Zweites Kapitel
Inhaltsverzeichnis Nunmehr sieht sich der Biograph vor einer Schwierigkeit, die er offen bekennt, da Bekennen besser ist denn Bemänteln. Bis hierher nämlich haben es ihm bei der Schilderung von Orlandos Leben Urkunden, und zwar persönliche wie allgemein geschichtliche, ermöglicht, die erste Pflicht eines Biographen zu erfüllen: die Pflicht nämlich, mit hartem Bemühen, ohne nach rechts oder links zu schauen, in die untilgbaren Fußstapfen der Wahrheit zu treten; sich durch Blumen nicht verlocken und durch Schatten nicht schrecken zu lassen; mit sorgsamem Bedacht voran und immer voran zu schreiten, bis wir, plumps, ins Grab fallen und auf den Leichenstein uns zu Häupten >Finis< schreiben. Wir aber kommen hier an einen Vorfall, der mitten auf unserem Wege liegt, so richtig quer darüber; so daß wir ihn nicht unbeachtet lassen können. Dennoch ist er dunkel, geheimnisvoll und nicht durch Urkunden nachgewiesen; so daß es keine Erklärung dafür gibt. Bände könnten geschrieben werden, um ihn zu deuten; ganze Religionssysteme könnte man auf seiner Ausdeutung aufbauen. Unsere schlichte Pflicht ist es, die Tatsachen anzuführen, soweit sie bekannt sind, und den Leser daraus machen zu lassen, was er will.
Im Sommer nach jenem verhängnisvollen Winter, der den Großen Frost, die Überschwemmung, den Tod vieler Tausende und den gänzlichen Zusammenbruch von Orlandos Hoffnungen brachte - denn er wurde vom Hofe verbannt; auf ihm lastete die Ungnade der mächtigsten Edlen seines Zeitalters; das irische Haus der Desmonds war mit Recht aufs höchste aufgebracht; und der König hatte gerade genug Ärger mit den Iren, um sich für diesen neuen Verdruß zu bedanken - in jenem Sommer zog sich Orlando in sein großes Haus auf dem Lande zurück und lebte dort in völliger Einsamkeit. An einem Junimorgen - es war ein Samstag und der Achtzehnte des Monats - stand er um die gewohnte Zeit nicht auf, und als sein Reitknecht ihn wecken wollte, fand er seinen Herrn in tiefem Schlaf. Und es war nicht möglich, ihn zu ermuntern. Er lag wie in einem Starrkrampf, ohne wahrnehmbare Atmung: und obwohl man Hunde unter seinem Fenster bellen ließ, in seinem Zimmer beständig Zimbeln, Trommeln und Kastagnetten schlug, einen Stechginsterbusch unter sein Kopfkissen legte und ihm Senfpflaster unter die Füße klebte, erwachte er nicht, noch nahm er Nahrung zu sich oder gab überhaupt irgendein Lebenszeichen von sich, sieben volle Tage lang. Am achten Tage aber erwachte er zur gewohnten Zeit (das heißt pünktlich um ein Viertel vor acht) und warf den ganzen Schwarm jaulender Weiber und dörflicher Wahrsager aus seinem Zimmer, was ja durchaus natürlich war. Seltsam dagegen war, daß er offenbar von dem ganzen Starrkrampf nichts wußte, sondern sich ankleidete und sein Pferd holen ließ, als wäre er von einem gewöhnlichen Nachtschlummer erwacht. Und doch schloß man, daß sich in den Kammern seines Hirns irgendeine Veränderung vollzogen haben müsse: denn er betrug