Schweitzer Fachinformationen
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Kaum in der U-Bahn muss ich aufs Klo. Das war schon immer so. Heinz sieht mich besorgt an. Die U6 ist ihm unsympathisch. Sie riecht nach Kochsalat und angedauten Zwiebeln. Ich halte die Luft an. Der Zettel mit der Adresse vom Kriseninterventionszentrum wartet in meiner Faust darauf, dass ich ihn entknülle. Ich weiß ihn auswendig, aber zur Sicherheit.
Neunter Bezirk. Ich weiß, wo ich raus und mit welcher Tramway ich weiterfahren muss. Ich setze mich auf einen Fensterplatz und starre die Scheibe an, statt durch sie hindurch. Meine zweite Hand umklammert die Hundeleine. Kein Sitzplatz in der Tramway. Schubsen, Husten, Drängeln, immer dasselbe. Als wären dort immer dieselben Leute, seit Jahrzehnten, wenn ich Tramway fahre. Zu viele Menschen jedes Mal. Heinz senkt den Kopf zwischen die Hosenbeine.
Bei der nächsten Haltestelle muss ich raus. Auf einmal kann ich mich nicht mehr bewegen, nur noch mit den Augen rollen. Ich will um Hilfe schreien. Mein Herz rast. Atme ich noch? Festgeklebt, eingefroren, angewachsen. Panik. Bei der Endstation rempelt mich jemand an, die Starre löst sich, ich spüre meine Atmung wieder.
Schottentor. Hier wollte ich gar nicht hin. Die Sonne scheint stechend, wie vor einem Gewitter. Es wird über den Ring gegangen. Menschen demonstrieren für ein neues Gesetz gegen Tierquälerei, tragen selbst gebastelte Schilder, Transparente. Viele Hunde sind dabei. Es wird gekläfft und trotzig geschaut. Von Mensch wie Tier. Heinz wittert das Rudel. Er zieht mich in die Menge hinein. Sprechchöre. Ich verstehe nur »Mör-der«. Wir bewegen uns im Kreis mit Transparenten auf Beinen und Mädchen mit Spaghetti-Trägerleibchen. Ihre Tiere gehen ruhig neben ihnen her. Zu meiner Rechten ein Schäferhund, hinter uns zwei drahtige Gebilde mit großen Augen, nicht angeleint. Heinz grinst sie an. Sie machen fast synchron einen Sprung zurück. Hundeballett. Ich versuche, am Rand zu bleiben. Ein paar dicke alte Leute drücken mich in die Mitte, Heinz verschwindet, die Leine spannt sich. Ohne hätte er mich längst verloren. Ich stolpere. Hinter mir sagt eine Stimme: »Du, pass auf.« Die Leine hängt durch, Heinz ist wieder bei Knie. Von unten Schweißwärme, von hinten wieder die Stimme: »Du, geh weiter!« Ich drehe mich um. Ein altersloser Bierfahnenträger mit Augen wie ein frisch geborenes Kalb. Ob er weiß, warum er da ist? Er hört nicht auf zu atmen, ich drehe mich weg und mein Nacken wird feucht. Mit seinem Oberkörper presst er mich in die weiche Frau vor mir, in dunkle Haare, die an ihrer Schulter kleben und nach Marillen riechen oder Pfirsichen. Ein einzelnes Haar hängt auf ihrem Leibchen. Mein Herz klopft laut. Ich befreie meine Hand aus der Enge zwischen ihr und mir und nehme ihr einzelnes Haar zwischen zwei Finger, ohne sie zu berühren. Dann stecke ich die Hand in die Jackentasche, drücke das Haar in ein Taschentuch darin. Jetzt muss ich hier raus. Von hinten ein Schubs, der mich wieder in die weiche Frau drückt. Ich bekomme keine Luft mehr. Heinz zieht schon wieder. Die weiche Frau bleibt stehen und fährt herum. Ihr Gesicht ist Funkeln, Zucken, Unruhe. Augenbrauen, die über der Nase fast zusammenwachsen. Frida Kahlo ohne Schmuck. Ich will mich entschuldigen, sage: »Ich .« Die Leine zieht und zieht, der Griff rutscht mir aus der Hand. Frida Kahlo kneift die Augen zusammen. Ich rufe: »Heinz!« Der Hund ist weg, mir wird schlecht.
Ich kann mich drehen, ohne mich zu bewegen, der Himmel ist weiß wie im Winter, schräg weisen die Bäume zu ihm hinauf, Menschen und Hunde mit verzogenen Gesichtern schauen auf mich herunter. Sie sollen gehen, mich in Ruhe lassen. Es riecht nach Leder und nach Klo. »Geht's wieder?«, fragt Frida Kahlo von oben, mit der Hand klatscht sie auf meine Wangen, einmal rechts, einmal links. Zwischen ihren Trägern wölbt es sich, sie hat keinen BH an. Die Hundeschnauze an meiner Hand erkenne ich unter Tausenden. Heinz schleckt mich zurück ins Leben. Die Sprechblase, die aus meinem Mund kommt, ist leer. Frida Kahlo sagt, dass ich kurz bewusstlos war, dass sie Krankenschwester ist und ich keine Angst zu haben brauche. Sie streichelt ein wuscheliges Tier mit offenem Maul, das mich ansieht und dabei metronomartig mit dem Schwanz wedelt. Sie packt mich am Arm und zieht meinen Oberkörper hoch, bis ich sitze. Dann drückt sie mir eine Wasserflasche an den Mund. Ich mache ihn auf. Weil sie Krankenschwester ist und ich keine Angst zu haben brauche. Das Wasser hat dieselbe Temperatur wie mein Mund. Ich schlucke. Ihre nachtfarbenen Augen sind auf meine Lippen gerichtet. Jetzt sehe ich, dass sie doch Schmuck trägt: ein Piercing am rechten Ohr. Ich drücke mich mit einer Hand vom Boden ab und stehe auf. Ich bin größer als sie, aber nicht viel. Mir ist noch immer schwindelig. Heinz bedrängt mich. Die Leine hat sich um seine Vorderpfoten gewickelt; er ist gefesselt und kann nicht mehr gehen. Dümmlich humpelt er von einer Pfote auf die andere. Dabei klappert der Griff der Leine auf dem Asphalt.
