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August 1846
»Wenn der Junge stirbt, Kapitän, übernehmen wir das Schiff und steuern die nächstgelegene Küste an. Dieses Schiff ist ein Totenschiff, und wir werden nicht zulassen, dass unsere Familien mitten auf dem Ozean krepieren.« Der wütende Ire ballte die Faust, um seiner Drohung Nachdruck zu verleihen.
»Ich kann Ihnen versichern«, entgegnete Kapitän Llewellyn, der das Kommando auf der Caprica innehatte, »dass Dr. Applewhite alles daransetzt, um die Gefahr der Ansteckung zu bannen.«
»Ach wirklich?«, rief ein Schotte, die Hand am schweren Belegnagel. »Wieso sterben wir dann hier unten wie die Fliegen, und die da oben bleiben davon unbehelligt?« Er deutete zum Achterdeck hoch, wo die vier zahlenden Passagiere weitaus mehr Annehmlichkeiten genossen als die über zweihundert Auswanderer, die sich im Zwischendeck der Caprica drängten.
Llewellyn atmete tief durch, um seinen Unmut im Zaum zu halten. Während der Dreimaster rollend und schlingernd seinem Kurs über das weite Meer folgte, musterte der missmutige Kapitän, ein stämmiger Mann mit buschigem weißen Backenbart und rauen Umgangsformen, den aufgebrachten Iren. Bewaffnet schien er nicht zu sein, befand Llewellyn, dennoch dürften Mannschaft wie Offiziere, wenn es denn zu einer Meuterei kommen sollte, schlechte Karten haben. Der Ire war ja nicht der Einzige, der sich ereiferte. Fast hundert aufgebrachte Schotten, Waliser und Engländer hatten vorübergehend ihre zahlreichen politischen und religiösen Differenzen vergessen und sich neben ihm an Deck aufgebaut, vereint in der Absicht, das Schiff zu übernehmen, falls der kleine Ritchie starb.
Als immer mehr Aussiedler wütend an Deck drängten, warf Kapitän Llewellyn einen Blick hoch zum Achterdeck, von wo aus ein einzelner Passagier das Geschehen verfolgte - Neal Scott, der junge Amerikaner und einer der vier zahlenden Mitreisenden auf der Caprica, ein Wissenschaftler auf dem Weg nach Perth, wo er auf einem Forschungsschiff der Kolonialregierung arbeiten sollte. Ein netter Bursche, befand Llewellyn, auch wenn es ein wenig seltsam anmutete, dass er darauf bestanden hatte, seine komischen Kisten mit in die Kabine zu nehmen, statt sie im Frachtraum zu verstauen. Dass Mr. Scott den sich zuspitzenden Aufruhr aufmerksam verfolgte, war dem Kapitän unangenehm: Scott informierte bestimmt die anderen, und dann hätte der Kapitän seine liebe Not, die Wogen zu glätten.
Llewellyn, dessen Augen die Farbe von Glockenblumen hatten und stechend aus den Falten seines verwitterten Gesichts leuchteten, wandte sich wieder dem Iren zu und sah ihn durchdringend an, derweil sich hinter den aufgebrachten Männern jetzt auch Frauen zusammenrotteten, Witwen, die Ehemänner und Kinder auf See begraben hatten und die jetzt mit Besenstielen und Belegnägeln drohten. Es wird zu einem Blutbad kommen, argwöhnte Llewellyn. Und keine Seite wird gewinnen.
Obwohl er ein guter Kapitän war und seine Mannschaft besser behandelte als üblich, wusste er, dass das Leben eines Seemanns schwer genug war und dass seine Leute, falls die Auswanderer die Kontrolle über das Schiff übernahmen und sich, wie zu erwarten, großmütig zeigten, nur allzu bereitwillig den nächstbesten Felsen ansteuern würden. Er wandte sich an seinen Ersten Offizier. »Holen Sie Dr. Applewhite«, sagt er ruhig.
Mister James zögerte. »Halten Sie das für angebracht, Sir? Der Doktor war bereits zum wiederholten Male dort unten.«
Im Laufe seiner vielen Seereisen, bei denen jedes Mal ein Schiffsarzt mit an Bord gewesen war, hatte Kapitän Llewellyn die Erfahrung gemacht, dass man nie genau wusste, woran man mit dem jeweiligen Mediziner war. Schon weil sie, anders als die Besatzung, keinem Reglement unterstanden. Llewellyn hatte jahrelang als Matrose gedient und im Anschluss daran ein umfangreiches Navigationsstudium absolvieren müssen, das neben Sternkunde Kartenlesen beinhaltete, ferner die Bedienung eines Sextanten und die Einschätzung der Windrichtungen, ehe er sein Kapitänspatent erhielt. Im Gegensatz dazu konnte sich quasi jeder x-Beliebige als Arzt ausgeben. Es gab keine bestimmten Voraussetzungen, keine festen Vorschriften, nichts, wodurch die Kompetenz eines Mediziners nachgewiesen werden musste. Private Einrichtungen, in denen man sich in nur sechs Monaten zum Arzt ausbilden lassen konnte und mit einem Diplom entlassen wurde, schossen wie Pilze aus dem Boden. Wenn man einen Schiffsarzt anheuerte, wusste man also nie, ob er zu denen gehörte, die nur über ein Grundwissen und kaum Erfahrung verfügten und eine Eiterbeule nicht von Wundschorf unterscheiden konnten, oder ob es sich um einen Absolventen aus Oxford handelte, der jeden Nerv des menschlichen Körpers benennen konnte und für jedes seiner hochgestochenen Worte einen Schilling in Rechnung stellte. Llewellyn hatte genug solcher Scharlatane und Snobs an Bord gehabt, um Applewhite, mal über den Daumen gepeilt, unter die Fähigeren einzureihen. Wenn einer die Ansteckungsgefahr eindämmen konnte, dann war es Applewhite.
