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Der Aufstieg der Neuen Hongkonger
Ich bin 1996 geboren, im Jahr der Feuerratte, neun Monate bevor Hongkong an die Regierung Chinas zurückgegeben wurde.
Dem chinesischen Horoskop zufolge, das einen 60-Jahre-Zyklus umspannt, ist die Feuerratte abenteuerlustig, rebellisch und geschwätzig. Obwohl ich als Christ weder an westliche noch an östliche Astrologie glaube, treffen diese Persönlichkeitsvoraussagen ziemlich genau den Nagel auf den Kopf - vor allem, was meine Redseligkeit angeht.
»Als Joshua noch ein Baby war, machte er sogar mit dem Fläschchen im Mund alle möglichen Geräusche, als würde er eine Rede halten.« Mit diesen Worten stellt meine Mutter mich immer noch neuen Mitgliedern unserer Kirchengemeinde vor. Ich selbst habe nicht die leiseste Erinnerung an mich als Baby, aber ihre Beschreibung ist absolut überzeugend, und ich glaube ihr aufs Wort.
Als ich sieben Jahre alt war, wurde bei mir Legasthenie diagnostiziert, eine Schreib- und Leseschwäche. Meine Eltern hatten die Anzeichen schon früh bemerkt, als ich mit den einfachsten chinesischen Schriftzeichen Schwierigkeiten hatte. Simple Wörter, die Vorschulkinder in wenigen Tagen lernten, wie »groß« () und »sehr« (), sahen für mich völlig gleich aus. Ich machte bis weit in meine Teenagerjahre hinein bei Hausaufgaben und Prüfungen immer dieselben Fehler.
Das Reden aber war von meiner Lernschwäche nicht beeinträchtigt. Durch selbstbewusstes Sprechen konnte ich meine Schwächen ausgleichen. Das Mikrophon liebte mich, und ich liebte es noch mehr. Als Kind erzählte ich in Kirchengruppen gern Witze und stellte Fragen, die selbst größere Kinder sich nicht zu stellen trauten. Ich bombardierte den Pastor und die Kirchenältesten mit Fragen wie: »Wenn Gott so voller Gnade und Sanftmut ist, warum lässt Er dann zu, dass arme Leute in Hongkong in Käfighäusern wohnen?« oder »Wir spenden der Kirche jeden Monat Geld, wohin geht dieses Geld?«
Wenn meine Eltern mit mir nach Japan und Taiwan reisten, schnappte ich mir das Megaphon des Touristenführers und erzählte den Leuten, was ich im Internet gefunden hatte über die Sehenswürdigkeiten vor Ort und über mögliche Ausflüge, sprang dabei von einem Thema zum nächsten, als wäre es das Natürlichste auf der ganzen Welt. Die Zuhörer klatschten mir Beifall.
Mit meiner Revolverschnauze und der angeborenen Wissbegier erntete ich Lob und Schmunzeln, wohin ich auch kam. Dank meiner geringen Körpergröße und den Pausbacken galt mein Verhalten, das anderenfalls vielleicht als nervig oder anmaßend empfunden worden wäre, als »niedlich«, »drollig« oder »altklug«. Während manche Lehrer und Eltern sich wünschten, dieser kleine Besserwisser würde gelegentlich den Mund halten, waren sie normalerweise in der Minderheit, und in der Schule und der Kirche waren alle ganz vernarrt in mich. »Ihr Junge ist etwas Besonderes. Aus dem wird eines Tages ein großartiger Anwalt!«, sagten die Kirchgänger zu meinem Vater.
Im Westen sehen die Menschen in einem altklugen Kind vielleicht einen aufstrebenden Politiker oder Menschenrechtsaktivisten, in Hongkong dagegen - einer der kapitalistischsten Gegenden der Welt - würde man solche Berufsziele dem ärgsten Feind nicht wünschen. Hier ist eine lukrative Karriere als Jurist, Mediziner oder Finanzexperte aus Sicht der Eltern der Inbegriff des Erfolges. Aber meine Eltern denken anders und haben mich auch anders erzogen.
Meine Eltern sind beide fromme Christen. Mein Vater war in der IT-Branche tätig, bevor er sich vorzeitig in den Ruhestand versetzen ließ, um sich auf Kirchenangelegenheiten und Gemeindearbeit zu konzentrieren. Meine Mutter arbeitet in einem lokalen Familienberatungszentrum. Sie haben 1989 geheiratet, nur Wochen nachdem die chinesische Regierung Panzer auf den Platz des Himmlischen Friedens geschickt hatte, um dort die demonstrierenden Studenten niederzuschießen. Meine Mutter und mein Vater kamen überein, ihre Hochzeitsfeier abzusagen, und schickten handgeschriebene Zettel an Freunde und Verwandte mit einer einfachen Botschaft: »Unser Land steckt in der Krise, die Neuvermählten legen keinen Wert auf Förmlichkeiten.« In einer Kultur, in der ein kostspieliges Hochzeitsbankett ein ebenso wichtiger Übergangsritus ist wie die Hochzeit selbst, war ihre Entscheidung ebenso mutig wie nobel.
Mein chinesischer Name, Chi-fung, ist von der Bibel inspiriert. Die Schriftzeichen bedeuten »etwas Scharfes«, ein Bezug auf Psalm 45,6, in dem es heißt: »Deine Pfeile sind scharf, dir unterliegen die Völker, die Feinde des Königs verlieren den Mut.« Meine Eltern wollten gewiss nicht, dass ich mit Pfeilen auf jemanden schieße, sondern dass ich die Wahrheit ausspreche und sie führe wie ein Schwert, um Lügen und Unrecht zu durchbohren.
