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Sondra Mallone brauchte eigentlich keine Hilfe mit ihrem Gepäck, aber es war eine ungezwungene Art, mit einem neuen Nachbarn Bekanntschaft zu schließen. Er war auf sie zugekommen, als sie auf dem Parkplatz ihre Sachen aus dem roten Mustang geholt hatte, und bestand darauf, alle vier Koffer allein zu tragen. Er hieß Shawn, war Studienanfänger wie Sondra und war der irrigen Auffassung, sie wäre zu zart, um mit dem ganzen Gepäck allein fertigzuwerden.
Das ging den meisten Männern so, wenn sie Sondra sahen. Ihr Aussehen täuschte. Keiner konnte ahnen, welche Kraft in diesem schlanken Körper steckte, der durch jahrelanges Schwimmen in der Sonne Arizonas trainiert war. Vieles an Sondra Mallone täuschte. Der Name Mallone paßte überhaupt nicht zu ihrer dunklen, exotischen Schönheit. Aber sie war ja auch in Wirklichkeit keine Mallone.
An dem Tag, als Sondra, gerade zwölf Jahre alt, die versteckten Adoptionsdokumente entdeckt hatte, war ihr plötzlich etwas über sich selbst klargeworden. Sie begriff schlagartig, was diese bisher unerklärliche Grauzone tief in ihrem Inneren zu bedeuten hatte, dieses unbestimmte Gefühl, das sie stets begleitete, daß sie nicht heil war, ihr etwas fehlte, was eigentlich zu ihr gehört hätte. Diese Papiere hatten ihr gesagt, daß sie wirklich nicht heil war; daß ein Teil ihres Selbst erst noch gefunden werden mußte, irgendwo in der Welt.
Shawn redete fast unaufhörlich, während sie die Treppe zum ersten Stock des Wohnheims hinaufstiegen. Er konnte kaum den Blick von Sondra wenden. Niemand hatte ihm gesagt, daß er in einem gemischten Wohnheim leben würde. Da, wo er herkam, gab es so etwas nicht; um so erfreulicher zu entdecken, daß zu seinen Hausgenossinnen ein Mädchen gehörte, das aussah wie die Frau seiner Träume.
Sie sprach nicht viel, aber sie lächelte häufig. Er fragte, woher sie käme, und konnte es kaum glauben, als sie Phoenix, Arizona sagte. Mit diesem dunklen Teint und den Mandelaugen! Sondra fand ihn angenehm; ein netter Kerl, gegen dessen Freundschaft nichts einzuwenden war. Aber mehr würde nicht daraus werden. Dafür würde sie sorgen.
»Wie steht es mit Ihrem Sexualleben? Ist es sehr aktiv?« hatte einer der Prüfer sie im vergangenen Herbst gefragt, bei dem persönlichen Gespräch, nach dem die endgültige Entscheidung darüber fallen sollte, ob ein Bewerber angenommen wurde. Sondra wußte, daß man männlichen Bewerbern diese Frage niemals stellte. Nur eine Frau konnte Schwierigkeiten bereiten, wenn sie zur Promiskuität neigte. Sie konnte schwanger werden, das Studium aufgeben, was eine Verschwendung für die Schule von Zeit und Geld bedeutete.
Sondra hatte wahrheitsgemäß »Nein«, gesagt.
Doch als man sie gefragt hatte, ob sie Verhütungsmittel nähme, hatte sie einen Moment überlegen müssen. Sie gebrauchte keine, weil sie es nicht nötig hatte. Doch man mußte diesen Leuten das beruhigende Gefühl geben, daß man eine Frau war, die ihren Uterus und somit ihr Leben unter Kontrolle hatte; darum hatte Sondra »Ja«, geantwortet. Und es entsprach ja auch der Wahrheit. Enthaltsamkeit war die beste Verhütung.
»Wie fandst du die Einführung heute morgen?« fragte Shawn, als sie den ersten Stock erreichten.
