteller stand begeistert vor den Wassermassen der Niagarafälle, wo er eine donnernde Macht spürte. Erschüttert betrachtete der Romantiker später die Armut der Indianergebiete. Ein Foto, aufgenommen im Reservat der Tuscarora, zeigt ihn vor einem Zelt aus Baumrinden, neben ihm steht ein bärtiger Landarbeiter mit Krempenhut und Hosenträgern - ich wusste nicht, dass Indianer Hosenträger trugen. Vor ihnen stehen zwei schmuddelige Kinder und blicken unsicher in die Kamera.
Das Bild zeigt einen Landarbeiter, wie Levi General einer war, der mit seiner Frau Mary vier Mädchen und fünf Knaben aufzog. Vielleicht waren nicht alle von ihm. Eine Frau konnte bei den Six Nations Kinder von mehreren Männern haben, lese ich in einem ethnologischen Werk. Hauptsache, die Partner blieben eine Zeit lang zusammen. Die Frau sei jedenfalls der Mittelpunkt der Familie gewesen. Levi Generals Vater war noch vor der Jahrhundertwende bei einem mysteriösen Unfall ums Leben gekommen, eine Waffe war im Spiel. Hatte sich ein Schuss gelöst? War es ein Schusswechsel mit tödlichem Ausgang? Es wird nicht berichtet. Der Anlass scheint nicht rühmlich gewesen zu sein.
Man schlug sich durch. Viel Geld brauchte man nicht. Getreide anbauen, Schweine auf die Weide treiben, Kühe melken war ein ehrenwertes Handwerk, das knapp zum Leben reichte. Gelegentlich fuhr er mit dem Kanu hinaus und brachte prächtige Forellen nach Hause. Im Winter war das Überleben schwieriger, die Winter konnten kalt sein.
Dennoch reichte es nicht immer für alles und alle. So suchte auch Levi General wie viele seinesgleichen als Wanderarbeiter nach einem Zusatzverdienst. Manchmal verdingten sich ganze Familien bei der Ernte von Gemüse, Früchten, Tabak. Viele suchten ein Auskommen in den Städten, das war eine Spezialität der indianischen Brüder vom Volk der Mohawk. Sie verkauften dort ihre Muskeln und ihre Begabung, die darin bestand, dass sie ihre Schwindelgefühle unter Kontrolle hatten, wenn sie auf Gerüsten herumkletterten. Und halfen so, Amerikas Hochhäuser hochzuziehen. Die Zeitungen zeigten gerne Fotos von Arbeitern, die hoch über dem Canyon der Stadt auf einem Stahlträger hocken und ihr Pausenbrot verzehren, während unten die Automobile dahinkriechen.
Alles war schwierig, selbst die Heimat zu verlassen. Wenn einer wie Levi General in den Süden wollte, brauchte er Papiere. Denn nahe dem Kerngebiet, in dem die Haudenosaunee siedelten, verlief eine Grenze. Den Norden rechneten die Weißen zum staatlichen Gebilde Kanadas, den Süden zur Konföderation der Staaten von Amerika; die Haudenosaunee-Langhaus-Völker betrachteten sich als von beiden Staaten unabhängig. Zählten sie auch nur rund fünftausend Menschen - ein Vogelschwarm am Himmel des großen Geistes -, so bildeten sie doch ihre eigene Völkergemeinschaft, die Mohawk, Oneida, Seneca, Cayuga, Onondaga und Tuscarora. Sie lebten auf einem grünen Teppich beidseits des Flusses Grand River, rund zehn Kilometer im Quadrat, und hatten sich verschworen in einem Bund, den sie Great League of Peace nannten. Große Friedensgemeinschaft. Den Staatsgebilden der Weißen stellten sie die Konföderation der Six Nations entgegen.
Dauernd entzündeten sich Konflikte an den Rändern. Die weißgesichtigen Nachbarn waren nicht das Problem. Darunter fanden sich gute und weniger gute, wie unter den eigenen Leuten auch. Es gab in der Nachbarschaft christlich gesinnte gute Frauen und böse methodistische Priester. Es gab gute Militärs im Ruhestand, die einst Seite an Seite mit den Indianern gegen andere Weiße gekämpft hatten, und es gab schlechte Händler und üble Bodenspekulanten. Das Problem waren die Behörden. Oft standen Grenzer an den Wegen, die hinüberführten ins US-Staatsterritorium, sie wiesen einfache Leute wie Levi General zurück. Einen amerikanischen Pass hatte einer wie er nicht, einen kanadischen Pass wollte er nicht und erhielt ihn auch nicht. Und einen Pass der Haudenosaunee erkannten die beiden Nachbarstaaten nicht an. Oft musste man mitten auf einer Brücke umkehren. Mithilfe eines Kanus gelangte man manchmal doch ans Ziel.
Der Kleinbauer Levi General und mit ihm viele andere sagten: »Wir sind keine Kanadier. Wir sind allein der britischen Krone unterstellt. Kanada ist später gekommen.« Das war Juristenfutter. Kanada erkannten sie nicht an. Aber vor Kanadas Mutterland Großbritannien hatten sie Respekt. Und dann erzählte Levi General gern die Geschichte vom Irokesen-Chief Joseph Brant, der das heimatliche Land am Grand River als Anerkennung für die Verdienste seines Volkes in den Kriegen Großbritanniens gegen die amerikanischen Sezessionisten erhalten hatte. Von der britischen Krone. Von der Königin. Als Leihgabe. Die Irokesen waren freiwillig hierhergezogen. Das war kein Reservat. Das war ihr Land. Und Levi General fügte an: »Die Six Nations sind nie von einer europäischen Armee besiegt worden!«
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