Abgesehen von meiner ungewöhnlichen Gesprächigkeit war ich ein recht durchschnittliches Kind. Mein bester Freund in der Grundschule war Joseph. Er war größer als ich, sah besser aus und bekam bessere Noten. Er hätte auch mit den beliebten Kindern abhängen können, aber uns verband die Angewohnheit, gerne zu schwatzen, auch während des Unterrichts, obwohl wir sieben Stühle voneinander entfernt saßen. In der zweiten Klasse (im Alter von sechs bis sieben Jahren) war unser Lehrer Mr. Szeto dermaßen genervt von unserem permanenten Schwätzen, dass er den Leiter der Schule bat, uns im darauffolgenden Schuljahr in unterschiedliche Klassen zu setzen. Doch das funktionierte nicht.
Joseph und ich waren unzertrennlich. Nach der Schule trafen wir uns entweder bei mir oder bei ihm zu Hause, um Videospiele zu spielen und Manga-Comics zu tauschen. Mein erster Kinofilm war Batman: The Dark Knight, ein Hollywood-Blockbuster, der teilweise in Hongkong spielte - und ich sah ihn mit Joseph.
Wir hatten noch etwas gemein. Unsere Klasse war die erste, deren Schüler nach der Rückgabe geboren waren. Wir sind die Generation, die während des wichtigsten politischen Ereignisses in Hongkongs Geschichte das Licht der Welt erblickte. Am 1. Juli 1997, nach 156 Jahren unter britischer Herrschaft, legte Hongkong seine koloniale Vergangenheit ab und kehrte zum Kommunistischen China zurück. Die Rückgabe hätte ein Grund zum Feiern sein sollen - eine Wiedervereinigung zwischen Mutter und Kind und eine Gelegenheit für die lokale Wirtschaftselite, den aufstrebenden Markt auf dem Festland anzuzapfen -, doch für die meisten Hongkonger Bürger war sie das nicht. Viele unserer Verwandten und Freunde hatten Hongkong schon Jahre vor diesem schicksalhaften Datum verlassen, aus Angst vor der kommunistischen Herrschaft. Als ich auf die Welt kam, war fast eine halbe Million Bürger in die USA, Großbritannien, Kanada, Australien oder Neuseeland ausgewandert. Für sie war der Kommunismus gleichbedeutend mit den Unruhen infolge des »Großen Sprungs nach vorn« - einer gescheiterten wirtschaftlichen Kampagne zwischen 1958 und 1962 zur Industrialisierung Chinas, die mit dem Hungertod von ungefähr 30 Millionen Bauern endete - und den politischen Unruhen nach der Kulturrevolution. Letztere war eine soziopolitische Kampagne zwischen 1966 und 1976, angeführt von dem Vorsitzenden Mao Zedong, um kapitalistische Tendenzen und politische Gegner auszumerzen. Das kommunistische Regime war der Grund, warum sie und ihre Eltern nach Hongkong geflüchtet waren; der Gedanke, nun an diese »Diebe und Mörder« - wie meine Großmutter es ausdrückte - zurückgegeben zu werden, vor denen sie geflüchtet waren, war furchterregend und unvorstellbar.
Ich kannte das alles nur vom Hörensagen. Für jemanden, der unter der chinesischen Herrschaft aufgewachsen ist, waren die Berichte darüber allenfalls Geschichten und Großstadtlegenden. Die einzige Fahne, die ich auf öffentlichen Plätzen und vor Regierungsgebäuden hatte wehen sehen, war die chinesische mit den fünf Sternen. Abgesehen von den Doppeldeckerbussen im Stile Londons oder den englisch klingenden Straßennamen wie Hennessy, Harcourt und Connaught, habe ich keinerlei Erinnerung an das koloniale Hongkong und fühle mich der britischen Regierung auch nicht verbunden. Obwohl viele Schulen vor Ort, auch die meine, den Unterricht weiterhin auf Englisch abhalten, lernen die Schüler, mit Stolz auf die vielen wirtschaftlichen Errungenschaften im modernen China zu blicken, nicht zuletzt auf die Art und Weise, wie die Kommunistische Partei Hunderte Millionen Menschen aus dem Elend geführt hat. In der Schule haben wir gelernt, das Grundgesetz, Hongkongs Mini-Verfassung und ein Dokument, das China und Großbritannien vor der Übergabe ausgehandelt haben, beginne mit der Erklärung, dass »die Sonderverwaltungszone Hongkong ein unveräußerlicher Teil der Volksrepublik China« sei. China sei unser Mutterland und habe innerhalb der sogenannten »Ein-Land, zwei Systeme«-Doktrin wie ein gütiger Elternteil stets nur unser Bestes im Sinn.
Die Doktrin wurde in der Chinesisch-britischen gemeinsamen Erklärung zu Hongkong festgehalten, einem internationalen Vertrag, den Großbritannien und China 1984 unterzeichneten. »Ein Land, zwei Systeme« war das geistige Kind von Regierungschef Deng Xiaoping, der eine Lösung brauchte, um während der Rückgabegespräche den Abfluss von Talent und Wohlstand aus Hongkong einzudämmen. Deng wollte flüchtenden Bürgern gewährleisten, dass die Stadt nach ihrer Wiedervereinigung mit Festlandchina ihre eigenständigen...
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