Schweitzer Fachinformationen
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»Tut mir leid, Daddy.« Liebevoll strich Nicole über die zarten Beeren, die sich zu Trauben an den Rebstöcken ballten. »Aber es muss sein. Ich kann nicht länger hierbleiben. Ich muss weg. Dafür verspreche ich dir, nur an Leute zu verkaufen, die unser Weingut genauso gut bewirtschaften werden wie wir.«
Sie wusste nicht, ob Big Jack sie hören konnte. Er war letztes Jahr gestorben, aber Nicole stellte sich vor, dass sein Geist noch hier weilte, unter diesem blauen Himmel und zwischen diesen grünen Rebstöcken voll praller Trauben. »Der Entschluss ist mir nicht leichtgefallen«, sagte sie, während der Wind mit ihrem schulterlangen Haar spielte. »Aber es muss sein, ich muss meinen eigenen Weg finden. Es fällt mir unendlich schwer, alles hier zurückzulassen, aber ich will selbst etwas schaffen, nicht nur ein Erbe übernehmen. Ich habe mir das lange überlegt, Daddy. Versteh mich bitte nicht falsch. Ich liebe dieses Weingut, und ich liebe dieses Tal. Aber der Wunsch, meinen eigenen Weg zu gehen, ist stärker.«
Bedrückt blickte sie zum Himmel, an dem ein Habicht seine Kreise zog. Wie gern hätte sie sich zu ihm emporgeschwungen. Sie dachte daran, wie ihr der Vater früher, als sie noch klein war, erlaubt hatte, ihm Rasierschaum auf Backen und Kinn zu verteilen, und dann gemeint hatte, sie verstünde sich darauf besser als der beste Barbier. Wie gern hatte sie mit baumelnden Beinen am Rand des Waschbeckens gesessen und dem Vater beim Rasieren zugeschaut!
Vor einem Jahr war er gestorben - dabei schien es erst gestern gewesen zu sein, dass sie zusammen durch die Rebstockreihen geschlendert waren und dabei über die Weinlese gesprochen hatten.
Aus den Trauben der Schallers wurde vor allem Wein gekeltert, aber dieser Weinberg hier trug Tafeltrauben, mit denen Obsthändler beliefert wurden. Die Trauben der Schallers waren begehrt, weil sie besonders süß waren. Käufer schätzten es nicht, wenn im Laden Trauben angeboten wurden, die reif und saftig aussahen, sich zu Hause dann aber als sauer herausstellten. Wie konnte es sein, dass Obsthändler sich so etwas erlaubten? Die Antwort lautete: Die mindere Qualität nahm bereits im Weinberg ihren Anfang.
Viele der kleinen Weinbauern ernteten nämlich ihre Trauben schon, wenn sie nur scheinbar reif waren, und nicht erst dann, wenn sie das Höchstmaß an Süße und Geschmack aufwiesen. Nach dem Motto: Je eher die Trauben abgenommen werden, desto schneller stellt sich Gewinn ein. Dementsprechend ernteten viele Landwirte alle Trauben in einem Arbeitsgang, egal, ob alle auch den gleichen Reifegrad erreicht hatten. Gewiss, um zu erkennen, welche Trauben reif waren und welche noch Zeit brauchten, war ein gutes Gespür nötig. Was wiederum für den Winzer bedeutete, mehr Geld für das Anheuern fachkundiger Arbeiter auszugeben und Zeit dafür aufzuwenden, dieselben Rebstöcke mehrmals zu inspizieren. Es war billiger, alle auf einmal zu pflücken und sich dann anderen Aufgaben zuzuwenden.
Für die Schaller-Trauben galt dies nicht, das war man dem Kunden schuldig. So leichtsinnig Big Jack auch gewesen war und sosehr er dem Glücksspiel und den Frauen gefrönt hatte, dem Ansehen seines Familienunternehmens fühlte er sich doch verpflichtet. Er hätte von Nicole verlangt, dafür zu sorgen, dass auch die neuen Eigentümer den richtigen Zeitpunkt für die Lese respektieren, ohne Rücksicht auf Zeit und Kosten. Da das kanadische Ehepaar wild entschlossen zu sein schien, die Farm und die Weinkellerei zu übernehmen, würde Nicole also von ihnen verlangen, dass sie sich verpflichteten, keine sauren Trauben an Supermärkte zu liefern und arglose Kunden zum Kauf zu verleiten. Schaller war ein Name, dem man vertrauen konnte, ob es um Wein ging, Rosinen, Marmeladen oder Tafeltrauben.
Sie knipste eine dicke violette Beere ab und biss hinein.
Die Trauben auf ihren Reifegrad hin zu prüfen war für Nicole das Schönste. Die feste Beere zwischen Daumen und Zeigefinger hin und her zu rollen, wie Big Jack sie das gelehrt hatte. Sie ins Licht zu halten und durch ihr zartes Purpur, Schwarz, Dunkelblau, Gelb, Grün, Orange und Rosa zu schauen. Und dann dieser erste Biss, um sie auf ihre Süße hin zu überprüfen. Wenn es zu früh war, schmeckte sie sauer. Nicht weiter tragisch. Ihr Vater hatte neben ihr gestanden, die Hand auf ihre Schulter gelegt und gefragt: »Ist sie so weit?« Wenn sie dann das Gesicht verzogen und gesagt hatte: »Noch nicht. Zu sauer«, hatte er ausgerufen: »Ganz mein Mädchen! Das liegt dir im Blut.« Allein um dies zu hören, hätte Nicole gern tausend saure Beeren probiert.
