Schweitzer Fachinformationen
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Als Ulrika den Garten hinter der hohen Mauer auf dem Esquilin, einem der sieben Hügel, auf denen Rom erbaut ist, betrat, presste sie die Hand an die Brust, bis sie unter dem Seidengewebe ihres Gewandes das Kreuz Odins spürte, das beschützende Amulett, das sie von klein auf begleitete. Sie betastete seine vertrauten Umrisse, die sich an ihren Busen drückten, und versuchte sich einzureden, dass sich alles zum Guten wenden würde. Aber das Unbehagen, mit dem sie heute Morgen aufgewacht war, hatte sie den ganzen Tag über begleitet, so dass sie jetzt, da eine orangerote Sonne nach und nach hinter Roms Marmorgebäuden verschwand, kaum atmen konnte. Wie wünschte sie sich, alles wäre wieder so wie immer! Selbst Themen, die sie noch tags zuvor verärgert hatten, wären ihr jetzt, an diesem späten Nachmittag, als Ablenkung willkommen. Zum Beispiel die Frage, ob sie, wie es alle erwarteten, Drusus Fidelius heiraten wollte.
Es lag Ulrika fern, ungehorsam zu sein. Rom erzog seine Töchter zu Ehefrauen und Müttern. Alle ihre Freundinnen waren entweder verheiratet oder versprochen (ausgenommen die zu ihrem Leidwesen durch eine Hasenscharte entstellte Cassia, was eine Garantie für lebenslange Jungfernschaft war). Andere Zukunftspläne gab es auch gar nicht. Eine alleinstehende junge Frau ohne den Schutz eines Mannes war eine Seltenheit. Sogar Witwen kamen bei männlichen Verwandten unter. Ulrika hatte ihrer besten Freundin anvertraut, nicht heiraten zu wollen, weder Drusus Fidelius noch sonst irgendeinen Mann. Worauf die Freundin ausgerufen hatte: »Aber kein junges Mädchen will freiwillig unverheiratet bleiben! Ulrika, was willst du denn sonst mit deinem Leben anfangen?« Auf diese Frage hatte Ulrika keine andere Antwort gehabt als die, dass sie seit jeher das unbestimmte Gefühl habe, sie sei zu etwas anderem berufen. Was das war, wusste sie allerdings nicht zu sagen. Ihre Mutter hatte sie zwar in den Grundlagen der Heilkunst unterrichtet, in der Herstellung und dem Gebrauch von Medizinen, in Anatomie und wie man Krankheiten diagnostizierte, aber Ulrika wollte nicht in die Fußstapfen der Mutter treten, keine Heilkundige werden.
Vom Garten aus verfolgte sie, wie nach und nach die für den Abend geladenen Gäste eintrafen, und konnte einmal mehr beobachten, wie die römischen Männer ihre weiblichen Anverwandten mit einem Wangenkuss begrüßten. Nicht unbedingt aus Zuneigung, sondern um zu prüfen, ob ihre Schwestern oder Töchter nach Alkohol rochen. Ständig übten Männer irgendeine Kontrolle aus. Die Frauen in Germanien dagegen wurden, wie Ulrika gehört hatte, von ihren Männern mit weit mehr Respekt behandelt und als ebenbürtig erachtet.
Vor dem Hintergrund von Roms Villen und Straßen war Ulrika zur Frau herangereift. Sie hatte dicht bevölkerte und lärmende Städte kennengelernt und genoss jetzt ein luxuriöses Leben in einem herrschaftlichen Haus auf dem Esquilin-Hügel. Warum sehnte sie sich dann nach Gebirgen und Wäldern, die in Nebel und Geheimnis eingehüllt schienen? Seit sie lesen konnte, hatte sie alle Schriften über das Volk ihres Vaters - die Germanen - verschlungen, derer sie habhaft werden konnte, hatte deren Kultur und Bräuche, deren Überzeugungen und Geschichte aufgesogen. Sogar ihre Sprache hatte sie sich angeeignet - heimlich. Denn wann immer sie Freundinnen von ihrem Interesse an den Germanen erzählt hatte, war sie auf Unverständnis und Ablehnung gestoßen.
