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Litauen, 2004
Im Frühjahr 2004 reiste eine ältere Frau von ihrer Heimatinsel Elba in die Republik Litauen und benutzte dafür drei verschiedene Pässe.
Für ihren Flug von Elba nach Rom nahm sie ein abgegriffenes norwegisches Dokument, das ihr den Vornamen Greta zuwies - den Namen, auf den sie seit ihrer Kindheit hörte. Auf der Strecke von Rom nach Berlin war sie - sofern es irgendjemanden interessierte - eine Bürgerin des Staates Israel mit einem ganz anderen Vor- und Nachnamen. Auf dem letzten Abschnitt der Reise, von Berlin nach Vilnius, benutzte sie einen neuen, druckfrischen litauischen Pass, der sie als Zophia Jenseniene auswies.
Es war eher Gewohnheit als die wirkliche Notwendigkeit, ihre Spuren zu verwischen. Die Frau war siebenundsiebzig Jahre alt und übte jene Art gefährlicher Tätigkeiten, die solcherlei Vorsichtsmaßnahmen erforderten, längst nicht mehr aus. Sie war jetzt in einem Alter, in dem nur wenige ihrer Mitreisenden sie beachteten. Wer sie bemerkt hätte, dem wären möglicherweise ihre Augen aufgefallen, die einen effektvollen Grünton besaßen, einen Hauch zentralasiatische Steppe. Sie hatte hohe, kantige Wangenknochen, die ihrem Gesicht etwas Katzenhaftes verliehen. Ihr weißes, dünner werdendes Haar war kurz geschnitten. Sie trug teure Funktionskleidung, wie sie bei Skifahrern und Bergsteigerinnen beliebt war.
Am Flughafen in Berlin trank Greta einen Tee - auf die englische Art mit Milch - und aß Schokolade und Salzmandeln. Sie kaufte sich eine Postkarte vom Brandenburger Tor und schrieb eine Nachricht an ihren ältesten Sohn, die mit den Worten begann: Grüße aus der Höhle des faschistischen Löwen!
Als sie am Flughafen von Vilnius ein Taxi nahm, öffnete ihr der Fahrer zwar den Kofferraum, half ihr aber nicht mit dem Gepäck. Sie setzte sich auf die Rückbank, und sie fuhren in Richtung des Rudninkai-Waldes im Süden. Die Landschaft ringsumher war flach und schön. Es gab viele Störche. Als sie an Zagarine vorbeifuhren, merkte sie, dass das Taxameter bereits das Doppelte von dem anzeigte, was sie vereinbart hatten.
»Was ist mit dem Ding los?«, fragte sie.
»Touristensteuer.«
»Ich bin keine Touristin. Ich komme aus Samogitia.«
Der Fahrer glaubte ihr nicht. Die Kleidung der Frau und ihre Art zu sprechen - mit vielen Pausen, in denen sie nach Worten suchte - ließen ihn vermuten, dass sie eine reiche litauische Amerikanerin war. Wahrscheinlich hatte sie bisher in Chicago gelebt und besuchte ihr sagenumwobenes Herkunftsland zum ersten Mal. Bestimmt war die Enttäuschung unvermeidlich.
»Ich zahle das, was wir ausgemacht haben«, sagte die alte Frau. »Nicht mehr.« Sie hielten an einer provisorisch aufgestellten Ampel auf der letzten intakten Straße, bevor es in den tiefen Wald ging.
Der Fahrer zuckte mit den Schultern und erklärte, diese neuen Leute (er meinte die Regierung) zögen einem das Geld aus der Tasche und ihm bliebe nichts anderes übrig, als sich an die Gesetze zu halten. Da sah er, dass die Frau eine Hand an seine Rückenlehne gelegt hatte und sich nach vorne beugte. Er drehte sich widerstrebend um, um sie anzusehen, den Motor im Leerlauf.
Sie näherte ihr Gesicht dem seinen und legte alle Kraft in ihren Blick. »Draugeli«, sagte sie. »Mein junger Freund. Glaubst du, ich lasse mich von Leuten wie dir bescheißen?«
Er stellte das Taxameter ab.
Ein Freund ihres Sohnes hatte Greta von dem Denkmal erzählt und ihr den Weg dorthin beschrieben. Sie sah nichts, was ihr bekannt vorkam - ohne seine Hinweise hätte sie den Ort niemals wiedergefunden. Als sie das letzte Mal hier gewesen war, hatte es in diesem Teil des Waldes noch keine Straßen gegeben.
Der junge Mann hatte sie vorgewarnt, deshalb hätte sie nicht überrascht sein dürfen, als sie den steilen Hang hinaufgestiegen war und die Marmorplatte sah. Es gab keine logische Erklärung für das nagende Gefühl in ihrem Magen.
Auf der Platte stand: Hier wurden im Sommer 1944 zwei Mädchen begraben, Mitglieder der bekannten Partisanengruppe Drei Schwestern. Als litauische Patriotinnen starben sie nach einem langen Feuergefecht mit der deutschen SS.
Greta lief ein wenig umher, wobei sie sich gegen den frischen Wind stemmen musste, der über den Hügel fegte. Dann setzte sie sich umständlich auf einen Baumstumpf. Immer wieder blickte sie auf die in den Marmor gravierten Worte, als hätte sie sie beim ersten Mal falsch gelesen. Auf dem Parkplatz an dem frisch angelegten Waldweg saß wohl der Taxifahrer und rauchte verdrießlich eine Zigarette. Vielleicht war er aber auch empört weggefahren und hatte sie zurückgelassen.
Sie versuchte, sich zusammenzureißen, aber irgendwann kamen ihr die Tränen. Was macht das schon?, sagte sie sich. Wer wird sonst für sie weinen? Aber nach einer Weile wallte Empörung in ihr auf. Alles an diesem Denkmal war falsch.
