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Der hagere, von Erschöpfung ausgezehrte Mann hieß Werner Karst, hatte den Krieg unverletzt überstanden und war froh, als er die beiden Türme der Frauenkirche wiedersah. Der Blick hinauf zum Himmel diente nicht der Einstimmung zu einem Dankgebet, sondern überzeugte ihn lediglich davon, daß es in den nächsten Stunden nicht regnen würde. Und so machte er sich auf den Weg nach Hause zu seiner Frau, einen langen Fußmarsch, den er nur einmal unterbrach, um sich an einem Brunnen zu erfrischen. Nach fünf Stunden endlich hatte er Ottobrunn, einen Vorort Münchens, erreicht.
Als er die Wohnung betrat, rief er »Ich bin's!«, aber es kam keine Antwort. Die Küche, in die er hineinschaute, war leer, links im Wohnzimmer war auch niemand. Mit einem »Niemand hier?« öffnete er die Tür des Schlafzimmers. Da war jemand, aber da war noch jemand.
»Allmächtiger!« Er schloß die Augen. Auf dem Bett lag seine Frau in den Armen eines Mannes, auf dessen Uniformjacke die Rangabzeichen der amerikanischen Armee glänzten.
»Allmächtiger!« stotterte er wieder, als seine Frau vom Bett aufstand, ihren Morgenmantel überzog und ihn, beide Arme nach vorne gestreckt, aus dem Schlafzimmer zurück in die Wohndiele zu dirigieren versuchte. Aber das war gar nicht mehr nötig. Werner Karst hatte sich bereits umgedreht. Den gleichen Weg, den er gekommen war, ging er wieder zurück. Als er an einem Gefängnis vorbeikam, blieb er stehen, schaute zu den vergitterten Fenstern hinauf und träumte von einer Zelle, in der er sich schlafen legen konnte, um nie mehr aufzuwachen.
Wie benommen ging er auf die Pforte zu und hörte sich fragen, ob es hier für ihn Arbeit gäbe. Eine Stunde später hatte er eine Anstellung als Hilfsaufseher. Seine erste Amtshandlung war, sich selbst in eine Zelle einzusperren, sich auf die Pritsche fallen zu lassen und die Augen zu schließen.
Vier Jahre später war er bereits zweimal befördert worden, mit der Aussicht auf eine Karriere als Beamter, sobald er die mittlere Reife nachgeholt haben würde. Also hatte er einen Abendkurs an der Volkshochschule belegt und büffelte an allen freien Abenden - mit Ausnahme des Donnerstags, denn da gönnte sich Werner Karst das Vergnügen, ins »Café Wien« zum Tanztee zu gehen, wo er regelmäßig eine Frau traf, die Vera Berger hieß und die wie er eine schiefgegangene Ehe hinter sich hatte.
Sie war ihm aufgefallen, weil sie keinen Tanz ausließ. Und da er sich selbst auch für einen guten Tänzer hielt, faßte er sich ein Herz, sobald an der Säule neben der Tanzfläche das rote Lämpchen aufleuchtete, was immer »Herrenwahl« anzeigte.
Es war nicht leicht, schnell genug als erster an ihrem Tisch zu sein. An den letzten Donnerstagen waren ihm zwei Herren aufgefallen, die sich ebenfalls um sie bemühten. Was ihr offensichtlich Spaß machte, denn mal flirtete sie mit dem einen, mal mit dem anderen. Und beide hatten es offenbar darauf abgesehen, sie zu erobern. Sie selbst, wenigstens hoffte Werner Karst das, schien weiter keine ernsten Absichten zu haben. Auf das grüne Licht, also »Damenwahl«, reagierte sie nie. Da ging sie ihre Frisur richten oder drehte die Nähte ihrer Seidenstrümpfe gerade; und weil sie darauf stolz war, legte sie Wert darauf, daß es auch auffiel. Sie wollte, je älter sie wurde, endlich wieder jung sein dürfen.
Herr Karst ließ sie nicht mehr aus den Augen. Wenn sie sich beim Tanzen unterhielten, so redeten sie gerade nur so viel, daß keiner etwas von sich verraten mußte. Er beschränkte sich auf langsame Walzer und genoß jede Minute, die er sie in den Armen hielt. Die übrige Zeit nutzte Werner Karst, um mehr über die beiden Männer herauszufinden. Der eine, ein japanischer Geschäftsmann, fuhr einen Mercedes, der andere, ein Bayer, einen Opel Laubfrosch. Viel Hoffnung machte er sich nicht, denn er selbst besaß noch nicht einmal einen Führerschein, sondern kam mit dem Fahrrad.
Trotzdem entschloß er sich, anstelle einer Liebeserklärung, die ihn die Zunge gekostet hätte, etwas von seinem knappen Gehalt in einen Strauß Nelken zu investieren. Mit dem erschien er an ihrem Tisch.
Der Japaner erhob sich. »Aoki Shibuya. Angenehm.« Und fügte zu seiner Tischdame gewandt hinzu: »Meine Verlobte!«
»Verlobt? Was soll das denn?« Diese Art Überraschungen konnte Vera Berger noch nie leiden, erst recht nicht im Beisein eines Herrn, der ihr von Woche zu Woche besser gefiel. »Bilden Sie sich nur mal nicht soviel ein, mein Lieber!«
Am selben Abend geschah es, daß Werner Karst sein Fahrrad stehenließ und Vera Berger nach Hause begleitete.