Welchen Sinn hatte das alles?, fragte sie sich jetzt, als sie die Gäste erkannte, die im Hof von Tante Paulinas Haus eintrafen, die Damen in fließenden Tuniken, die Herren in langen, kleidsamen Togen. Diente das alles zur Vorbereitung auf die Reise in das Land, in das sie, Ulrika, wirklich gehörte? Es würde keine leichte Reise werden. Wulf, ihr Vater, war noch vor ihrer Geburt gestorben. Und sollte es noch Verwandte von ihm geben, dürfte es für Ulrika ein Ding der Unmöglichkeit sein, dies in Erfahrung zu bringen, geschweige denn, diese Verwandten ausfindig zu machen. Sie wusste nur, dass Wulf ein Fürstensohn und ein Held seines in den Wäldern lebenden Volks gewesen war und dass er ihr eine Blutlinie von rheinländischen Stammesfürsten und mystischen Seherinnen vererbt hatte.
Eine frische Brise wehte durch den Garten, rührte spielerisch an Ästen und dem feinem Gewebe von Ulrikas langem Gewand. Sie war nach der neuesten Mode gekleidet, die mehrere Schichten Stoff vorschrieb, was durch ein knielanges Überkleid sowie Schals in jeweils verschiedenen Längen und Blautönen - von dunklem Azur bis zur Färbung des morgendlichen Himmels - erreicht wurde. Ihr langes Haar, das geflochten und am Hinterkopf zu einem Knoten frisiert war, verbarg ein weicher safrangelber Schleier, die Palla, die auch die Arme bedeckte und unterhalb der Taille endete. Goldene Ohrringe und Armreife vervollständigten ihre Garderobe.
Sie fröstelte. Wenn es mir bestimmt ist, von hier wegzugehen, wie soll ich das dann tun?
»Da bist du ja, Liebes.«
Ihre Mutter kam auf sie zu. Mit ihren vierzig Jahren bewegte sich Selene anmutig und graziös; feine Leinenstoffe in Rot- und Orangetönen umhüllten die schlanke Gestalt. Ihr dunkelbraunes Haar war am Hinterkopf zu einem schlichten Knoten geschlungen und mit einem scharlachroten Schleier bedeckt.
»Paulina sagte mir, du seist hier draußen.« Mit ausgebreiteten Armen ging Selene auf ihre Tochter zu.
Paulina war eine verwitwete Patrizierin, und dies war ihr Haus. Als beste Freundin ihrer Mutter nannte Ulrika sie Tante Paulina. Da Paulina in Roms höchsten Kreisen verkehrte, lud sie dementsprechend nur die Elite der Bürger der Stadt zu sich ein. Zu diesem Kreis gehörte auch Selene, Ulrikas Mutter, als Heilkundige und enge Freundin von Kaiser Claudius.
Als sich Ulrika und ihre Mutter Arm in Arm dem Haus näherten, kamen sie an drei Männern in militärischer Haltung vorbei, die über Angriffsstrategien debattierten. Sie trugen lange weiße Tuniken und darüber purpurfarben gesäumte Togen. Kaum dass sie der beiden Frauen ansichtig wurden, unterbrachen sie ihr Gespräch, um sie zu grüßen und sich vorzustellen. In dem Moment, da der eine, ein gut aussehender Mann mit gebräuntem Gesicht und schneeweißen Zähnen, sich als Gaius Vatinius zu erkennen gab, merkte Ulrika, wie sich die Schultern ihrer Mutter versteiften. »Befehlshaber Vatinius?«, sagte Selene. »Müsste ich schon von dir gehört haben?«
Einer der anderen Männer lachte. »Wenn nicht, Verehrteste, wäre er am Boden zerstört! Vatinius wäre erschüttert, wenn er erkennen müsste, dass es in Rom auch nur eine schöne Frau gibt, die nicht weiß, wer er ist.«
Ulrika, der die gepresste Stimme der Mutter nicht entgangen war, musterte eingehend den Mann, den Selene mit »Befehlshaber« angesprochen hatte. Er war hochgewachsen, Anfang vierzig, mit tiefliegenden Augen und einer langen, geraden Nase. Wie aus Marmor gemeißelt wirkte er. Der Anflug eines gekünstelten Lächelns, das seine Lippen umspielte, zeugte von Arroganz.
