Schweitzer Fachinformationen
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Im Jahre 1150
Der Läufer rannte die gepflasterte Straße hinab, während sein Herz angstvoll pochte. Obwohl seine Füße bluteten, wagte er es nicht, stehen zu bleiben. Er schaute zurück. Seine Augen waren vor Angst geweitet. Er stolperte, verlor beinahe das Gleichgewicht und lief dann wie getrieben weiter. Er musste den Klan warnen.
Ein Dunkler Herrscher kam.
Hoshi'tiwa saß am Fuß der Klippe in der Sonne und spann Baumwolle für ihr Brautkleid. Sie saß im Schneidersitz, während sie eine hölzerne Spindel an ihrem Oberschenkel auf und ab rollte, geschickt saubere Fasern aus einem mit gekämmter Baumwolle gefüllten Korb zupfte und sie dem zunehmend dicker werdenden Faden hinzufügte, der gefärbt und zu einem Band für ihr Haar verwoben werden sollte.
Rund um sie herum ging ihr Klan seinen täglichen Verrichtungen nach: Die Bauern pflanzten Mais, die Frauen kümmerten sich um die Herdfeuer und beaufsichtigten die Kinder, und die Töpfer gestalteten Regenkrüge, für die ihr Klan berühmt war. Allerdings waren einige der Töpfer von ihrer Arbeit abberufen worden, um bei der diesjährigen Pflanzung zu helfen, denn im Vorjahr, als sie ihre jährliche Maisabgabe zum Ort der Mitte brachten, wurde dem Sonnenvolk gesagt, sie müssten in diesem Jahr die doppelte Menge abliefern. Das belastete den Klan, aber da alle zusammenarbeiteten, waren sie sich sicher, dass sie die Forderung erfüllen könnten.
Während Hoshi'tiwa die Baumwolle spann, wusste sie nicht, dass ein fremdartiges Menschengeschlecht auf der anderen Seite der Erde diesen Sonnenzyklus das Jahr 1150 Anno Domini nannte. Sie konnte nicht ahnen, dass diese Menschen auf den Rücken von Tieren ritten, etwas, was ihr eigenes Volk nicht tat, und zum Transport von Waren ein Gerät benutzten, das Rad genannt wurde. Hoshi'tiwa wusste nichts von Kathedralen und Schießpulver, Kaffee und Uhren, noch wusste sie, dass diese fremdartigen Menschen ihren Felsschluchten, Flüssen und Hügeln Namen gaben.
Hoshi'tiwas Ansiedlung hatte keinen Namen. Und auch nicht der nahe gelegene Fluss und die Berge, die über sie wachten. Viele Jahre später würde eine andere Menschenrasse an diesen Ort kommen und allem, was sie sahen und worauf sie einherschritten, Namen geben. Zweihundert Meilen südöstlich des Ortes, an dem Hoshi'tiwa die warme Sonne auf ihren Armen spürte, würde eine Stadt errichtet und Albuquerque genannt werden. Das sie umgebende, 120 000 Quadratmeilen große Gebiet würde als New Mexico bekannt. Die junge Braut wusste auch nicht, dass Jahrhunderte später Fremde das Land nördlich ihrer Ansiedlung durchstreifen und es Colorado nennen würden.
Sie kannte nur einen Ort namentlich, den Ort der Mitte, so genannt, weil er für ihr Volk der Mittelpunkt des Handels und des Gedankenaustauschs sowie ein wichtiges religiöses Zentrum war. Jahrhunderte später jedoch sollte der Ort Chaco Canyon genannt werden, und Männer und Frauen, die als Anthropologen bezeichnet werden, würden in den Ruinen von Chaco Canyon stehen und über das spekulieren, argumentieren, debattieren und theoretisieren, was sie die »Preisgabe« nannten.
Sie würden sich fragen, jene Menschen in der fernen Zukunft, warum Hoshi'tiwa und ihr Volk, welche die Anthropologen unrichtig »Anasazi« nennen würden, so plötzlich und spurlos verschwunden waren.
Hoshi'tiwa ahnte nicht, dass sie eines Tages Teil eines uralten Mysteriums sein würde. Hätte sie es gewusst, hätte sie gesagt, an ihrem Leben sei nichts Geheimnisvolles. Ihr Klan lebte seit Generationen am Fuße dieses Steilabbruchs an der Biegung des kleinen Flusses, und in all diesen Jahrhunderten hatte sich nur wenig verändert. Ihre Häuser waren vielleicht größer und ein wenig aufwendiger geworden, und die Töpferwaren trugen kunstvollere Muster. Aber abgesehen davon glich jede Generation der vorhergehenden.
Hoshi'tiwa war die Tochter eines einfachen Händlers, die die ihr widerfahrenen Segnungen an den Fingern einer Hand abzählen konnte und sicher in dem Wissen ruhte, dass morgen alles genauso sein wird wie heute.
Der Läufer stürzte und schlug sich das rechte Knie schmerzhaft auf. Während er sich wieder aufrappelte, spürte er in den Pflastersteinen der breiten Hauptstraße die mächtigen Schritte des herannahenden Heers. Er schluckte angstvoll.
Die Kannibalen kamen.
