Schweitzer Fachinformationen
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»Musst du wirklich fort, Isaac? Wir sind doch kaum vier Monate hier.«
»Viele weitere Seelen warten auf Erlösung, Emily«, sagte er, während er zielstrebig seine Tasche packte. »Ich darf nicht an einem Ort verweilen. Um seine Netze auszuwerfen, schickt der Herr seine Jünger hinaus in die Welt.«
Emily presste die Hände aneinander. Sie hatte nicht erwartet, dass sie hier allein zurückbleiben müsste. Als er ihr erst gestern eröffnet hatte, dass er beabsichtige, die Dörfer an der nördlichen Küste zu besuchen, war sie derart erschrocken, dass sie weder hatte essen noch Schlaf finden können. Und jetzt war sie ein Nervenbündel.
Wo war ihre Abenteuerlust abgeblieben? Sie musste sich eingestehen, dass sie Angst hatte, mit den Einheimischen allein zu sein, auch wenn sie sich nicht erklären konnte, warum. Vielleicht weil sie . so anders waren? Gewiss, sie waren freundlich und entgegenkommend und schienen ständig zu lächeln. Aber als Mr Alcott zur Gemeinde von Emilys Kirche von einer Insel gesprochen hatte, auf der unzählige Seelen der Verdammnis preisgegeben seien, hatte er vergessen zu erwähnen, dass es mehr Hindernisse gebe als das Problem mit der Religion. Hier genossen Kinder unbegrenzte Freiheiten, Zucht und Ordnung waren unbekannt. Wie konnte man so etwas von ihnen auch erwarten, wenn selbst die Erwachsenen nichts davon hielten? Die Erwachsenen, die ihr Leben nach Lust und Laune gestalteten? War die Brandung hoch, ließ jeder die Arbeit ruhen, nahm sein langes Brett und warf sich in die Wellen. Nicht anders verhielt es sich mit dem Unterricht. In den ersten Tagen drängten sich in dem neuen Pavillon, den Isaac gebaut hatte, Erwachsene wie Kinder, um bei Emily das Alphabet zu erlernen, pünktlich und versessen auf Schiefertafeln und Kreide. Emily war überglücklich gewesen. Aber dann konnte es vorkommen, dass niemand auftauchte und sie durchs Dorf gehen musste, um die widerspenstigen Kinder zusammenzutrommeln.
Es kam noch hinzu, dass sie so einiges, was der verhasste Mr Clarkson geäußert hatte, nicht vergessen konnte. Als er einmal zum Tee vorbeikam, hatte er Isaac und ihr erzählt, dass diese Leute noch vor vierzig Jahren Menschenopfer dargebracht hätten. Und selbst wenn Häuptling Holokai Isaac versichert habe, dass sie nicht länger diesem abscheulichen Ritual huldigten, dürfte es ihnen doch weiterhin im Blut liegen. Was wäre, wenn nur Isaacs Anwesenheit sie im Zaum hielt, sie aber sobald er Hilo verlassen hätte .
»Ich habe von zügelloser Unzucht auf der Insel gehört«, sagte Isaac, als er seine Tasche verschnürte. »Der Begriff der ehelichen Treue ist ihnen völlig fremd. Sie wechseln von einem Partner zum nächsten, je nach Lust und Laune. Und die, die verheiratet sind, vollziehen den Geschlechtsverkehr im Beisein ihrer Kinder. Die gesamte Familie schläft in einem Raum. Eine Unsitte, mit der ich aufzuräumen gedenke.«
Sie traten ins Freie. Isaac legte ihr die Hände auf die Schultern. »Denk immer daran, dass Gott mit uns ist, Emily. Es gibt nichts, wovor du Angst haben müsstest. Es wird Zeit, dass ich auch den anderen verlorenen Seelen auf dieser Insel das Licht des Herrn bringe. Ich lasse dich zurück, damit du mein geistliches Amt hier weiterführst, unserem Volk den rechten Weg weist, wenn es irrt, und es darin bestärkst, an den Allmächtigen und seine unendliche Liebe zu glauben.«
Emilys Glaube loderte nicht so hell und heiß wie der ihres Mannes, sondern war eher eine entspannte, freundliche Beziehung zum Allmächtigen. Aber sie glaubte natürlich an die Existenz des Teufels und dass Erlösung von dem Bösen einzig und allein durch das Wissen um den Allerhöchsten möglich war. Deshalb war sie ja hergekommen. Sie hatte ein Land vorgefunden, in dem das Licht so klar und das in seiner Schönheit so bezwingend war, dass sie sich fragte, wie das Dunkle sich hier behaupten konnte. Andererseits - war es nicht auch im Garten Eden schön gewesen? War das nicht ein Paradies gewesen, in dem ein Mann und eine Frau in völliger Unkenntnis des Bösen lebten? Die sich sogar ihrer Nacktheit nicht bewusst waren, genauso wie dieses Inselvolk? Bis eine Schlange sie Gottes liebevoller Gnade entführt hatte.
Ihre Augen abschirmend, spähte sie zu den Lehua- und Ohiabäumen, den Rankengewächsen und den vielen Blumen, dem rauschenden Wasserfall, dem glitzernden kleinen Fluss und zu der tiefgrünen Lagune. Ja, dachte sie, die Schlange ist hier, sie lauert, sie wartet .