»Bist du vielleicht«, hörte Ulrika die Mutter stockend fragen, »jener Gaius Vatinius, der vor einigen Jahren am Rhein kämpfte?«
Sein Lächeln vertiefte sich. »Du hast also doch von mir gehört.«
Gaius Vatinius wandte sich Ulrika zu, musterte sie unverhohlen von Kopf bis Fuß. Im nächsten Augenblick meldete ein Sklave, dass das Mahl aufgetragen sei, worauf sich die drei Männer mit einer kurzen Entschuldigung in Richtung Haus begaben.
Ulrika sah, dass ihre Mutter kreidebleich geworden war. »Gaius Vatinius hat dich erschreckt, Mutter. Wer ist er?«
»Er befehligte einst die Legionen am Rhein«, antwortete Selene, wobei sie dem Blick ihrer Tochter auswich. »Aber das war lange vor deiner Geburt. Lass uns hineingehen.«
Vier Tische standen im Speisesaal, jeder auf drei Seiten von Ruhebetten flankiert. Die Platzierung der Gäste folgte einem strengen Protokoll, demzufolge die Ehrengäste jeweils auf dem Ruhebett an der linken Seite des Tisches lagerten. Die vierte Seite des Tisches blieb frei, damit die Sklaven ungehindert Speisen und Getränke auftragen konnten. Gebratene Fasanen im Federkleid prangten in der Mitte der Tafel, um sie herum Platten und Schalen mit verschiedenen Speisen, von denen die Gäste sich selbst bedienen konnten. Die Stimmen von mehr als dreißig Personen schwirrten durch den Raum, drohten schier die Klänge der Panflöte zu übertönen, die ein Musikant spielte.
Ulrika wollte sich gerade auf ihren Platz neben einem Rechtsgelehrten namens Maximus niederlassen, als sie kurz einen Blick hinüber zu Gaius Vatinius warf. Sie mochte kaum ihren Augen trauen.
Auf dem Fußboden neben dem Befehlshaber saß ein riesiger Hund.
Ulrika runzelte die Stirn. Wie kam ein Gast auf die Idee, seinen Hund zu einer Essenseinladung mitzunehmen? Sie musterte die anderen Gäste, die sich ungezwungen mit Wein und Delikatessen bedienten. Empfand denn niemand sonst diesen Hund als völlig fehl am Platze?
Mit leichtgeöffneten Lippen und angehaltenem Atem sah sie wieder auf das Tier. Nein, das war kein Hund -, sondern ein Wolf! Groß und grau und zottelhaarig, mit bohrendem Blick und gespitzten Ohren, wie der Wolf in ihrem Traum. Und er starrte sie unverwandt an, derweil Gaius Vatinius mit seinen Tischnachbarn plauderte.
Ulrika konnte sich vom Anblick des mächtigen Tiers nicht losreißen.
Während sie weiterhin reglos verharrte, merkte sie, dass der Wolf langsam aus ihrem Blickfeld schwand, bis nichts mehr von ihm zu sehen war. Ulrika zwinkerte. Er hatte sich doch gar nicht von seinem Lager erhoben! Nicht den Speisesaal verlassen. Er hatte sich einfach in Luft aufgelöst, vor ihren Augen.
Es war ihr, als verlöre sie den...
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