Schweitzer Fachinformationen
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Hiermit gewähre ich einen Einblick in mein derzeitiges Leben: Meine Schwester steht mit einem toten Vogel in der Hand auf meiner Türschwelle, und das ist noch nicht mal das Schlimmste, das heute passiert ist.
»Clemmie.« Lils Augen füllen sich schnell mit Tränen, und ihr schwarzer Eyeliner beginnt bereits zu zerfließen, als sie mir das Bündel aus glänzenden Federn hinhält. »Er ist direkt gegen meine Windschutzscheibe geflogen . Meinst du, er kommt wieder auf die Beine?«
Ich betrachte den Vogel. Den ganz offensichtlich toten Vogel.
»Ich glaube eher nicht, nein.« Mein Ziel ist es, mit sanfter Stimme zu sprechen, doch das gelingt mir nicht einmal annähernd. Wie schon erwähnt, es war ein anstrengender Tag.
»Verflucht, Lil!« Unsere Schwester Serena taucht hinter mir auf und nimmt einen Schluck direkt aus der Champagnerflasche, die sie mitgebracht hat. »Was hast du mit diesem Ding vor? Das ist ekelhaft!«
Lil funkelt Serena an. »Ich versuche, ihm das Leben zu retten. Meint ihr, bei einem Vogel funktioniert Mund-zu-Mund-Beatmung?«
»Mund zu Schnabel meinst du«, entgegne ich, während Serena laute Würgegeräusche ausstößt.
»Ich kann ihn doch nicht einfach sterben lassen«, erwidert Lil starrsinnig.
Ich stehe noch immer fest entschlossen im Türrahmen, ohne mich vom Fleck zu rühren, denn ich weiß, dass der tote Vogel bei der ersten noch so kleinen Chance in meiner Wohnung landen wird.
»Ich glaube, der Zug ist abgefahren.« Serena zeigt mit ihrem hübsch manikürten Finger auf das Tier. »Bin mir ziemlich sicher, er sollte in der Mitte nicht so platt sein.«
Lil schaut hinunter. »Oh«, sagt sie schließlich. »Das ist schrecklich.«
»Ja, aber vielleicht kannst du den toten Vogel nun trotzdem ablegen und reinkommen?«, schlage ich vor.
»Und ihn einfach auf dem Boden zurücklassen?« Lil klingt entsetzt.
Bereits jetzt ahne ich, wie die Sache enden wird, aber ich bin viel zu müde, um eine Beerdigung für diesen Vogel zu organisieren. Ich werfe Serena einen verzweifelten Blick zu, doch die verdreht nur die Augen.
»Warum wirfst du ihn nicht in die Mülltonne?«, schlägt sie vor.
»In die Mülltonne?« Lils Stimme wandert eine Oktave höher.
»Die Komposttonne«, antwortet Serena eilig. »Clemmie hat ungefähr sechzehn unterschiedliche Mülltonnen, nicht wahr?« Sie sieht mich an.
»Es gibt eine für Gartenabfälle.« Ich zucke mit den Schultern. Obwohl die Bezeichnung »Garten« für das winzige Stück Rasenfläche, das zu der Wohnung gehört, vielleicht etwas zu hoch gegriffen ist. Ich hatte immer vor, etwas anzupflanzen, habe mir in den schillerndsten Farben ausgemalt, wie ich mit einem Weidenkorb in der Armbeuge umherspaziere und bescheiden lächele, wenn die Leute mich für meinen grünen Daumen loben, aber dafür fehlte mir stets die Zeit. Und im Augenblick spielt es ohnehin keine Rolle mehr.
»Na siehst du.« Serena wirft ihr Haar zurück. »Das ist perfekt. So kann er wieder eins mit der Erde werden.« Serena ist eine Meisterin darin, Menschen dazu zu bewegen, das zu tun, was sie will, und in diesem Moment bedient sie sich dazu einer Sprache, die Lil selbst verwenden würde, und schlägt einen äußerst überzeugenden Tonfall an.
Lil scheint zu zaudern. »Das ist nicht sonderlich würdevoll.«
»So läuft das in der Natur, Lil.« Serena wedelt mit der Hand durch die Luft. »Du weißt schon - natürliche Auslese.«
»Ob die Sache so natürlich war?«, werfe ich ein. »Ich glaube nicht, dass Darwin damit meinte, gegen die Windschutzscheibe eines Toyota Yaris zu fliegen, der von einer kleinen Frau in einem sackartigen rosa Mantel gefahren wird.«
»Wie dem auch sei.« Serena, die nun richtig in Fahrt gerät, winkt ab. »Dennoch gehört das alles zum natürlichen Kreislauf, oder? Erde zu Erde, Asche zu Asche, Staub zu Staub. It's the circle of life .«
Als sie den Titelsong aus König der Löwen anstimmt, befürchte ich, dies könnte den Eindruck erwecken, dass sie die Sache nicht so ernst nimmt, wie Lil es gern hätte, also grätsche ich schnell dazwischen. »Komm schon, Lil, es ist eiskalt hier draußen, und drinnen gibt es Pizza. Deine vegane Lieblingspizza. Und Wein. Ganz, ganz viel Wein.«
»Na schön.« Lil nickt zögerlich. »Aber ich finde, ich sollte ein paar Worte sagen.«
»Sag sie schnell«, kontert Serena. »Clemmie braucht uns dringender als der tote Vogel. Für sie gibt es vielleicht noch Hoffnung.«
»War das wirklich notwendig?«, murmele ich.
Serena antwortet nicht, sondern nimmt mit hochgezogenen Augenbrauen einen weiteren Schluck aus der Flasche, auch wenn mir klar ist, was sie damit ausdrücken will: Mein Leben ist das Äquivalent zu einem toten Vogel, und ich kann ihr nicht einmal widersprechen.
