Schweitzer Fachinformationen
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Sie waren schon neun Stunden unterwegs und hatten kaum ein Wort gewechselt. Der dumpfe Schmerz erschöpfter Muskeln ließ ihre Bewegungen schwerfällig und unkoordiniert werden.
Auf einem langgezogenen, geschwungenen Grat übernahm Luca die Führung. Er stapfte durch tiefen Schnee und hinterließ einen schmalen Pfad, auf dem sich auch Bill fortbewegte. Von Lucas Klettergurt gingen zwei Achtmillimeter-Seile, die sich über Schnee und Eis schlängelten, bis hinunter zu Bill, der im Abstand von gut zwanzig Metern folgte. Sie hatten sich an der Spitze abgewechselt und waren nach stundenlangem Anstieg beide gleichermaßen erschöpft, zogen aber, den Eispickel lose in der Hand, mit unvermindertem Tempo voran.
Luca versuchte, kontrolliert zu atmen, und zwang sich, langsamer zu treten. Zwei-, dreimal musste er für jeden Schritt den Fuß aufsetzen, um auf dem pulvrigen, an der Oberfläche eisig überkrusteten Schnee Halt zu finden, sank aber trotzdem immer wieder bis zu den Schenkeln ein. Sooft er absackte, brachte ihn der schwere Rucksack aus dem Gleichgewicht und zerrte schmerzhaft an seinen Schultern. Während er dann wieder mühsam Tritt zu fassen versuchte, blieb Bill nichts anderes übrig, als zu warten.
Am klaren Morgenhimmel zog ein dunkles Wolkenband auf und mit ihm ein scharfer Wind, dem sich die beiden, die Kapuzen ihrer Gore-Tex-Jacken tief in die Gesichter gezogen, entgegenstemmten.
Nicht weit über ihnen traf der Grat auf die Eiswand, die schon vom Basislager aus zu sehen gewesen war. Hier sollte das Zwischenlager errichtet werden, in sicherer Entfernung von herabstürzenden Felsen und Eisbrocken. Luca warf einen Blick auf seine Uhr, legte den Rucksack ab und schnallte die darauf festgebundene Schaufel ab. Während er zu schaufeln anfing, schloss Bill zu ihm auf. Er war außer Atem, stützte sich mit den Händen auf den Knien ab und rang nach Luft.
«Was hältst du von dieser Wolke?», keuchte er. «Laut Vorhersage schlägt das Wetter morgen um.»
Luca hielt kurz inne. Er nahm seine Brille ab und wischte sich den Schweiß von den Augen.
«Es wird schon wieder besser», antwortete er und schaufelte weiter.
Bill nickte. Er kletterte schon lange genug mit Luca, um zu wissen, dass Zweifel an dessen Wetterprognosen unangebracht waren. Was immer die Meteorologen vorhersagten, Luca schien am Ende stets recht zu behalten. Im Freundeskreis wurde gescherzt, Luca sei wetterfühlig wie eine Kuh: Wenn er sich hinlege, finge es in Kürze zu regnen an.
Bill nahm seine eigene Schaufel zur Hand und half. Eine halbe Stunde später hatten sie ihr Schneeloch gegraben, und bald streckten sie sich darin erschöpft in ihren Schlafsäcken aus. Das leise Fauchen des MSR-Öfchens übertönte die Geräusche der Außenwelt.
Bei Tagesanbruch durchstieß Luca mit den Füßen, die noch im Schlafsack steckten, die dünne Schneeschicht, die sich vor dem Einstieg gebildet hatte. Helles Morgenlicht fiel ein, und kalte frische Luft schlug ihm entgegen. Es war eine lange, unruhige Nacht gewesen, beide Männer hatten wegen der Höhe nur wenig schlafen können.
Bill öffnete den Reißverschluss seines Schlafsacks und stöhnte vor Schmerzen, als er sich aufrichtete. Eine Weile blieb er reglos sitzen und wartete darauf, dass die Schmerzen abklangen. Luca rutschte mit eingezogenem Kopf unter der niedrigen Schneedecke auf den Knien herum, kramte in seinem Rucksack und reichte dem Partner einen Müsliriegel und eine Tube Kondensmilch. Zucker war das Einzige, was einen Bergsteiger am Morgen wieder auf die Beine brachte.
«Gibst du mir mal das Wasser?», murmelte Bill und zeigte auf die Plastikflasche, die neben dem Kocher stand. «Bin total ausgetrocknet.»
«Kopfschmerzen?»
«Und was für welche!»
Bill nahm einen tiefen Schluck aus der Flasche und spähte nach draußen.
«Wenigstens in einer Hinsicht hast du recht behalten.»
«Das Wetter ist nicht unser Problem», bestätigte Luca und stopfte seine Sachen in den Rucksack. «Wohl aber die Eisflanke. Hast du in der Nacht das Geröll runterkommen hören?»
Bill nickte. Im Abstand von einer oder zwei Stunden waren schwere Brocken herabgestürzt und in der Tiefe auf dem Gletscher aufgeschlagen. Jedes Mal waren beide vor Schreck aufgewacht, aber keiner hatte etwas gesagt. Sie wussten um die Gefahren des Makalu-Westpfeilers.
Wortlos packten sie zusammen, lösten routiniert das Lager auf und waren in Gedanken schon beim Aufstieg. Sie hatten bereits eine Höhe von sechseinhalbtausend Metern erreicht, und die Eisflanke verlangte ein Höchstmaß an technischem Klettern.
«Du hast die Route geplant», sagte Bill. «Also könntest du auch heute die Führung übernehmen.»
