PROLOG
1
Es waren Rachegedanken, die Macus Herz erfüllten. Er musste das Mädchen ausfindig machen, das seinen Bruder gedemütigt hatte.
Unter dem Vorwand, sie könnte durchaus als Braut für ihn in Frage kommen, erkundigte er sich im Dorf nach Tonina und erfuhr, dass sie am Strand der westlichen Lagune anzutreffen sei, dort, wo die Perlentaucherinnen ihren täglichen Austernfang einholten.
Sein Bruder, der sich jetzt mit dem gemeinsamen Kanu auf der anderen Seite der Insel verbarg, hatte versucht, ihn von seinem Vorhaben abzubringen. Es sei schlimm genug, dass ein einfaches Mädchen ihn bei einem Schwimmwettbewerb besiegt hätte; Macus Racheplan würde alles nur noch schlimmer machen. »Sie schwimmt eindeutig besser als wir«, hatte er gesagt. »Du kannst sie nicht schlagen, Bruder.« Aber der zweiundzwanzigjährige Macu von der nahe gelegenen Halbmondinsel war stolz und voller Dünkel und verachtete Mädchen, die sich anmaßten, den Männern überlegen zu sein.
Die Perleninsel war ein kleiner grüner Punkt im türkisfarbenen Meer jenseits der Westspitze einer Landmasse, die später einmal Kuba genannt werden sollte. Sie verfügte über lediglich zwei zugängliche Häfen: die westliche Lagune und eine Bucht an der nördlichen Spitze, wohin Macu und seine Freunde, felsigen Untiefen ausweichend, mit ihrem Kanu gepaddelt und schließlich an einem schmalen Strand gelandet waren. Von dort aus führte ein Pfad durch dichte Bäume und Sträucher in ein betriebsames Dorf, in dem Kinder herumtobten, Frauen mit Kochtöpfen hantierten und Männer in den zahlreichen Schuppen, in denen Tabak getrocknet wurde, ihrem Tagewerk nachgingen.
Eine kleine Gruppe Neugieriger folgte Macu durch die Siedlung und hinunter zum Strand. Er achtete nicht auf das Geplapper um ihn herum, war, die Hände zu Fäusten geballt, erfüllt von dem Gedanken an Rache. Derart zielstrebig schritt er über den heißen weißen Sand, dass Reiher und Pelikane vor ihm die Flucht ergriffen und Männer verdutzt von ihren Ausbesserungsarbeiten an Kanus und Fischernetzen aufblickten. Nackte Kinder, die in dem ruhigen, warmen Wasser der friedlichen Lagune nach Muscheln gruben, sahen gespannt dem Fremden nach.
Macu war dunkelbraun, untersetzt und muskulös, sein fast nackter, von Narben übersäter Körper mit unzähligen Symbolen und Verzierungen bemalt. Sein langes schwarzes Haar, das ihm offen auf die Schulter fiel, wies ihn als unverheiratet aus, und außer einem aus Palmfasern gewebten Lendenschurz trug er zahlreiche Halsketten und Schutz verheißende Amulette. Dass er ein Fremder war, verdeutlichte die seinem Clan eigene Tätowierung auf der Stirn. Die Gruppe, die unter der warmen Tropensonne über den breiten Sandstreifen zwischen der limonengrünen Lagune und dem üppigen Dschungel landeinwärts hinter ihm her trottete, bestand aus den jungen Männern, die ihn von der Halbmondinsel begleitet hatten, sowie aus ein paar Dorfbewohnern, die ihre Arbeit unterbrochen hatten, weil sie ahnten, dass dieser Nachmittag mit einer willkommenen Zerstreuung aufwarten würde.
Kein Mann hatte sich je für die arme, unscheinbare Tonina interessiert.
Die Perlentaucherinnen hatten sich am Ende der Bucht, wo eine Felsklippe aus dem Meer ragte, versammelt. Die noch vom Meerwasser nassen dunkelbraunen Körper der zwölf- bis dreiundzwanzig Jahre alten Mädchen glänzten, und während sie die mit Austern gefüllten Netze aus ihren Kanus luden und die Muscheln auf den kühlen Sand unter schattigen Kokospalmen häuften, wurde gelacht und gescherzt. Obwohl Macu das Mädchen, das herauszufordern er gekommen war, noch nie gesehen hatte, erkannte er sie sofort. »Schön ist sie nicht«, hatte sein Bruder gesagt, so als wäre eine Niederlage, die ihm ein hübsches Mädchen beigebracht hätte, weniger beschämend. »Sie hat, ehrlich gesagt, nichts Anziehendes an sich.« Er hatte sie so genau beschrieben, dass Macus Blick sofort auf das Mädchen im Grasrock fiel, das Tonina hieß.
Sein Bruder hatte recht. Obwohl Tonina ihr langes Haar, das mit vielen Muscheln und einigen Perlen durchwoben war, die bei jeder Bewegung leise klimperten, offen trug und ihr Gesicht und die Arme mit unzähligen weißen Symbolen und Zeichen bemalt waren, sah sie nach Macus Geschmack keineswegs reizvoll aus. Kein Wunder, dass sie noch nicht verheiratet war. Alles an Tonina ließ zu wünschen übrig. Außer ihrer viel zu hellen Hautfarbe waren ihre Hüften sowie ihre Taille zu schmal, und bei allen Göttern!, Awak hatte nicht übertrieben: Das Mädchen war ungewöhnlich groß. Hätte Macu nicht ihre vom Tauchen noch mit Wasser benetzten goldfarbenen Brüste gesehen, hätte er sie für einen Mann gehalten.
