Kapitel 1
Wu Ying drehte sich ein letztes Mal um und wischte sich eine Träne ab, die nicht zu Boden fallen wollte. Er sah in der Ferne, wie sich seine Eltern in der Nähe der vielen Reisfelder umarmten, die an das Dorf angrenzten. Sie standen still und wirkten älter und zerbrechlicher denn je. Er fragte sich, ob er sie jemals wiedersehen, mit ihnen sprechen, mit ihnen zu Abend essen würde.
Er nahm einen tiefen Atemzug, ließ die Traurigkeit, die sein Herz umklammerte und seine Lungen zuschnürte, für einige weitere Augenblicke existieren, bevor er sich entspannte. Er wies den Kummer nicht zurück oder stieß ihn ab oder hielt ihn zurück, sondern erkannte seine Anwesenheit an und erlaubte ihm, in ihm zu verweilen, aber nicht seinen Körper zu beeinflussen.
Wu Ying hatte sie gewarnt und so viel Zeit mit ihnen verbracht, wie er konnte, während sich die Ältesten beraten hatten. Er hatte ihnen das wenige Geld, das er übrighatte, überlassen und Vorbereitungen getroffen, sodass alle Waren, die er zum Weiterverkauf zurückschickte, ihnen gehören würden. Am wichtigsten war gewesen, dass er mit seinen Freunden gesprochen hatte, um sicherzustellen, dass das Dorf weiterhin davon profitierte, so nahe bei der Sekte zu liegen.
Es war nicht der Fall, dass sie dem Dorf jetzt den Rücken zukehren würden, nicht nachdem sich das Dorf für sie eingesetzt hatte. Die Sekte des Sattgrünen Wassers war nicht ehrlos und die Angriffe auf sie hatten das Dorf am Fuße des Berges beeinflusst. Außerdem wäre das zusätzliche Dorf - ein Dorf, das begonnen hatte, hochwertigeren Reis als gewöhnlich zu produzieren - künftig ein Segen für die Sekte. Das Budget der äußeren Sekte hatte bereits einen positiven Zustrom erfahren, der sich nur weiter vergrößern würde, je mehr das Dorf wuchs.
Nein, die Sekte war nicht ehrlos, aber sie war etwas nachtragend. Sie weigerte sich, ihre Regeln zu beugen und war erzürnt über Ungehorsam. Aus Angst vor dem Beispiel, das solch ein Regelbruch geben könnte, und dennoch ...
Und dennoch war es amüsant. Denn Ungehorsam war das Herzstück der Kultivation. Ungehorsam gegen die natürliche Ordnung der Dinge, um Unsterblichkeit zu erlangen. Jedenfalls interpretierten manche das so. Andere mochten glauben, dass eine solche Tat kein Ungehorsam, sondern eine Rückkehr war. Eine Rekursion dessen, was gewesen war. Eine Verbindung des Selbst mit dem unsterblichen Augenblick.
Ob unsterblich oder nicht, ob er sie erreichte oder nicht, die Verbannung war zu real.
Seine Anwesenheit in diesen Landen würde für viele Jahre unerwünscht sein. Für Jahrzehnte oder vielleicht sogar Jahrhunderte, falls er so lange lebte. Genug Zeit, um den Zorn zu ersticken und Taten folgen zu lassen, die den Gesichtsverlust und die Missachtung ihrer Regeln im Nebel der Zeit verblassen ließen.
Vermutlich zu lange, um die Gesichter seiner Eltern noch einmal zu sehen. Wenn er das je tat. Dann ein letzter Abschied, ein Aufeinanderpressen von Haut und Worte der Liebe und des Verlustes. Des Dankes und Entschuldigungen.
Dann wandte sich Wu Ying ab und ging, um zu sehen, was sein Schicksal für ihn bereithielt.
***
Er hätte mit einem Schiff gehen können. Das hatte er oft genug getan. Aber diesmal, in bürgerliche Roben gekleidet, ging er durch die Wälder. Bambuswälder, die er inzwischen sehr gut kannte. Schließlich war er der Sammler des Sattgrünen Wassers. Ha! Er fragte sich, ob es jetzt eine stille Initiative geben würde, diesen Namen zu ändern, sodass er nicht mehr mit ihm in Verbindung gebracht wurde, oder nicht.
Er war nicht exiliert, sondern nur verbannt worden. Ein feiner, aber wichtiger Unterschied. Die Ältesten hatten ihm nicht seine Roben oder sein Sektenabzeichen abgenommen und ihn nicht gebrandmarkt. Er war nur nicht länger in ihren Hallen willkommen.
Also ging Wu Ying durch den Wald, spürte, wie der Wind sich in seinen Haaren verfing und mit ihnen spielte und Geheimnisse und Bitten flüsterte, während seine Füße über laubbedeckte Wege glitten, in weiches Moos sanken und über unebenen Boden tanzten.
Komm nach Norden! Eine Spur von Frost, eine erschaudernde Schicht von Luft flehte ihn an, dorthin zu kommen, wo das Flachland war. Um ein Land mit weiter Aussicht, einen Ort mit hoch aufragenden Bergen zu sehen, wo der Wind durch freies Gelände fegte und die Erinnerungen eines kälteren, noch öderen Landes mit sich brachte.
Nein, geh nach Osten! Salz, das den Wind erfüllte, blies mit dem Duft des Ozeans, von Seetang und vermoderndem Holz und dem Geruch von Fischen und Früchten über seinen Körper. Vergiss das Festland. Erkunde die Tiefen des Meeres und was jenseits des Ozeans liegt. In weiter Ferne liegt eine Insel der Unsterblichen. Erreiche sie, dann wirst du vielleicht der Plagerei der Kultivation, um die Unsterblichkeit zu erreichen, entkommen, indem du nur einen einzigen Pfirsich isst.
