Schweitzer Fachinformationen
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Die Frau geht unter. Sie steht in einem Glastank, der so schmal ist, dass ihre Schultern das Glas beinahe berühren. Ihre Haare und ihr Kleid sind lang, wallend und weiß. Die nackten Füße sind bereits unter Wasser, die Knöchel umspielt vom Saum ihres dünnen Kleids. Loretta hat gehört, dass es sich um Wasser aus dem Kanal handelt, aber das ist vermutlich nur ein Gerücht. Andererseits könnte es genauso gut stimmen, denkt sie, als sie es nun mit eigenen Augen sieht.
Ein kleines Metallschild steht auf den Steinplatten vor dem Tank. Darin eingraviert ist mit einer geschwungenen schwarzen Schrift ein einziges Wort: affogando.
»Was bedeutet affogando?«, fragt eine amerikanische Teenagerin, die dicht neben Loretta auf den Stufen der Piazza steht, ihre Mutter. Sie spricht das Wort falsch aus.
»Keine Ahnung.« Der Atem der Mutter dampft.
Loretta räuspert sich. »Es bedeutet so viel wie >im Begriff sein, zu ertrinken<. Sie sagt uns, dass sie untergeht.«
»Ah.« Die Mutter nickt. »Tun wir das nicht alle?«
Die Teenagerin dreht der Performance-Künstlerin und der Basilica di San Marco den Rücken zu, reckt das Handy in die Luft und schürzt ihre prallen, glänzenden Lippen. Ihre dick nachgestrichelten Augenbrauen wandern in die Höhe. Die Mutter kopiert die Pose. Das schmollende Duo ist umgeben von Grau: den grauen Steinen des Bodens, der Gebäude und Bogengänge, den grauen Wolken über ihnen.
Alberto stößt Loretta in die Rippen. »Sollen wir auch ein Foto machen?«, fragt er auf Italienisch.
»Wieso?«
»Keine Ahnung . vielleicht weil Weihnachten ist. Wieso nicht?« Er lächelt.
Sie ignoriert seine Bitte und deutet mit dem Kinn auf die Künstlerin. »Sieh nur, sie friert. Ihre Hände zittern.«
Es ist einer der kältesten Weihnachtstage seit Beginn der Wetteraufzeichnungen.
»Sie erkennt dich«, sagt Alberto.
Loretta ist daran gewöhnt. Als Cover-Model der Vogue und Gast in zu vielen TV-Shows, um sie alle aufzuzählen, wird sie immer erkannt. Doch erkennt die Künstlerin sie, oder erinnert sie sich an sie? Das ist es, was sie in Wirklichkeit wissen möchte.
Während sie darüber nachdenkt, gleiten Lorettas Finger über ein kurzes, borstiges Haar an ihrem Hals. Sie flucht innerlich. Obwohl sie heute Morgen ein halbes Dutzend störende Härchen vor dem Vergrößerungsspiegel ihrer Frisierkommode ausgezupft hat, kündigt sich hier bereits ein neues an und ruft ihr vor Augen, dass sie jetzt alt ist. Sie zwickt das Haar zwischen Daumen- und Zeigefingernagel ein und zieht ein paarmal fest daran, aber es bleibt hartnäckig an Ort und Stelle.
Albertos lautes Atmen nervt sie. Sogar hier, auf der überfüllten Piazza, kann sie dem Geräusch seines flachen, keuchenden Atems nicht entkommen. Wie sehr sie sich wünscht, dass er mit den Zigaretten aufhören würde! Sie dreht sich zu ihm um und schaut ihn an. Er ist einen Kopf kleiner als sie und trägt einen schwarzen Hut, der seine immer größer werdende Glatze verbirgt. Die Hände hat er tief in den Taschen seines Wollmantels vergraben. Sein Gesicht wirkt müde, seine Haut ist fleckig und gelblich.
Er begegnet ihrem Blick. »Andiamo, cara?« Die Wärme in seinen Augen mindert ihren Groll.
»Gehen wir.« Sie hakt sich bei ihm ein.
Die Künstlerin kann die Augen nicht von Loretta losreißen trotz der Touristenhorde, die sich zwischen ihnen tummelt. Als sie sich zum Gehen wendet, deutet Loretta ein Winken an und lächelt. Sie meint, die Frau würde ihr Lächeln erwidern, aber sie ist sich nicht sicher.
In den Straßen, die zum Hotel Il Cuore führen, wimmelt es nur so von Touristen. In den Souvenirläden bestaunen ganze Herden von Besucherinnen und Besuchern aus aller Welt die bunten Glaskugeln, während draußen gewaltige Menschenmassen trotz der Kälte die Tische vor den Cafés belagern. Die Weihnachtsdekoration in den Gassen bildet ein Dach über den Köpfen von Loretta und Alberto. Die festliche Beleuchtung wird jedes Jahr aufwendiger. Jede Straße ist anders geschmückt.
»Ich frage mich, wann diese Food-Journalistin eintrifft«, sagt Loretta, mehr zu sich selbst als zu Alberto.
»Seltsam, dass sie ausgerechnet am ersten Weihnachtstag aufkreuzt«, erwidert er. »Noch dazu allein.«
»Sie kommt aus beruflichen Gründen. Natürlich ist sie da allein.«
»Das ist nicht gut. Sie sollte über die Feiertage bei ihrer Familie sein.«
»Manche Leute sehen das anders.«
»Es sind nun mal nicht alle so glücklich wie wir.« Alberto tätschelt ihre Hand. »Wir werden dafür sorgen, dass sie sich weniger einsam fühlt.«
»Wieso gehst du davon aus, dass sie einsam ist?«
»Sie reist an Weihnachten allein um die halbe Welt. Selbstverständlich ist sie einsam.«
Loretta widerspricht nicht.