»Du musst stark sein im Glauben, Emily«, hörte sie Isaac mit seiner Predigerstimme sagen. »Gott missbilligt Schwäche.«
Dass sie sich fremd und einsam fühlte, verstand er nicht. Zumal sie gelegentlich, wenn Schiffe in der Bucht ankerten, die Gesellschaft von Weißen genossen, insbesondere die von Kapitänen, Navigatoren und Forschungsreisenden, allesamt gebildete Männer mit guten Manieren. Auch Schriftsteller kamen auf die Insel, Künstler, Wissenschaftler und Naturforscher, die mit eigenen Augen diese unberührte Welt betrachten wollten. Kaum dass sie von Bord gingen, sagte man ihnen, dass sie im Haus von Reverend Isaac und seiner Gattin mit einem schmackhaften Essen und gepflegter Konversation rechnen durften.
Aber nie war eine weiße Frau unter den Besuchern. Wo Emily sich doch so sehr nach dem Gedankenaustausch mit einem weißen weiblichen Wesen sehnte!
Noch etwas bedrückte sie. Als Isaac auf sein Pferd stieg, rückte sie damit heraus. »Ich finde, wir sollten ein richtiges Haus haben. Jetzt, da das Versammlungshaus und die Schule fertig sind, könnten wir doch eins für uns in Angriff nehmen. Eine Grashütte ist nicht gerade das Geeignete, um Gäste zu empfangen.«
Seit Tagen hatte sie sich mit diesem Plan befasst. Sie war in dem Glauben hergekommen, offen für neue Lebensformen zu sein, sich auf die der Eingeborenen einstellen zu können. Aber die Grashütte war und blieb ihr ein Gräuel.
Nicht nur die Grashütte .
Damals, bei ihrer Ankunft, waren nackte junge Mädchen an Bord geklettert. Emily hatte sich eingeredet, dass dies hier so üblich sei und es an ihr und Isaac liege, einem derartigen Verhalten einen Riegel vorzuschieben. Aber so tolerant sie auch zunächst hatte sein wollen, gab es ständig neue Dinge, die sie schockierten. Wie die Einheimischen sich kleideten, wie sie aßen, wie sie untereinander zärtliche Gesten tauschten, wie unbeherrscht und schamlos sie sich gaben .
Emily hatte eine Welt hinter sich gelassen, in der es als unschicklich galt, Gefühle zu zeigen. Die Hawaiianer dagegen hielten sich mit ihren Empfindungen niemals zurück. Ob im Zorn oder bei Kummer oder überschwänglicher Freude - sie ließen ihren Emotionen freien Lauf, vergossen unendliche Tränen, lachten, dass sich die Balken bogen. Wie konnte man ihnen beibringen, dass gut erzogene Menschen ihre Gefühle und ihre Ausdrucksweise im Griff behielten?
Und das galt nicht nur für die Hawaiianer. Da gab es auch noch den unerträglichen Mr Clarkson. Emily hatte sich nie für einen Snob gehalten. Sie war mit dem Vorsatz hergekommen, mit allen, die hier lebten, gut auszukommen, auch mit den ehemaligen Seeleuten und den anderen Weißen, die sich hier niedergelassen hatten. Den Hafenmeister jedoch konnte sie beim besten Willen nicht als so etwas wie einen Freund betrachten. Ihm gegenüber und wie man es ihr beigebracht hatte, befleißigte sie sich einer kühlen Höflichkeit, der besten Waffe für eine wohlerzogene Frau, um »ordinäre Zeitgenossen« in die Schranken zu weisen.
»Vielleicht«, sagte sie jetzt zu Isaac, »wäre es besser, wenn wir nicht so wie die Eingeborenen lebten. Wie sollen wir diese Leute zivilisieren, wenn wir ihnen nicht mit gutem Beispiel vorangehen?«
Obwohl diese Begründung so vernünftig wie logisch war, fühlte Emily, wie sie gleichzeitig ein wenig enttäuscht von sich selbst war.
»In der Tat!«, stieß Isaac aus und grinste unerwartet übers ganze Gesicht. »Du hast völlig recht, Weib. Sobald ich zurück bin, fangen wir mit dem Bau eines für uns angemessenen Hauses an! Gott sei mit dir, Emily!« Damit ritt er los.
Kaum war er zwischen den Bäumen verschwunden, sah Emily einen Mann vom Hafen her auf sie zukommen: einen ungepflegten und mürrischen alten Seebären, der in einem Schuppen am Strand hauste und ab und an für Mr Clarkson arbeitete. »Post für Sie, Missus!«, rief er ihr entgegen und wischte sich den Schweiß vom Gesicht.
»Ein Brief?« Ihr Herz schlug höher. Von zu Hause, ja! Ein Brief von ihren Eltern! Was für eine glückliche Fügung. Und so schnell eingetroffen.
Wie sich herausstellte, war die Sendung nicht in New Haven auf den Weg gebracht worden, sondern seltsamerweise inmitten des Ozeans. Wie der alte Haudegen erläuterte, pflegten zur See fahrende Kapitäne befreundeten Schiffen, die in die entgegengesetzte Richtung unterwegs waren, Korrespondenz und andere wichtige Nachrichten zur Beförderung mitzugeben. So auch diesen Stapel Briefe, adressiert an Reverend Isaac und Mrs Stone. Absender war Kapitän MacKenzie Farrow.
Erfreut und verwirrt drückte Emily sie an die Brust und zog sich in ihre Grashütte zurück.
Vor sich hinsummend knüpfte Emily die Bänder ihrer Haube unter dem Kinn zusammen und musterte sich in dem kleinen Spiegel, den sie von zu Hause mitgebracht hatte.
Seit Tagen war sie nicht mehr so guter Laune gewesen.
Kapitän Farrow hatte fünf Briefe verfasst, wobei jeder die Fortsetzung des vorhergehenden war. Er berichtete darin von diesem und jenem, und vor allem betonte er, wie er sich freue, dass ihn bei seiner Rückkehr nach Hilo die Gesellschaft gebildeter Christen erwartete und er gespannt sei zu erfahren,...
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