Er verbarg seinen Zorn, damit sie nicht merkte, was er vorhatte, ging auf die Mädchen zu, hob die Hand wie zu einem freundlichen Gruß und rief: »Hallo!«
Die Mädchen fuhren herum. Als sie den gut aussehenden jungen Mann erblickten, setzten sie sich unwillkürlich sofort in Positur.
Tonina beachtete ihn zunächst nicht - noch nie hatte sich ein junger Mann für sie interessiert -, bis sie zu ihrem Erstaunen feststellte, dass das charmante Lächeln und die aufreizenden Blicke ihr galten. Sie hatte keine Ahnung, dass er der Bruder des Jünglings war, dem sie Tage zuvor davongeschwommen war - ebenso wenig wie sie wusste, dass sie ihn dadurch gedemütigt hatte.
Macu musterte das hochgewachsene, aber ansonsten nichtssagende Mädchen. Es war sein Plan, sie mit ihren eigenen Waffen zu schlagen und ihr dann, wenn er sie besiegt hatte, stolzgeschwellt zu verkünden, dass er es für Awak getan habe.
Der Plan bedeutete jedoch auch, den Geist eines uralten Meeresungeheuers herauszufordern.
Auf allen umliegenden Inseln kannte man die Legende von der Bestie, die an einer verbotenen Stelle in der Lagune der Perleninsel, unweit der Öffnung im Riff, wo das ruhige Gewässer auf das raue Meer traf, schlief. Man erzählte sich, dass dort das Skelett eines riesigen Seeungeheuers auf dem Meeresboden lag und dass der Geist des Monsters das Gewässer unsicher machte. Wenn die Männer von der Perleninsel mit ihren Kanus durch das Riff und über die Knochen des Untiers paddelten, gossen sie Kassavewein ins Wasser und baten das Monster, sie unbehelligt passieren zu lassen.
Dort zu schwimmen hatte noch niemand gewagt.
Weil Macu nicht hier aufgewachsen war, fühlte er sich gegen die Angst vor dem Geist des Meeresungeheuers gefeit. Tonina dagegen kannte bestimmt allerlei Geschichten, die sich um diesen Geist rankten, und würde sich deshalb hüten, schwimmend in dessen Revier einzudringen. In der warmen Nachmittagssonne, während Passatwinde durch die sich wiegenden Palmen strichen und Möwen am Himmel kreisten, begann Macu mit seinem Täuschungsmanöver.
»Bist du die, die man Tonina nennt?«, fragte er.
Nicht gewohnt, dass ihr ein Mann Aufmerksamkeit schenkte, lächelte Tonina verschämt. Junge Burschen hatten nichts für Mädchen übrig, die größer waren als sie selbst, aber da Macu genauso groß war wie sie, nahm sie an, dass ihn das nicht störte.
Mit wachsender Neugier scharten sich die Perlentaucherinnen um die beiden. Macu nannte Tonina seinen Namen, um sich dann großspurig über seine Geschicklichkeit und seine Erfolge beim Speerfischen auszulassen, ein Verhalten, das als Auftakt einer Brautwerbung üblich war. Bei allem, was er vorbrachte, übertrieb er maßlos - und legte damit wohlbedacht seine Falle aus, wusste er doch, dass das Ritual der Brautsuche auf der Insel vorsah, dass alle Bewerber ihre Fähigkeiten letztendlich unter Beweis stellen mussten.
Er bedachte Tonina mit einem Lächeln und fragte sie dann: »Bringst du den Mut auf, mit mir zu der Stelle zu schwimmen, an der es spukt, und nach einem Knochen des Monsters zu tauchen?«
»Guama! Da ist ein junger Mann von der Halbmondinsel. Er interessiert sich für Tonina!«
Toninas Großmutter, die in einem der Schuppen, in denen der Tabak trocknete, Blätter zu Zigarren rollte, hob erschrocken den Kopf. »Was? Ein junger Mann? Bist du sicher?«
»Sie sind in der Bucht. Und er fordert sie zu einem Wettkampf heraus!«
Guama blinzelte. Ein Jüngling, der sich für ihre Enkelin interessierte? Tonina war einundzwanzig und noch immer nicht verheiratet. Jedes Frühjahr kamen junge und auch ältere Männer von anderen Inseln auf der Suche nach einer Braut auf die Perleninsel, aber Tonina hatte bislang keiner von ihnen beachtet. War das Unerwartete schließlich doch noch eingetreten? Dass ein junger Mann Tonina begehrte?
Möge dem so sein, hoffte Guama inbrünstig. Das Mädchen musste unbedingt heiraten, was sonst hatte sie denn vom Leben zu erwarten? Wozu war eine Frau nütze, wenn nicht dazu, Kinder zu bekommen, sie großzuziehen und für einen Mann das Essen zuzubereiten? Gewiss, Tonina war eine geschickte Perlentaucherin, eine der besten, aber die Zeitspanne des Perlentauchens währte nicht lange. Die meisten Mädchen tauchten, bis sie ihr erstes Kind erwarteten, und dann war es damit vorbei.
Als sie dem Knaben zum Strand hinunter folgte, musste Guama an das Wettschwimmen vor ein paar Tagen denken, bei dem Tonina alle abgehängt hatte, auch wenn die Großmutter sie immer wieder beschwor, sie sollte die jungen Männer gewinnen lassen. Unseligerweise jedoch war Tonina durch und durch ehrlich und brachte es nicht über sich, sich selbst und andere zu belügen.
»Was für ein Wettkampf soll das sein?«, fragte Guama jetzt, mit einem Mal...