Sondra griff in ihre Chaneltasche und zog ihren Zimmerschlüssel heraus. Sie hätte eigentlich schon am Tag zuvor ins Heim einziehen sollen, aber sie hatte die Fahrt nach Los Angeles zu spät angetreten - eine SurpriseParty, die ihre Freunde für sie gegeben hatten - und war erst diesen Morgen, gerade noch rechtzeitig zur Einführung hier angekommen.
»Ich war ziemlich baff, als ich hörte, daß es. hier Kleidervorschriften gibt«, antwortete sie, während sie die Tür aufsperrte und zurücktrat, um Shawn mit ihren Koffern vorbeizulassen. »So was hab ich seit meinen high-school Tagen nicht mehr gehört.«
Er stellte die drei großen Koffer auf den Boden und das Kosmetikköfferchen auf das Bett. Sondras Gepäckstücke waren alle weiß und mit ihren Initialen versehen.
»Oh«, rief sie und lief an ihm vorüber zum Fenster über dem Schreibtisch. Genau das, was sie sich erhofft hatte: hinter Palmen und Pinien konnte sie einen blauen Streifen Meer sehen.
Sondra, die ihr zweiundzanzigjähriges Leben lang im trockenen Arizona gelebt hatte, wo es keine größeren Gewässer gab, hatte sich bei den medizinischen Fakultäten beworben, wo Wasser in der Nähe war; ein großes Gewässer, ein Meer oder ein Fluß, der sich in der Ferne verlor. Es sollte ihr eine ständige Erinnerung daran sein, daß jenseits ein anderes Land lag, ein neues Land, ein Land fremder Menschen mit eigenen Sitten und Gebräuchen, ein Land, das winkte und lockte, sie gelockt hatte, so weit sie zurückdenken konnte. Und eines Tages in naher Zukunft, wenn sie die Ausbildung hinter sich und ihre Promotion in der Hand hatte, würde sie dort hinausziehen, in die Welt .
»Warum wollen Sie Ärztin werden?« hatten die Prüfer sie im vergangenen Herbst gefragt.
Sondra hatte gewußt, daß sie ihr diese Frage stellen würden. Ihr Berater an der Universität von Arizona hatte sie auf das Gespräch vorbereitet und ihr gesagt, was für Antworten die Prüfer hören wollten. »Sagen Sie nur nicht, daß sie Ärztin werden wollen, weil Sie den Menschen helfen wollen«, hatte der Berater sie gewarnt. »Das hören sie gar nicht gern. Schon weil es so pathetisch klingt. Außerdem ist es nicht originell. Und schließlich wissen sie verdammt gut, daß nur eine Handvoll Studenten aus rein altruistischen Gründen Medizin studieren. Sie bevorzugen eine ehrliche Antwort, direkt aus dem Kopf oder aus der Brieftasche. Sagen Sie, Sie streben berufliche Sicherheit an oder Sie haben ein wissenschaftliches Interesse an der Ausrottung von Krankheiten. Sagen Sie nur nicht, daß Sie der Menschheit helfen wollen.«
Sondra hatte ruhig und fest geantwortet: »Weil ich den Menschen helfen möchte«, und die sechs Prüfer hatten gemerkt, daß es ihr ernst war. Sondras Augen besaßen starke Überzeugungskraft; ihr Blick war klar und offen und ohne Furcht.