Töricht, töricht, töricht. Wu Ying konnte den Hohn beinahe hören. Der Ostwind machte große Versprechungen, ertränkte aber die meisten, die versuchten, seine Angebote anzunehmen. Nein, keine großzügige Versprechen oder plötzliche verräterische Veränderungen auf den Wellen. Im Westen lagen trockene Luft, Sand und hohe, leere Schluchten. Eine bestechende Einfachheit, wo die Schönheit versteckt war und nur jenen gezeigt wurde, die es wagten, tiefer hineinzuschauen.
Der Süden lachte über die anderen und brachte Wärme und Feuchtigkeit mit sich. Er überschüttete einen nicht mit Bitten oder Wünschen, denn so viele - viel zu viele - reisten in seine reichhaltigen Gefilde und suchten nach ihrem Glück. Im Süden lag Jade auf dem Boden und wartete nur darauf, aufgesammelt zu werden. Im Süden fand man Gold in den Flüssen und Früchte an den Bäumen. Die Geheimnisse verlorener Künste und versteckter Klans, die eins mit der Natur waren, warteten dort.
Wenn man die Seelenbestien überlebte, die durch diese Lande streiften und Kultivatoren und Sterbliche gleichermaßen zerfleischten. Der Süden beheimatete Monster, die alt und unersättlich waren. Er war ungezähmt, obwohl die Zivilisation an seine Domäne stieß.
Wu Ying lächelte leicht und spürte die Verlockungen, die geflüsterten Bitten und Einladungen, während die Winde durch den Bambuswald tanzten. Er kannte sie, diese Winde, diese Freunde. Sie waren ebenso ein Teil von ihm, ein Teil seiner Seele und seines Körpers, wie die Erde, in die er seine Finger gegraben hatte.
Windseele und Windkörper. Manchmal fragte sich Wu Ying, ob er überhaupt noch er selbst sein würde, wenn er die Spitze erreichte. Würde er zu nichts weiter als einer Brise werden, der Form gegeben wurde und die so sanft wie die Liebkosung eines Kindes und eines wütenden Taifuns war? Würde er bei der leichtesten Berührung auseinanderbrechen und immer noch stark genug sein, um Gebäude dem Erdboden gleichzumachen?
Wäre er überhaupt noch ... er selbst?
Das waren witzige Gedanken. Tiefe Gedanken. Was lag am Ende dieses Weges, auf dem er ging? Nach welchem Dao suchte er? Was würde er - letzten Endes - entscheiden, zu verkörpern? Was würde er so nahe bei seinem Kern umklammert halten, dass er ohne es nicht mehr er selbst war?
Er hatte keine Ahnung.
Und möglicherweise war das der Grund, warum er diesen letzten Schritt noch nicht getan hatte, obwohl er an der Schwelle stand, zu einem Kernkultivator aufzusteigen. Unsicherheit bei einem solchen Schritt bedeutete Verderben. Zu viele Geschichten hatten auf diese Weise begonnen, sodass er die Veränderung nicht wagen würde, solange er es nicht verstand.
Lord Khoo, der jüngste der Violetten Kraniche und Erbe des Patriarchen der Sekte des Violetten Kranichs. Ein Wunderkind des Tanzes und der Kultur, so schlank und kultiviert, wie man es sich nur wünschen konnte. Jemand, der die Herzen von Dutzenden, ja sogar Hunderten mit seiner bloßen Anwesenheit höher schlagen lassen hatte. Innerhalb von drei Jahren schaffte er es von der Körperreinigung zum Kern - ein Rekord.
Die Mängel zeigten sich später. Als er immer mehr Ressourcen gebraucht hatte, um seinen Kern aufzubauen und ihn mit Verständnis und Chi zu überziehen. Drei Jahrzehnte später, als die Sekte sich ruiniert hatte, indem sie immer mehr wertvolle Kräuter und Pillen an den Sohn des Patriarchen verfüttert hatte, versuchte er, auf die nächste Stufe aufzusteigen.
Sein Kern zerbrach während der Wachstumsphase. Er zersplitterte unter dem Druck der Erwartungen und einem unvollständigen Verständnis für sich selbst und seinen Dao. Der Aufkeimende Geist darin, der mit unvollkommener Erleuchtung gespeist wurde, wurde durch andere Sehnsüchte befleckt. Andere Erfahrungen, die seinen Ursprüngen ein Dorn im Auge waren, hatten den Kern, der sich den Himmeln und der Welt entblößte, erschüttert, verzerrt und beschädigt.
Der Geist starb.
Und mit ihm die Sekte des Violetten Kranichs, deren Schatzkammern leer und deren Hoffnungen zerschmettert worden waren.
Das hatte sich vor beinahe vierhundert Jahren zugetragen. War für einige Kultivatoren aber noch eine frische Erinnerung. Es lag nur ein paar Generationen in der Vergangenheit. Eine Geschichte, die am Leben gehalten wurde, damit jeder sie hören und verstehen konnte. Es war nicht die einzige, aber andere lagen ferner - sei es nun durch ihr Alter oder ihren Schauplatz.
Und das waren die Geschichten der Renommierten, der Berühmten, obwohl sie versagt hatten. Personen, die in ihrer Jugend über Berge und Ströme geschritten waren, bevor sie in sich zusammengebrochen sind. Wie viele mehr, wie viele hunderte, tausende mehr hatten versagt, doch ihre Lebensgeschichten wurden nicht weitererzählt?
Nein. Wu...