»Bringen Sie ihn her«, wiederholte er leise, »schon um diese Raubeine zum Rückzug zu bewegen.«
»Wie auffallend ruhig es draußen ist«, meinte Mrs. Merriwether und schaute vom Salon aus durch die offene Tür in Richtung Niedergang. »Normalerweise kann man die Pfeifen und Fideln der Aussiedler auf dem Hauptdeck hören. Dass es so still ist, mutet direkt unheimlich an.«
»Nicht doch«, meinte ihr Ehemann, der Reverend Merriwether, begütigend, ohne sich seiner Sache sicher zu sein.
»Ich bin überzeugt, dass Kapitän Llewellyn alles im Griff hat«, warf Hannah Conroy ein, da die beiden so verstört waren.
Die Merriwethers waren ein Missionarsehepaar auf dem Weg nach Australien. Hannah mochte die Frau des Reverends, eine rundliche Mittfünfzigerin, die ein blauweiß gestreiftes Reisekleid trug und wie Hannah ihr Haar in der Mitte gescheitelt und hinten zu einem Knoten zusammengefasst hatte (nur dass sich über ihren Ohren noch ein paar längst aus der Mode gekommene Löckchen ringelten, die beim Sprechen auf und nieder wippten).
Der Reverend selbst war korpulent und wartete neben einem sonnigen Gemüt mit einer spiegelblanken Glatze auf - ein Schönheitsfehler, den er, wie Hannah vermutete, durch einen überaus buschigen grauen Backenbart wettzumachen suchte.
Die Merriwethers hatten Hannah im wahrsten Sinne des Wortes gerettet.
Obwohl eine gerichtliche Untersuchung ergeben hatte, dass Lady Margaret eines natürlichen Todes gestorben und obwohl der Name von Hannahs Vater reingewaschen worden war, schien danach nichts mehr zu sein wie vorher. Mochten die Dorfbewohner John Conroy noch so sehr geschätzt haben - ihre Angst vor Lord Falconbridge war größer. Und je länger der Baron und Dr. Willoughby dem Quäker unterstellten, für den vorzeitigen Tod der Baronin verantwortlich zu sein, umso nachhaltiger wurde der Name Conroy verunglimpft. Mrs. Endicott, die Frau des Geflügelzüchters, die Hannah gebeten hatte, ihr bei ihrer neunten Entbindung zur Seite zu stehen, sagte ihr mit einem »Tut mir leid, aber ich muss Rücksicht auf meine Kundschaft nehmen« ab. Als ob schon der Name Conroy ihren Hühnereiern Schaden zufügen könnte! Für Hannah stand fest, dass niemand ihre Dienste in Anspruch nehmen würde, dass Bayfield nicht länger ihr Zuhause war.
Das galt nicht nur für Bayfield, sondern auch für England. Wo immer sie sich auch niederließe, sie würde auf die gleichen Vorurteile stoßen, auf die gleiche Engstirnigkeit, die letztlich zum Tod ihres Vaters geführt hatte. Hatte er nicht mit ersterbendem Atem gesagt: »Du stehst an der Schwelle zu einer herrlichen neuen Welt!« Aus diesem Grund wollte Hannah in eine neue Welt aufbrechen. Und wenn sie sich dort ein neues Leben aufbaute, könnte sie möglicherweise hinter das Geheimnis von John Conroys weiteren letzten Worten kommen, für die sie keine Erklärung fand: Zum einen ging es da um die »Wahrheit« über den Tod ihrer Mutter, zum anderen um einen Brief, den sie lesen sollte, den sie aber in seinem Nachlass nicht gefunden hatte.
Nachdem sie den Vater begraben und das Häuschen verkauft hatte, war Hannah nach London gefahren, um eine Passage nach Australien zu buchen, wo, wie sie gehört hatte, die Sonne golden strahlte und sich jedem Möglichkeiten ohne Ende boten. Allerdings musste sie zur Kenntnis nehmen, dass kein Kapitän bereit war, eine junge, unverheiratete Dame ohne Begleitung an Bord zu nehmen. »Sie würden Offizieren und Mannschaft nur den Kopf verdrehen«, hatte einer erklärt. »Ich möchte nicht riskieren, die Moral meiner Leute zu untergraben.« Da sich Hannah nicht leisten konnte, eine Gesellschaftsdame in ihre Dienste zu nehmen, stand zu befürchten, sie würde Britannien nicht verlassen können. Glücklicherweise jedoch machte der Agent, bei dem sie wegen ihrer Passage vorstellig geworden war, ein Missionarsehepaar ausfindig, das nach Perth wollte. Er schickte einen Brief an das Gasthaus, in dem die Eheleute abgestiegen waren, mit dem er anfragte, ob sie etwas dagegen hätten, für die Dauer der Reise eine junge Dame unter ihre Fittiche zu nehmen. Man arrangierte ein Treffen, nach dem die Merriwethers Hannah, auch wenn sie nicht viel Geld hatte, für charakterlich einwandfrei befanden und sich erboten, über ihr Wohlergehen an Bord zu wachen.
Jetzt allerdings, da sie bereits wochenlang auf hoher See unterwegs waren und als drei der vier zahlenden Passagiere im geschmackvollen Salon der Caprica saßen, wo sie versuchten, sich auf ihr Mittagessen, bestehend aus Tafelspitz und Kartoffeln, zu konzentrieren, lag Abigail Merriwether...
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