In Wahrheit hatte sie tiefere Gründe, aber es war nicht notwendig, darauf einzugehen. Sondras Wunsch, den Menschen zu helfen, von deren Stamm sie kam - wer immer sie sein mochten -, war für die sechs Prüfer nicht von Interesse. Es reichte, daß sie ihn spürte, daß er sie vorwärts trieb und ihr eine unerschütterliche Selbstgewißheit und Sicherheit über den Sinn ihres Lebens einflößte. Sondra wußte nicht, wer ihre Eltern waren und warum sie sie fortgegeben hatten, doch an ihrer dunklen Hautfarbe und dem schwarzen Haar, das sie lang und glatt trug, an ihren langen Gliedern und kräftigen Schultern war leicht zu sehen, was für Blut in ihren Adern floß. Und nachdem sie die Adoptionsunterlagen gefunden und erfahren hatte, daß sie in Wirklichkeit nicht die Tochter eines wohlhabenden Geschäftsmanns aus Phoenix war, sondern das Kind einer unbekannten Tragödie, hatte sie gewußt, wohin es sie trieb. »Ich will nicht in einer Nobelklinik arbeiten«, hatte sie ihren Eltern erklärt. »Ich schulde es ihnen, dorthin zu gehen, wo ich gebraucht werde.«
»Du kannst froh sein, daß du ein Auto hast«, sagte Shawn hinter ihr.
Sie drehte sich lächelnd um. Er lehnte, die Hände in den Taschen seiner Jeans, am Türpfosten.
»Ich hatte zwar gehört, daß Los Angeles eine Riesenstadt ist«, fuhr er fort, »aber auf das hier war ich nicht gefaßt. Ich bin jetzt vier Tage hier, aber ich hab immer noch keinen Schimmer, wie die Leute von einem Ort zum anderen kommen.«
Sondras Lächeln vertiefte sich. »Du kannst jederzeit mein Auto leihen.«
Shawn starrte sie an. »Vielen Dank!«
Gehetzt von der Befürchtung, sie könnte es nicht schaffen, an diesem ersten Tag alle Formalitäten zu erledigen, rannte Ruth Shapiro, in weißen Jeans und schwarzem Rolli, den gepflasterten Weg zum Verwaltungsgebäude entlang. Kurzbeinig und etwas rundlich jagte sie zwischen den Grünanlagen hindurch, um ja noch rechtzeitig zur Kasse zu kommen, und dabei fiel ihr ein anderes Rennen ein, das sie vor langer Zeit gelaufen war.
Ein pummeliges kleines Ding, mit flatterndem braunen Haar, von zehn Jahren war sie damals gewesen, als sie schnaufend und prustend wie eine kleine Lokomotive um die matschige Bahn der Grundschule in Seattle gekeucht war, eisern entschlossen zu siegen - für Daddy. Sie mußte diesen Preis unbedingt gewinnen. Sie wollte ihn ihrem Vater wie ein Opfer bringen, um ihm zu zeigen, daß er sich in ihr getäuscht hatte, daß sie doch keine Versagerin war. Am Ende war sie nicht als erste oder zweite eingelaufen, sondern als dritte, aber das machte nichts, weil es auch für die Drittplacierte einen Preis gab, einen großen, teuren Malkasten, den Ruth unter ihrem Regenmantel nach Hause trug. Als ihr Vater aus dem Krankenhaus heimgekommen war, hatte sie ihm den Preis scheu auf den Schoß gelegt, und zum erstenmal in Ruths zehnjährigem Leben war ihr Vater stolz auf sie gewesen.
Keine geringe Leistung, sich die Bewunderung und den Beifall des Mannes zu erwerben, der es ihr zehn Jahre lang nachgetragen hatte, daß sie als Mädchen zur Welt gekommen war. Dr.Mike Shapiro hatte den Malkasten auf das Kaminsims gelegt, wo die Fotografien und Ehrenurkunden von Ruths drei Brüdern standen, und hatte in den folgenden Tagen jedem, der zu Besuch ins Haus kam, den Preis mit der Bemerkung gezeigt: »Man sollte es nicht für möglich halten! Unsere dicke kleine Ruth hat dieses Prachtstück beim Langstreckenlauf gewonnen.«
Sechs herrliche Tage lang hatte sich Ruth im Stolz ihres Vaters gesonnt, überzeugt, daß jetzt alles gut werden, es keine kritischen Bemerkungen und keine enttäuschten Blicke mehr geben würde. Bis ihr...
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