Ein junges Paar, Touristen, schlendert an ihnen vorbei. Auf das Gesicht der Frau tritt ein Ausdruck verblüffter Freude, als sie Blickkontakt mit Loretta aufnimmt. Es kommt nicht oft vor, dass Loretta das Hotel ohne ihre Sonnenbrille verlässt, doch gelegentlich, an Tagen wie heute, sehnt sie sich danach, die Außenwelt nicht durch verdunkelte Gläser zu betrachten.
»O mein Gott, Babe!«, quietscht die junge Frau, nachdem sie ein paar Schritte weitergegangen sind. »Ich schwöre, das war Signora Bianchi!«
Alberto und Loretta tauschen ein Lächeln und setzen ihren Weg fort. Er singt leise »Stille Nacht«, und sie hört ihm zu.
Zurück im Hotel, steht Marina mit rotem Kopf hinter der Rezeption.
Loretta eilt zu ihr. »Kann ich Ihnen behilflich sein?« Sie strahlt die neu eingetroffenen Gäste an, das Ehepaar Dawson aus Amerika.
»Es wäre schön, wenn uns irgendjemand helfen würde.« Der Schweiß tropft von Signor Dawsons buschigen weißen Augenbrauen auf sein »I love Venice«-Sweatshirt.
Loretta greift nach der Fernbedienung und stellt die Temperatur im Foyer niedriger. Marina übertreibt es mit dem Heizen.
»Signor Dawson war unzufrieden mit Signor Giuseppes Gesang während der Gondelfahrt.« Marinas Lächeln erreicht nicht ihre Augen.
Es fällt Loretta schwer, ein Schnauben zu unterdrücken.
»Wir haben ein kleines Vermögen für den Sänger bezahlt, und alles, was er meiner Frau beschert hat, waren dröhnende Kopfschmerzen.« Signor Dawsons verschränkte Arme ruhen auf seinem Bauch.
»Eine Minute bitte, Signore. Ich helfe Ihnen gern.« Loretta zieht ihren Mantel aus und sagt leise auf Italienisch zu Marina: »Geh nur. Ich übernehme.«
»Du hast dich doch noch gar nicht oben ausgeruht. Ich komme durchaus zurecht.« Marina zwirbelt eine lange dunkle Locke um ihren Finger, eine Gewohnheit, die sie schon als kleines Mädchen hatte.
»Die Künstlerin in dem Tank ist eingetroffen. Geh hin und sieh sie dir an, bevor sie einfriert. Ich kümmere mich um diesen Idioten.« Sie legt Marina die Hand in den Rücken und gibt ihr einen leichten Schubs.
»Okay, grazie, Mamma.« Marina schnappt sich Jacke und Handtasche und eilt beinahe im Laufschritt durch die mit Teppich ausgekleidete Lobby in Richtung der Glastür.
Loretta greift in den Rollkragen ihres Pullovers und tastet nach der Goldkette an ihrem Hals. Daran hängt ein kleines Medaillon mit der Muttergottes, die den kleinen Jesus an ihrer Brust wiegt - ein Geschenk von ihrer nonna, ihrer Großmutter. Sie hat es am Morgen ihrer ersten heiligen Kommunion bekommen, als sie neun war.
»Die Heilige Jungfrau hört dir immer zu. Sie wird dich niemals im Stich lassen, wenn du an sie denkst. Hast du mich verstanden, Loretta? Versprich, dass du nicht vergisst, zu beten.« Nonna hatte mit ihren knorrigen Fingern Lorettas Schultern umfasst und so lange gedrückt, bis sie es versprochen hatte.
Aber Nonna sollte sich irren. Die Heilige Jungfrau hat Loretta seit jenem Tag schon mehrfach im Stich gelassen. Trotzdem greift sie aus Gewohnheit nach dem Medaillon und betet stumm. Ave, o Maria, piena di grazia .
»Signora Bianchi? Signora Bianchi! Helfen Sie uns nun oder nicht?« Signor Dawsons Gesicht ist nur wenige Zentimeter von ihrem entfernt.
»Selbstverständlich, Signore. Ich habe lediglich überlegt, wie ich das Problem aus der Welt schaffen kann. Sie müssen wissen, dass dies das erste Mal ist, dass sich jemand über Signor Giuseppe beschwert. Er ist einer der angesehensten Sänger in ganz San Marco.«
»Der beste Sänger«, lässt sich Alberto hinter ihr vernehmen.
Sie wirft ihm einen strengen Blick zu. »Der Abfalleimer in der Küche muss geleert werden.«
Alberto lacht und verschwindet in der Küche.
Loretta lässt das Medaillon los und wendet sich wieder den Gästen zu. »Ich werde dem Gondelunternehmen Ihre Rückmeldung weiterleiten. Da Sie die Fahrt über unser Hotel gebucht haben, werde ich zudem unverzüglich eine vollständige Kostenrückerstattung veranlassen. Wäre das zu Ihrer Zufriedenheit?«
Signora Dawson, eine kleine, mollige Frau mit kurz geschnittenen weißen Löckchen, die das gleiche »I love Venice«-Sweatshirt trägt wie ihr Ehemann, wirft diesem einen Blick zu und nickt, dann schaut sie wieder zu Boden. Ihr Gesicht ist gerötet. Loretta fällt auf, wie knallblau Signora Dawsons Lidschatten ist und wie dick sie ihn aufgetragen hat.
»Ja, ja, das ist in Ordnung«, erwidert Signor Dawson. »Und richten Sie dem Gondelunternehmen bitte aus, dass ich unter der Dusche besser singe als der beste Sänger in...
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