sich zwar völlig vernünftig und schien in seinem ganzen Gebaren ernsthafter und besonnener als früher, aber er hatte anscheinend keine lückenlose Erinnerung an sein bisheriges Leben. Wenn die Leute vom Großen Frost oder vom Schlittschuhlaufen oder vom Fest auf dem Eise sprachen, hörte er wohl zu, gab aber durch kein Zeichen zu erkennen, daß er alles das miterlebt hatte; nur strich er sich mit der Hand über die Stirn, als wollte er eine Wolke wegwischen. Wenn man sich über die Ereignisse der letzten sechs Monate unterhielt, schien er nicht so sehr bekümmert als vielmehr verwirrt; man hätte meinen können, ihn plagten verschwommene Erinnerungen an eine längst vergangene Zeit, oder er versuchte sich auf Geschichten zu besinnen, die ihm ein anderer erzählt hatte. Man beobachtete, daß er, wenn man Rußland erwähnte oder Prinzessinnen oder Schiffe, in ein düsteres und mißgestimmtes Sinnen verfiel; dann stand er auf und ging ans Fenster, oder er rief einen der Hunde zu sich, oder er nahm ein Messer und schnitzelte an einem Stück Zedernholz. Aber die Ärzte waren damals kaum klüger als heute; sie verordneten Ruhe und Bewegung, Hungernlassen und kräftige Ernährung, Geselligkeit und Einsamkeit; sie empfahlen ihm, den ganzen Tag im Bett zu liegen und zwischen Frühstück und Hauptmahlzeit vierzig Meilen zu reiten; sie ließen ihn die üblichen Beruhigungsmittel und Reizmittel schlucken, je nach dem Walten ihrer Phantasie verziert mit Extrakten aus Molchschleim beim Aufstehen und Auszügen aus Pfauengalle beim Schlafengehen. Nachdem sie alles das vollbracht hatten, überließen sie ihn sich selbst und äußerten die Ansicht, daß er eine Woche lang geschlafen habe.
Aber wenn es Schlaf war, so vermögen wir kaum die Frage zurückzudrängen: was ist denn nun Art und Sinn eines solchen Schlafes? Ist er Heilmaßnahme der Natur - ein Starrzustand, dazu bestimmt, die quälendsten Erinnerungen, Ereignisse, die das ganze Leben verkrüppeln und zum Kümmern bringen können, mit einer dunklen Schwinge zu streifen, ihnen so alles Herbe und Harte zu nehmen und sie - auch die schlimmsten und häßlichsten - mit Glanz und Glut zu übergolden? Muß von Zeit zu Zeit auf das lärmende Wirrsal des Lebens der Finger des Todes gelegt werden, weil es uns sonst in Fetzen zerreißen würde? Ist es so um uns bestellt, daß wir den Tod täglich in kleinen zugemessenen Mengen nehmen müssen, weil wir sonst mit dem Geschäft des Lebens nicht zurechtkämen? Und: was für seltsame Kräfte sind das, die in unser geheimstes Tun eindringen und unsere am ängstlichsten gehüteten Besitztümer verwandeln, ohne daß wir es wollen? War Orlando, erschöpft durch das Höchstmaß des Leidens, für eine Woche gestorben und dann wieder zum Leben erwacht? Und wenn es so war: von welcher Art ist dann der Tod, und von welcher Art ist das Leben? Wir haben wohl über eine halbe Stunde auf eine Beantwortung dieser Fragen gewartet, und es ist keine erfolgt; fahren wir also nun mit unserem Bericht fort.