Fünf Minuten später haben wir uns um die geöffnete Tonne für Gartenmüll versammelt.
»Hier ruht Peter die Taube«, verkündet Lil in feierlichem Tonfall.
Ich bin alles andere als überzeugt, dass der Vogel, der tot in meiner Mülltonne liegt, eine Taube ist, doch nun scheint mir nicht der richtige Zeitpunkt, um dies zur Sprache zu bringen.
»Wir wissen nicht genau, wie lange du gelebt hast«, fährt Lil fort, »aber du warst Teil dieser großen, wunderschönen Welt, und es ist traurig, dass du von uns gegangen bist. Ich hoffe, dass du, wo immer du jetzt sein magst, die Sonne auf deinem Rücken und den Wind unter deinen Flügeln spüren kannst. Mögest du glücklich und frei sein.«
Überraschenderweise spüre ich, dass mir Tränen in die Augen treten, die ich vor Serena zu verbergen versuche.
»Ihr zwei seid beide gleich schlimm«, murrt sie, doch ich höre eine widerwillige Zärtlichkeit in ihrer Stimme. »Können wir nun reingehen? Es ist eiskalt, okay? Was kümmert uns der verfluchte Vogel? Ich sterbe gleich an Unterkühlung.«
Lil klappt den Deckel der Mülltonne zu, und ich seufze erleichtert, ehe ich den beiden voran ins Haus gehe.
»Was ist denn hier passiert?«, fragt Lil, als sie sich in meiner Wohnung umsieht, die zugegeben ein wenig spartanisch wirkt.
Serenas Miene verfinstert sich. »Leonard ist passiert.«
»Er hat all deine Habseligkeiten mitgenommen?« Lil schnappt nach Luft. »Deine Couch? Und deinen Fernseher? Und . wo sind denn Tunas Sachen? Und wo ist eigentlich Tuna?«
Ach ja. Die Katze. Daran darf ich nicht allzu lange denken, sonst fange ich an zu heulen.
Lil blinzelt, während sie die Information verdaut. »Er hat deine Katze mitgenommen?«
»Len hat behauptet, es würde ihr in der neuen Bleibe besser gehen«, erkläre ich und versuche, leichtherzig zu klingen. »Und er hat recht. Es ist ein richtiges Haus, weit entfernt von allen Hauptstraßen. Dort ist es viel sicherer.«
»Er hat deine Katze mitgenommen!«, wiederholt Lil, und diesmal blitzt Mordlust in ihren großen blauen Augen auf. »Er hat dich für eine andere Frau verlassen, all deine Sachen mitgenommen und deine Katze gestohlen? Ich hasse ihn.«
Ich sehe mich in der fast leeren offenen Küche und dem Wohnzimmer um. Noch gestern standen hier neuwertige Möbel von Ikea, elegant und in gut durchdachter Anordnung. Okay, nicht alles davon entsprach meinem Geschmack - der moderne Stil und das Fehlen von jeglichem Durcheinander wirkten etwas unpersönlich, aber es war dennoch in Ordnung; es sah aus wie ein Zuhause. Jetzt, wo bloß noch der einzelne Sessel verblieben ist, den ich einst auf der Straße gefunden habe (Len habe ich erzählt, ich hätte ihn auf einem Antikmarkt erstanden, sonst hätte er ihn niemals ins Haus gelassen), das durchhängende, halb gefüllte Bücherregal und die Tischlampe in Form einer Meerjungfrau mit Muschel in der Hand, die nun keinen Tisch mehr hatte, auf dem sie stehen konnte, sah meine Wohnung aus wie ein Hinterhoftrödelmarkt wenige Minuten vor der Schließung.
»Es waren seine Sachen«, erwidere ich schulterzuckend. »Er hat sie ausgesucht und bezahlt. Mir war nur nicht bewusst, wie viel davon seins war, bis die Leute vom Umzugsunternehmen gekommen sind und alles mitgenommen haben.« Was heute geschehen ist, als ich in der Arbeit war. Einer Arbeit, die ich bald nicht mehr haben werde. Bei diesem Gedanken kehren die Kopfschmerzen zurück, die ich versucht habe zu verdrängen.
»Ich wusste schon immer, dass er dir nicht guttut«, sagt Serena mit ernster Stimme, lehnt sich auf die Küchenarbeitsplatte und öffnet den Deckel eines riesigen Pizzakartons. »Das sage ich dir seit Jahren.«
»Du hast gesagt, er sei langweilig«, entgegne ich, »was man fairerweise jetzt nicht mehr von ihm behaupten kann.«
Len und ich waren vier Jahre lang zusammen, ehe er mir vor zehn Tagen nicht nur eröffnet hat, dass er mich für Jenny, eine Kollegin aus seiner Steuerberatungsfirma, verlässt, sondern auch, dass er seit eineinhalb Jahren ein Verhältnis mit ihr hat und sie im dritten Monat schwanger ist. Len, Jenny, ihr Baby und meine Katze würden alle in ein Cottage mit fünf Zimmern in einer ländlichen Region von Oxfordshire ziehen, zusammen mit unseren Möbeln. Dabei hat er mir großzügigerweise die Wohnung in der Stadt überlassen, deren Miete ich mir bald nicht mehr leisten kann.
Bevor ich es selbst erlebt habe, war es mir immer ein Rätsel, wie Menschen in solchen Situationen vollkommen ahnungslos sein können. Wie konnten sie es nicht wissen?, fragte ich mich immer. Nun kann ich beteuern, dass ich keine Ahnung hatte. Nicht...
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