Hoshi'tiwa blickte zur stattlichen Gestalt Ahotés an der Gedächtniswand hinüber. Sein sehniger Körper glänzte in der Sonne, da er nur einen Lendenschurz trug. Unter der Anleitung seines Vaters rezitierte er die Geschichte des Klans, wobei er die auf die Mauer gemalten bildlichen Darstellungen als Anhaltspunkte nutzte. Jedes Symbol stellte ein großes Ereignis in der Vergangenheit des Klans dar. Ahotés Vater deutete auf die Kokopilau, also »Flötenspieler« genannte Gestalt, dessen Rücken sich unter dem Gewicht eines schweren Sackes beugte, in dem er Geschenke und Segnungen mit sich trug. Die Kokopilau waren eine geheime Bruderschaft von Menschen, die für ihre wunderliche Art und ihre mildtätigen Taten bekannt waren. Niemand kannte die Herkunft der Bruderschaft oder wusste, welche Eide ihre Mitglieder geschworen hatten oder welchen Göttern sie dienten, aber die Kokopilau durchstreiften das Land und waren an jedem Herdfeuer willkommen. Jeder Besuch eines Kokopilau bedeutete eine Zeit der Feierlichkeiten, denn er brachte Glück und förderte die Fruchtbarkeit. Der Besuch, an den auf der Gedächtniswand erinnert wurde, als ein Kokopilau sieben Tage beim Klan verbrachte, hatte eine bessere Maisernte und Schwangerschaften bei den Ehefrauen zur Folge gehabt.
An der Gedächtniswand waren viele weitere Symbole zu sehen - Spiralen, Tiere, Menschen, Lichtblitze -, zu viele, als dass sich der ganze Klan an alle Ereignisse erinnern könnte, sodass dies die Aufgabe eines einzelnen Mannes war, Er-der-die-Menschen-verbindet, und zwar seine einzige. Er brauchte nicht einmal bei der Ernte zu helfen, obwohl alle anderen, einschließlich der Kinder, daran mitarbeiteten, weil Er-der-die-Menschen-verbindet jeden Tag die Wand besuchen und die dort festgehaltene, umfangreiche Geschichte für sich rezitieren musste.
Hoshi'tiwas Herz ging auf vor Liebe und Hoffnung. Das Leben war schön. Überall blühten Frühlingsblumen. Der nahe gelegene Fluss führte kühles, frisches Wasser mit sich und wimmelte von Fischen. Der Klan war gesund und gedieh. Und Hoshi'tiwa, sechzehn Jahre alt, freute sich auf ihren Hochzeitstag.
Sie wusste, dass sie Glück hatte, einen Jungen ihres eigenen Klans heiraten zu dürfen. Es bedeutete, dass sie nicht in ein anderes Dorf ziehen und von ihrer Familie getrennt sein musste. Die Verlobung unterlag komplexen Regeln, und Tabus wurden streng beachtet. Nur durch die Besonderheit seiner Abstammung durfte Ahoté, den sie schon liebte, seit sie Kinder waren, innerhalb des Klans heiraten. Er brauchte sich keine Gefährtin in den entlegenen Ansiedlungen zu suchen.
Vor einer Verlobung wurden die Blutlinien strengstens geprüft. Die Ältesten des Klans studierten das komplizierte Netzwerk der Onkel, Tanten und Cousins mütterlicherseits, der Onkel, Tanten und Cousins väterlicherseits, die alle in einer besonderen Beziehung zur zukünftigen Braut oder dem Bräutigam standen. Sie verbrachten Tage damit, zu debattieren, Erinnerungen hervorzuholen und sich am Kopf zu kratzen, um diesen Linien nachzuspüren, da es Unglück über einen Klan brachte, wenn unbeabsichtigt eine tabuisierte Verbindung zustande käme.
Es stellte sich heraus, dass Ahotés Vater, Er-der-die-Menschen-verbindet, nicht mit Hoshi'tiwas Eltern blutsverwandt war, nicht einmal als entfernter Cousin. Ahotés Großvater hatte sich dem Klan angeschlossen, als er die Tochter eines Geisttänzers heiratete, und er wäre selbst ein Geisttänzer geworden, wenn Er-derdie-Menschen-verbindet seinen einzigen Sohn nicht durch eine mysteriöse Bluterkrankheit verloren hätte. Dies hatte den Klan in Panik versetzt. Wenn niemand die Gedächtniswand lesen könnte, würden sie ihre Vergangenheit und ihre einzige Verbindung zu den Vorfahren verlieren. Die Ältesten hatten sich nach einem Ersatz umgesehen und festgestellt, dass der Schwiegersohn des Geisttänzers einen klaren Verstand besaß und sich darin auszeichnete, alle Dinge im Gedächtnis zu behalten. Daher durfte Ahoté nun zwei Generationen später Hoshi'tiwa heiraten.
Ahoté schaute zu der wunderschönen Hoshi'tiwa hinüber, die im Sonnenschein saß, ihre mohnblumenrote Tunika ein helles, warmes Leuchten. Sein Körper regte sich vor männlichem Verlangen, und er dachte an seine kommenden Nächte als Ehemann. Erst als ihn sein Vater fest in den Arm kniff, wandte er seine Gedanken wieder dem Unterricht zu. Er rezitierte: »Und dann erlebte das Volk den Frühling der Jagd im Überfluss, als der Elch von der Mesa herabkam, um sich ihnen als Nahrung darzubieten.« Das auf die Mauer gemalte Symbol zeigte einen Elch mit Pfeilen im Körper.
Das letzte Symbol auf der Mauer war ein Kreis mit sechs dahinter verlaufenden Linien, welches die Sichtung eines Himmelskörpers vermerkte, der im vorigen Sommer über den Horizont gestreift war. Seitdem hatte man keine neuen Symbole hinzugefügt, weil nichts Bedeutendes geschehen war. Während Ahoté vor seinem Vater rezitierte, fragte er sich, welches neue Symbol als Nächstes hinzugefügt und die lange Geschichte des Klans fortführen würde.
Der Läufer stürzte erneut und hinterließ eine Blutspur auf der Sandsteinoberfläche der Straße. Seine...
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