Luca war mit den Schnallen seines Rucksacks beschäftigt. «Klar», entgegnete er, ohne aufzublicken und um einen ungezwungenen Tonfall bemüht. «Keine Sorge.»
Zwanzig Minuten später standen sie auf dem Grat und spürten die Wärme der Morgensonne. Luca hatte die Seile ausgerollt und reichte Bill zwei Enden. Der warf seinem Partner eine schwere Schlinge mit Klemmkeilen, Eisschrauben und Haken zu, die Luca in bestimmter Reihenfolge an seinem Klettergurt befestigte.
«Ich kenne keinen, der mit seinem Gerät so penibel umgeht», bemerkte Bill.
«Du weißt doch, je höher wir steigen, desto blöder werden wir. So weiß ich wenigstens, wo was ist.»
Bill lächelte trotz seiner Kopfschmerzen. Lucas Wohnung war das reinste Chaos, ein heilloses Durcheinander ungeöffneter Post und herumliegender Kleidungsstücke. Hier draußen in den Bergen hingegen zeigte er sich von einer ganz anderen Seite: präzise, aufmerksam und alles andere als nachlässig.
«Da oben werde ich dich sichern», sagte Luca und zeigte auf ein Felsstück, das gut zehn Meter über ihnen schwarz aus der steilen Eiswand ragte. Dann, als sie einander mit einem knappen Kopfnicken zu verstehen gegeben hatten, dass sie bereit waren, rückte er auf dem Grat vor und griff durch die Schlaufen seiner Eispickel.
So dicht an der Wand, dass er mit den Hüften fast auflag, schlug Luca seine Steigeisen ins Eis. Kleine Splitter rieselten herab. Mit fließenden, rhythmischen Bewegungen arbeitete er sich mit den Eispickeln Schritt für Schritt höher und verließ sich dabei ganz auf die Frontalzacken seiner Steigeisen, anstatt immer wieder neue Stufen zu treten. Ohne nach oben zu blicken, konzentrierte er sich allein auf das, was unmittelbar vor ihm lag.
Er verstand sich darauf, eine Kletterstrecke aufzuteilen, Seillänge für Seillänge. Nicht mehr. An den Gipfelgrat zu denken war viel zu früh, und die Eiswand über ihm stieg noch an die tausend Meter an.
Es vergingen Stunden. Immer wieder führte er dieselben Bewegungen aus, behielt seinen Rhythmus bei. Die Sonne wanderte am Himmel entlang und spiegelte sich im Eis, das wie poliert glänzte. Die Schatten, zuerst auf der rechten Seite, fielen schon nach links. Beide Männer schwiegen und wechselten nur ein paar Worte, wenn am Ende einer Seillänge die Klettergeräte ausgetauscht wurden.
Luca rammte seine Pickel ein, grätschte die Beine und nahm eine Eisschraube vom Gurt, die er auf Schulterhöhe in der Wand befestigte. Er klemmte das Seil in den Karabiner und lehnte sich, das Gewicht in den Sitz verlagernd, zurück, um die angespannten Unterschenkel zu entlasten. Dann trieb er eine zweite Schraube ins Eis, hakte das Seil ein und sah zwischen seinen Beinen hindurch nach unten.
Mit dem Blick den Seilen folgend, entdeckte er Bill und sah, wie er sich nach oben kämpfte. So kletterte sein Partner immer, wenn er müde war: kämpfend. Er hämmerte mit den Pickeln dermaßen wuchtig drauflos, dass die Eissplitter nur so stoben, und setzte Kraft statt Geschicklichkeit ein, um voranzukommen.
Plötzlich ging rechterhand eine kleine Stein- und Eislawine prasselnd nieder, mit Brocken, von denen manche kopfgroß waren, zum Glück weit genug entfernt, um ihnen nicht gefährlich werden zu können, doch allein der Anblick, wie sie Staub aufschlagend von der Wand abprallten, zerrte an den Nerven. Jedes dieser Geschosse hätte ihre Helme glatt zersplittern lassen.
Bill hatte den Kopf in den Nacken gelegt, und für einen kurzen Moment begegneten sich die Blicke der beiden. Keiner sagte ein Wort. Sie wussten um die Risiken, und es war nicht nötig, sie zur Sprache zu bringen.
Luca stieß einen Schwall frostig kondensierender Luft aus und gestattete sich einen Blick nach oben, um zu ermessen, wie weit sie gekommen waren. Sie hatten ein zügiges Tempo vorgelegt und fast zwei Drittel der Flanke bezwungen. Noch ein paar Stunden, und sie würden den Gipfelgrat erreicht haben.
Es war schon weit nach Mittag, und Luca spürte, wie seine Kräfte nachließen. Er wurde langsamer und hörte sich ächzen, sooft er seinen Körper ein Stück höher hievte. Die Unterarme waren hart und geschwollen. Im rechten Bein quälte ihn ein Krampf, von dem er wusste, dass er nicht auf die Kälte zurückzuführen war. Er fragte sich in fast klinischer Nüchternheit, wie lange er die Strapazen noch würde ertragen können.
Länger als Bill, dessen war er sich sicher. Während der letzten beiden Stunden hatte sein Partner immer wieder an den Seilen gezerrt, um ihn zu einer Verschnaufpause aufzufordern, und die wurden immer länger.
Fünfzehn Meter weiter unten spürte Bill, wie sich sein Schweiß mit der dünnen Eisschicht mischte, die sein Gesicht überzog. Er keuchte ächzend und wurde, sooft er innehielt und nach Luft zu schnappen versuchte, von einem Hustenreiz befallen, der ihm noch mehr zusetzte. Seine Beine fühlten sich wie lebloses Holz an, und immer wieder rutschte er mit den Füßen ab, weil er kaum mehr die Kraft...
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