»Ist das Ihrer?«, fragt Frida Kahlo. Ich nicke und bücke mich, um Heinz zu befreien. »Er heißt Heinz.« Das wuschelige Tier schnuppert an uns und wedelt weiter. Heinz schnuppert und wedelt zurück. Der kalbsäugige Bierfahnenträger ist nicht mehr da. Nur Frida Kahlo sieht mich noch an. Sie lächelt unter ihren Augenbrauen hervor. Miteinander weitergehen? Nebeneinander, vielleicht berühren, vielleicht gemeinsam etwas trinken. Ich erkenne am Ende des Tages den Anfang von etwas. Ich gebe ihr die Hand und muss husten. »Ich. Muss. Jetzt. Sofort. Hier. Raus«, sage ich zwischen Einatmen und Aushusten. Aus ihrem Lächeln wird ein Strich. Jetzt hat sie ein Parallelgesicht, bestehend aus einer Linie Augenbrauen und einer Linie Mund. Von irgendwo nimmt sie einen Stift und schreibt etwas auf das Etikett der Flasche. Sie sagt: »Passen Sie auf sich auf!«, und steckt mir die Flasche zu. Ich lasse mich weiterziehen von Heinz. Im Gehen wende ich mich noch einmal Frida Kahlo zu und hebe die Wasserflasche zum Gruß. Sie hat sich bereits umgedreht. Der Fluss an Tierfreunden saugt sie ein und schwappt über sie hinweg.
Graue Wolken hängen auf meinen Ärmeln, auf meiner Hose, ich klopfe sie in die Luft zurück. Diffuse Schmerzen vom Sturz in Hüfte und Beinen. Der Hustenreiz lässt nach. Heinz blinzelt und gähnt. Ich schließe meine Faust um das Taschentuch, in das ich ihr Haar eingewickelt habe. Frida soll in Ruhe weiterleben können.
Kriseninterventionszentrum? Ich kann dort jetzt nicht hingehen, fühle mich nicht reif für noch mehr Kontakt mit Fremden. So durcheinander, wie ich bin, kann ich nicht zuhören und nichts erklären. Mein Puls rast noch immer. Ich fahre morgen hin, wenn ich mich beruhigt habe. Oder übermorgen. Oder irgendwann. Ich rieche Stress unter meiner Jacke.
In der U-Bahn sind wir wieder normale Passagiere. Ich nicke ein und träume von Kälberaugen. Im Stiegenhaus fällt mir der Nachbar wieder ein. Wie er gegangen ist. Wie er sich aufgeregt hat. Wie er Heinz getreten hat. Ich versuche mich zu erinnern, ob mein Hund ihm etwas getan hat. Vielleicht ist er ja als Kind gebissen worden? Oder hasst er alle Tiere? Solche wie den Nachbar gibt es überall. Ich kenne sie. Sie werfen vor, sie tragen nach. Sie machen ein schlechtes Gewissen. Sie verbieten anderen zu reden, zu denken, zu atmen. Sie wissen alles und alles besser, sie sind lauter und sie treten als Erste.
Daheim hänge ich meine Jacke auf. Sie stinkt nach allem möglichen, erinnert an die Demo, Übelkeit steigt in mir auf. Ich werde sie waschen müssen. In der Tasche das Haar von Frida Kahlo im Taschentuch. Ich wickle es aus, versuche an ihm zu riechen. Leider ohne Erfolg.
Ich habe ein paar Büschel von Haaren in verschiedenen Längen und Farben, gekrauste Schamhaare und Achselhaare, nur von Frauen. Sie sind in Glasphiolen mit Namenskärtchen daran, aufbewahrt in einer kleinen schwarz lackierten Holztruhe. Gesammelt in früherer Zeit. Einer aufregenden Zeit, in der Frauen eine Rolle spielten. Alles war ein Spiel. Aber damals wusste ich Schwarz von Weiß zu unterscheiden. Heute bewege ich mich innerhalb von Grautönen. Die Zustände machen mich zum Spielball, ich rolle übers Feld, statt zu springen oder zu ziehen.
»Du Perversling«, höre ich Sabine 1999 sagen. Sie lachte. Mit gespreizten Beinen lag sie vor mir auf ihrem Bett und ließ mich mit einer Nagelschere eine Locke ihrer Schamhaare abschneiden. »Macht dich das geil? Oder verkaufst du die dann teuer?«
Ich würde kein einziges dieser Haare je verkaufen. Sie sind Teil meiner Welt. Ohne sie wäre meine Erinnerung nur eine beliebige Variante, die Vergangenheit zu deuten, ein subjektiver Eindruck, unbewiesen, ungültig. Die Haare der Frauen sind der Anker zu ihrer Existenz in meinem Leben. Sie helfen mir, Träume von Realität zu unterscheiden.
Das einzelne lange Haar von Frida ist schwer zu archivieren. Bis ich weiß, wie ich es aufheben kann, klebe ich es im Badezimmer an die Fliesen neben dem Waschbecken.
In der anderen Tasche der Jacke die Wasserflasche, auf dem Etikett...
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