Von da an ergab sich Orlando einem Leben der äußersten Einsamkeit. Die Gründe dafür waren seine Ungnade bei Hofe und die Heftigkeit seines Kummers; aber das waren nicht die einzigen Gründe. Denn er unternahm nichts, um sich bei Hofe zu rechtfertigen, und er lud sich selten Besuch ein, obwohl er viele Freunde hatte, die ihn mit Freuden besucht hätten. So schien es denn, als ob das Alleinsein im großen Hause seiner Väter seiner Stimmung entsprach. Freiwillig hatte er die Einsamkeit gewählt. Womit er seine Tage verbrachte, wußte niemand recht zu sagen. Die Dienerschaft (er behielt den ganzen Troß in seinem Dienst, wenn auch die Arbeit der Leute zum großen Teil darin bestand, daß sie leere Zimmer säuberten und Bettdecken glätteten, unter denen niemals jemand schlief) - die Dienerschaft beobachtete oft, wenn sie an dunklen Abenden bei Kuchen und Ale saß, ein Licht, das durch die Galerien, durch die Bankettsäle, die Treppen hinan und in die Schlafkammern sich bewegte; dann wußten die Leute, daß ihr Herr einsam durch das Haus wanderte. Niemand wagte es, ihm zu folgen, denn in dem Haus ging eine große Anzahl mannigfacher Gespenster um, und bei seiner riesigen Ausdehnung konnte man leicht irgendeine versteckte Treppe hinabstürzen oder eine Tür öffnen, die sich, wenn der Wind sie zuschlug, für ewig hinter einem schloß - Unfälle, die sich durchaus nicht selten begaben, wie die häufige Entdeckung von Menschen- und Tiergerippen in qualvoll verkrümmten Stellungen bewies. Schließlich war dann das Licht nicht mehr zu sehen, und Mrs. Grimsditch, die Wirtschafterin, sagte zu Mr. Dupper, dem Kaplan, sie hoffe, daß Seiner Lordschaft nicht irgendein schlimmer Unfall zugestoßen sei. Worauf Mr. Dupper die Ansicht äußerte, daß Seine Lordschaft ohne Zweifel an den Gräbern der Ahnen in der Kapelle, die eine halbe Meile nach Süden im Billiard Table Court stand, auf den Knien liege. Denn er müsse befürchten, sagte Mr. Dupper, daß Seiner Lordschaft Gewissen mit Sünden belastet sei; worauf Mrs. Grimsditch mit einiger Schärfe erwiderte, dies sei bei uns Menschen zumeist der Fall; und Mrs. Stewkley und Mrs. Field und die alte Amme Carpenter erhoben ihre Stimmen im Chor zur Lobpreisung Seiner Lordschaft; und die Reitknechte und die Köche und die Lakaien schworen tausend Eide, daß es ein wahrer Jammer sei, wenn ein so trefflicher Edelmann seine Tage im Hause vertrauerte, statt den Fuchs zu hetzen und den Hirsch zu jagen; und sogar die kleinen Waschmädchen und Scheuermägde, Judy und Faith und wie sie sonst hießen, die Kannen und Kuchen herumreichten, bezeugten piepsend und schnatternd die Edelmannstugenden Seiner Lordschaft: denn nirgendwo mochte man einen freundlicheren Herrn finden noch einen, der freigebiger war mit jenen kleinen Silberstücken, für die man sich eine Bandschleife kaufen oder eine Blume ins Haar stecken kann; und sogar die Mohrin, aus der man eine Christenfrau namens Grace Robinson gemacht hatte, war mit ihnen allen der Meinung, daß Seine Lordschaft ein hübscher, netter, liebenswerter Herr sei: das heißt, sie sagte das auf die einzige Art, mit der sie sich ausdrücken konnte, nämlich indem sie mit einem breiten Grinsen alle ihre Zähne auf einmal zeigte. Kurz, alle seine Diener und Dienerinnen hielten Orlando in hoher Achtung und verwünschten die fremdländische Prinzessin (die sie freilich mit einem weit häßlicheren Namen benannten), weil sie ihn in einen so traurigen Zustand gebracht hatte.
Obwohl nun freilich Mr. Duppers Meinung, daß Seine Lordschaft wohlbehalten inmitten der Gräber weile, durch Feigheit oder Liebe zum heißen Ale und durch die Abneigung gegen das Suchengehen veranlaßt war, so ist es doch sehr wohl möglich, daß Mr. Dupper recht hatte. Denn Orlando fand jetzt eine sonderbare Lust in Gedanken an Tod und Verwesung; und wenn er...