Auf halbem Weg blieb sie stehen. »Sagen Sie mal, haben Sie nicht wenigstens ein Fahrrad?«
»Ja, doch. Vor dem Café steht es.«
»Und wieso lassen Sie mich dann zu Fuß gehen?«
Sie gingen den ganzen Weg wieder zurück. Vera Berger setzte sich hinten auf den Gepäckträger. »Halten Sie sich gut fest!« riet er ihr. Und das tat sie.
Als der Sommer vorbei war, hatten sich beide endgültig ineinander verliebt. »Du warst halt stur«, gab sie zur Antwort, als er unbedingt wissen wollte, warum sie sich ausgerechnet für ihn entschieden hatte.
Geheiratet wurde 1950. Auf die Chancen ihrer Ehe angesprochen, pflegte sie zu antworten: »Wir bleiben so lange verheiratet, wie es dieser Mann bei mir aushält.« Dabei schaute sie ihn an und schien ihn mit einem Lächeln an etwas erinnern zu wollen, wovor sie ihn nach dem ersten Kuß gewarnt hatte: »Aber mit mir, mein Lieber, ist nicht zu spaßen!«
Werner Karst war trotzdem restlos glücklich, auch dann noch, als ihr geschiedener Mann mit dem inzwischen elfjährigen Gustav bei ihr erschien, um ihn, wie es das Jugendamt entschieden hatte, ihrer Fürsorge zu übergeben.
»Lies das, Junge, damit ich mir später nie Vorwürfe anhören muß«, sagte Josef Berger und gab Gustav den Brief zu lesen, den das Jugendamt ihm geschickt hatte. Am meisten gefiel ihm, daß da stand, er stelle für seine gleichaltrigen Kameraden eine Gefahr dar. »Kann ich das behalten?«
Zwei Tage vor der großen Reise in einen anderen, ihm völlig unbekannten Stadtteil räumte Gustav seine Schätze aus dem Versteck in der Ruine: seine Cowboyhefte, zwei Serien Zigarettenbildchen, eine Rolle Schnur, eine Postkarte mit einer Frau, die nichts anhatte, drei Stück parfümierte Seife, drei Markstücke und eine Blechdose mit Zigaretten drin, sechs echte amerikanische Zigaretten.
Alle Jungs waren da, denn keiner wollte etwas verpassen. Sein Abschied mußte sich sogar bis zu den Mädchen herumgesprochen haben.
»Wir wollten nur mal sehn, was ihr hier treibt«, sagte die dicke Marianne. Die andere hieß Helga, die noch eine Freundin mitgebracht hatte. Helga war eine Wucht, wenigstens fand Gustav das, aber er war immer viel zu schüchtern gewesen, sich allein mit ihr zu treffen. Ihr schenkte er die Serie »Geheimnisvoller Orient« mit Palmen, Kamelen und Pyramiden drauf. Auf die Idee hätte ich früher kommen können, dachte er, als er sah, wie sie sich freute.
Dann nahm er ein Stück Seife. »Wer von euch den Rock hebt, der schenk ich ein Stück Seife.«
Den Jungs stockte der Atem. Ein paar lachten nervös und hörten erst wieder auf, als keines der Mädchen rot wurde.
»Ich!« Die dicke Marianne hob ihren Rock.
»Dich hab ich aber nicht gemeint«, sagte Gustav.
Alle lachten.
Gustav schaute Helga an. »Mach du's!«
Den Jungs war ganz kalt geworden vor Neugier. Man hätte eine Maus schlafen hören können, so still war es jetzt.
»Spinnst du!« Sie blies ihre Haare aus der Stirn, nahm ihre Freundin bei der Hand und ging. Hinter ihnen her rannte die dicke Marianne.
Das war eine Abfuhr, und für alle eine Überraschung. Noch nie hatte jemand widersprochen, wenn Gustav etwas verlangt hatte.
Um die Aufmerksamkeit seiner Spielkameraden von dieser Blamage abzulenken, zerriß er die Postkarte mit der nackten Frau. »Selbst schuld, die blöde Kuh«, stellte er fest, steckte die Seife in seine Tasche und öffnete die Blechdose. »Wer will 'ne Zigarette rauchen?« Gustav nahm eine Camel heraus, steckte sie sich zwischen die Lippen und ließ sich von Kraus-Schorschi Feuer geben. Keiner von ihnen hatte jemals geraucht, jedenfalls nicht richtig.
Gustav hielt den Rauch so lange im Mund, daß es aussah, als könne er es bereits. Dann verteilte er die restlichen fünf und befahl jedem: »Aber richtig auf Lunge!«
Zeder-Berti kotzte als erster. Und Kraus-Schorschi, der immer noch nicht richtig gewachsen war, fing zu weinen an, als er in die Hosen machte. Daran würden sie länger denken als an seine Blamage, freute sich Gustav. Er steckte das Geld in seine Jackentasche, ließ alles andere auf dem Boden liegen und haute ab.
Wenn er zu spät kam, gab's zu Hause immer eine Abreibung mit dem Gasschlauch. Jetzt war er schon eine halbe Stunde überfällig, trotzdem sagte sein Vater nur: »Setz dich hin und iß.« Nur noch zwei Tage, da war selbst Josef Berger...
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