An einem Computer in der Business-Suite ihres Hotels suchte sie nach der zuständigen Behörde. Sie erinnerte sich an das Logo in einer Ecke der Marmorplatte, neben den zwölf Sternen der Europaflagge. Sie navigierte langsam durch die Seiten, kämpfte damit, die litauischen Sätze zu entziffern. Schließlich fand sie eine mögliche Kontaktperson, eine gewisse Indre Zukauskiene, und tippte eine Nachricht an sie.
Niemand antwortete. Zwei Tage später schrieb Greta eine weitere Nachricht, dann rief sie bei der Behörde an. Man bat sie, am Apparat zu bleiben, dann wurde die Verbindung getrennt, während sie wartete. Schließlich sagte man ihr, sie sei bei der falschen Abteilung gelandet. Eine Indre Zukauskiene habe nie hier gearbeitet. Jemand erklärte ihr, sie müsse ein Formular ausfüllen, anstatt eine E-Mail zu schreiben. Dann hörte sie, dass Frau Zukauskiene im Mutterschaftsurlaub sei und keine Nachrichten entgegennehmen könne.
Am Ende ihrer Woche in Litauen erhielt Greta einen Anruf von Indre Zukauskiene. Die junge Frau war wirklich im Mutterschaftsurlaub gewesen. Die Nachrichten seien erst jetzt weitergeleitet worden, und ob Frau Jenseniene zu ihr nach Vilnius kommen könne?
Sie trafen sich in einem Café in der Nähe der Burg. Indre Zukauskiene bestellte Kaffee und Gebäck sowie Tee mit Milch für die ungewöhnlich energische alte Dame.
Der Kellner brachte das Gewünschte. Er schenkte der jungen Frau eine Menge Aufmerksamkeit, und Greta musste lächeln. »Sie wirken zu jung für eine Mutter. Ich vergesse immer, dass die Leute in diesem Land immer noch früh heiraten und Kinder bekommen. Das ist gut. Ich habe damit lange gewartet und hatte dann Mühe, mit meinen Jungs mitzuhalten.«
»Sie sagten, Sie seien in Litauen aufgewachsen und dann nach Skandinavien ausgewandert?«
»Die Geschichte ist etwas länger.« Greta nahm einen Schluck Tee und konnte nicht anders, als das Gesicht zu verziehen. Er war nur lauwarm, und die Milch war mit der Aufschäumdüse der Kaffeemaschine erhitzt worden. »Danke, dass Sie sich mit mir getroffen haben. Ich möchte nicht, dass Sie denken, ich sei nicht dankbar für das Denkmal. Es ist gut, dass die Leute sich an das erinnern wollen, was damals passiert ist. Aber die Details müssen stimmen.«
»Auf jeden Fall«, erwiderte Indre. »Würden Sie mir sagen, was Ihrer Meinung nach falsch ist? Ich werde dann ausführlich Bericht erstatten.«
»Zum einen waren die Mädchen zwar tatsächlich litauische Patriotinnen, wie dort geschrieben steht, aber sie waren auch Jüdinnen, und das ist zu wichtig, um weggelassen zu werden. Zum anderen hat es kein langes Feuergefecht gegeben. Das war leider schon nach wenigen Sekunden vorbei. Und die Männer waren nicht von der SS, sondern von der Wehrmacht, der gewöhnlichen deutschen Armee. Das ist auch ein wichtiges Detail.«
Die junge Frau war zu professionell, um ihre Überraschung zu zeigen. Eine Falte erschien zwischen ihren Brauen, während sie in ihren Spiralblock schrieb. »Wie können Sie sich sicher sein, dass die Mädchen Jüdinnen waren? Es gab zu der Zeit zwar Aktivitäten einer jüdischen Partisanengruppe im Wald, aber wir glauben, dass die drei Schwestern Litauerinnen waren.«
»Meine Liebe, es war möglich, beides zugleich zu sein. Das ist etwas, das einige von Ihnen anscheinend vergessen haben. Ich weiß, dass sie Jüdinnen waren, weil ich mit ihnen aufgewachsen bin. Sie hießen Vita und Riva. Und wer auch immer ihre Gräber gefunden hat, muss gewusst haben, dass sie Jüdinnen waren, weil ich einen Davidstern in die Gewehre geritzt hatte, mit denen ich den Ort markiert habe. In den hölzernen Teil, Sie wissen schon . Mir fällt das Wort nicht mehr ein.«
»Den Kolben? Den Gewehrkolben? Da haben Sie . etwas hineingeritzt?«
»Ich hatte nicht viel Zeit, aber ich habe sechszackige Sterne in beide Kolben geritzt - mit einem Messer. Das hatte ich einem deutschen Soldaten abgenommen und ihn damit erstochen. Die Klinge hatte eine Kerbe an der Stelle, wo sie auf sein Schlüsselbein gestoßen war, aber die Spitze war unbeschadet.«
Die junge Frau schob ihren Teller mit Apfelkuchen fort. Vor einer Stunde erst hatte sie ihrem kleinen Sohn ein Lied vorgesungen über ein Eichhörnchen mit einem roten Hut.
Greta durchforstete ihre Handtasche und zog eine Faltkarte von Litauen hervor sowie eine Ledermappe, in der ein paar lose Dokumente steckten. Einige davon waren handgeschriebene Briefe. Sie breitete eine weiße Papierserviette auf dem Tisch aus und legte eine Schwarz-Weiß-Fotografie darauf.
Drei lächelnde Mädchen. In der Mitte stand unverkennbar die junge Greta. Ihre Arme...
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