Sie hielt inne und ließ den Blick über das grüne Paradies schweifen. Nichts hält das Wachstum auf, sinnierte sie und blinzelte durch den Schwarm herumfliegender Bienen in die Sonne. Dies ist das Wunder der Natur, das Wunder des Lebens. Nichts stirbt ein für alle Mal, alles geht immer weiter.
Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. Zeit, sich für das Treffen mit den potentiellen Käufern zu wappnen. Auf dem Weg zurück zum Haupthaus kam sie am Lagerraum für die Fässer vorbei, in dem zurzeit Renovierungsarbeiten im Gange waren. Als sie den Lärm der Vorschlaghammer und die Zurufe der Arbeiter vernahm, beschloss sie, den Käufern zu versichern, dass die Arbeiten bis zum Abschluss der Verkaufsverhandlungen beendet sein würden.
José Rodriguez, der mit dem Vorschlaghammer auf die alte Steinmauer losging, weilte in Gedanken bereits bei den scharf gewürzten Enchiladas, die ihm seine Maria heute Abend auftischen würde, zusammen mit der Flasche Wein, die ihm als Bonus für seine Überstunden in der Kellerei winkte, und bei seiner dicken, willigen Maria - nicht unbedingt in dieser Reihenfolge -, als sein Hammer unvermittelt eine hohle Stelle in der Mauer traf, ins Leere ging und dazu führte, dass José das Gleichgewicht verlor. Er taumelte und stürzte fast zu Boden.
»Aii!«, schrie er auf, worauf die Arbeiter um ihn herum laut auflachten.
Die Außenmauer des Fasslagers war durch ein leichtes Erdbeben beschädigt worden, und dann war auch noch das Dach plötzlich etwas eingesackt. Die gleichbleibende Temperatur und Feuchtigkeit im Lagerraum waren dadurch nicht mehr gewährleistet. Miss Schaller hatte eine sofortige Überprüfung der Mauer angeordnet, um der Sache auf den Grund zu gehen und den Schaden zu beheben, ehe die hier gelagerten edlen Weine Schaden nahmen.
José, dessen Gedanken noch immer bei der üppigen Fleischlichkeit seiner Maria, den würzigen Enchiladas und dem kräftigen Rotwein weilten, klopfte sich den Staub ab und stimmte in das Gelächter seiner Kumpel ein, ehe er feststellte, dass er in der aus Stein und Lehmziegeln hochgezogenen Mauerwand einen Hohlraum freigelegt hatte.
»Qué es esto?«, fragte Tomás, sein Cousin, und deutete auf das klaffende Loch.
José rieb sich mit verstaubten Knöcheln den Schweiß aus den Augen, beugte sich vor und blinzelte zu dem dunklen Hohlraum in der Wand, aus dem ein so unangenehm muffiger Geruch drang, dass er erschauerte und jedweden Gedanken an gutes Essen, Wein und Liebemachen vergaß. Er sah genauer hin, auch die Männer hinter ihm - mexikanische Wanderarbeiter - beugten sich näher heran, und als ihnen klar wurde, was sie entdeckt hatten, wichen sie erschrocken zurück. »Madre de Dios!«, schrien Tomás und José gleichzeitig auf, und alle bekreuzigten sich und riefen sämtliche Heiligen an, die ihnen einfielen.
»Holt Miss Schaller«, stieß José Rodriguez aus. Und als sich keiner der Männer rührte, drehte er sich zu ihnen um und brüllte: »La Señorita! Pronto!«
Daraufhin liefen sie alle auf einmal los, schon um von dem Ding in der Wand und dem Fluch wegzukommen, der bestimmt über sie kommen würde, und wohl jeder von ihnen überlegte, wann Father Ramón, der Wanderpriester, wieder vorbeikommen würde, um die Messe zu lesen und die heiligen Sakramente zu spenden.
»Unsere Familie war die erste deutsche in diesem Tal«, erklärte Nicole ihren Besuchern auf dem Weg vom Parkplatz zum Haus. »Wir waren die Ersten, die den Riesling, für den wir heute bekannt sind, nach Kalifornien gebracht haben«, fügte sie hinzu und lächelte, um ihre Nervosität zu verbergen.
Sie war mehr als nervös, hatte entsetzliche Angst davor, ihr Zuhause zu verlassen, bemühte sich aber, sich dies nicht anmerken zu lassen. Eine volle Stunde hatte sie gebraucht, um sich für ihre Garderobe zu entscheiden, hatte immer wieder zu was anderem gegriffen, hatte erst ein Minimum an Make-up aufgetragen, dann doch wieder mehr, hatte mit ihrer Frisur gehadert, immer darauf bedacht, adrett und liebenswürdig zu wirken und vor allem wie jemand, dem man ein Weingut abkauft.
Nicole musste verkaufen. Sie musste weg von hier.
Wie auch konnte sie bleiben? Gewiss, sie wohnte in einem großen weißen Haus mit drei Etagen; ein Schwimmbecken, Tennisplätze und ein geräumiger Patio für große Gesellschaften standen ihr zur Verfügung. Aber dieses Tal mit dem nahen Städtchen Lynnville lag am Ende der Welt, war hinterste Provinz, eine verschlafene Gegend. All ihre Schulfreundinnen hatten davon geträumt, aus diesem »Kaff«, wie sie es nannten, herauszukommen. Nach San Francisco, Los Angeles, ganz verwegene sogar nach New York. Niemand, höchstens die Großmutter, blieb auf Dauer in Lynnville. Wie soll man denn hier einen Mann kennenlernen?, hatten sie sich untereinander gefragt. In diesem Tal gab es nur Landwirte, Arbeiter, Bauerntölpel und Hinterwäldler. Sie trugen Cowboy-Hüte und Stiefel mit hohen Absätzen und sprachen nur das Allernötigste. Aber nicht...
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