Kapitel 2
Ich hab schon immer gewußt, daß ich früher oder später die Schattenseite der Beziehung mit einer Frau, die ihren Lebensunterhalt mit dem Sezieren von Leichen verdiente, entdecken würde. Daß sie aber so aussieht, hätte ich mir nie gedacht.
Das Warum war vom Radiosprecher ziemlich klar beantwortet worden. Dr. Marsha Helms, stellvertretende ärztliche Leichenbeschauerin des Metropolitan Nashville Davidson County, hatte den Auftrag, Evangeline Lee Hogg wie ein Stück Wild auf dem Weg zum Schlachthaus waidgerecht aufzuschneiden.
»Igitt«, sagte ich laut. Ein widerlicher Gedanke. Aber noch widerlicher war die Vorstellung, daß Marsha - und von fragwürdigen Besitzansprüchen einmal abgesehen, betrachtete ich sie inzwischen als meine Marsha - von ein paar bewaffneten Verrückten, die niemanden in Mrs. Hoggs Innereien herumpfuschen lassen wollten, als Geisel festgehalten wurde.
Ich trat voll aufs Gaspedal und hatte plötzlich das Gefühl, mitten in einem Burt-Reynolds-Film aus den siebziger Jahren gelandet zu sein. Es fehlten nur noch der CB-Funk und die Red-Man-Chewing-Tobacco-Kappe, um das Bild abzurunden. Ich trug immer noch die schmutzigen Jeans und das T-Shirt aus dem Pfirsichgarten, und rasiert hatte ich mich seit vier Tagen nicht mehr. Ich hatte vorgehabt, schnurstracks in Marshas Wohnung zu fahren und ein heißes Bad zu nehmen, vorzugsweise nicht alleine.
Das gemeinsame Planschen konnte ich mir abschminken. Ich war fast eine Woche lang weggewesen und vermißte Marsha zunehmend. Unsere Verabredung vergangenen Samstag abend war ins Wasser gefallen, nachdem die Leiche eines Taxifahrers entdeckt worden war. Ein paar Sechzehnjährige waren vor dem Krystal Restaurant am Dickerson Pike in sein Taxi gestiegen, nachdem sie zuvor das Lokal überfallen hatten: Einen Sack voll Hamburger mit Pommes, zwei große Coke und die Kasse bitte - alles zum Mitnehmen. Dann hatten sie ihm von hinten in den Kopf geschossen, damit er sie nicht identifizieren konnte, und ihm seine achtunddreißig Dollar abgenommen. Vermutlich waren sie gar nicht auf den Gedanken gekommen, daß all die Leute im Krystal sie bei der Gegenüberstellung am nächsten Tag wiedererkennen würden. Wenn Sie mich fragen, fehlen bei einigen dieser wahnsinnigen Jugendlichen mehr als nur ein paar Tassen im Schrank. Aber mich fragt ja keiner.
Dr. Marsha hatte unsere Verabredung also abgesagt und statt dessen am dritten Taxifahrer in diesem Monat eine Autopsie durchgeführt. Ich war dann ein paar Tage später weggefahren und hatte mir für diesen Abend ein leidenschaftliches und inniges Wiedersehen erhofft. Aber das fiel jetzt allem Anschein nach aus.
Jemand hat Konflikt einmal als die Kluft zwischen Erwartung und Ergebnis definiert. In diesem Moment wurde mir schlagartig klar, was er damit meinte.
In ziemlicher Panik erreichte ich Rivergate gerade, als die Massen aus den Kinos strömten. Die Rivergate Mall war ein riesengroßes und vielbesuchtes Shopping-Center im Norden der Stadt, um das ich normalerweise einen großen Bogen machte. Obwohl es schon fast elf Uhr war, schleppte sich der Verkehr auf dem Two Mile Parkway in beiden Richtungen träge dahin. Auch auf der Schnellstraße ging es durch die sich einfädelnden Autos nur schrittweise voran, und all die Lastwagenfahrer, die eine Vierzehn-Stunden-Schicht bei achtzig Meilen die Stunden auf dem Buckel hatten, mußten sich an das Schneckentempo in der Innenstadt anpassen. Bremsen quietschten, Lastwagenanhänger schlenkerten elegant über die ganze Fahrbahn, Hupen ertönten, Finger wurden gezeigt ...
Willkommen zu Hause.
Da ich fast vier Tage lang im Gras gelegen hatte, halb von Moskitos verspeist worden war, mich von Fastfood ernährt, in Lonnies zwölf Jahre altem Kleinbus geschlafen und dann noch erfahren hatte, daß meine Freundin in eine Geiselnahme verwickelt war, war mein Nervenkostüm ziemlich dünn.
Und diese Leute hier gaben ihm so ziemlich den Rest.
Vielleicht war sie ja gar nicht dagewesen. Vielleicht hatte sie in der Nacht freigehabt. Vielleicht war sie ja okay.
Verdammt, ich wußte es besser. Marshas Pflichtgefühl hatte schon fast etwas Zwanghaftes. Und als stellvertretende ärztliche Leichenbeschauerin hatte nicht der Leiter, sondern sie am Samstagabend Bereitschaftsdienst. Ich raste die Interstate 65 hinunter bis zur Shelby Avenue, verließ die Schnellstraße und hätte dabei fast einen Chevy voller Bier trinkender rassistischer weißer Proletarier ins Jenseits befördert. Ich überquerte die Shelby Bridge nach Downtown, überfuhr zwei Stoppschilder auf dem Weg zur First Avenue, in die ich rechts einbog, und preschte den Hügel hinauf, in Richtung Leichenschauhaus.
Ich kam nicht weit.
Vor dem Heizkraftwerk blockierten Streifenwagen der Polizei den Weg, deren blau-weiße Lichter den gelben Schein der Straßenlaternen wie Gewehrsalven durchschnitten. Ein Verkehrspolizist in orangefarbener Sicherheitsweste schwang eine Taschenlampe in großem Bogen hin und her und leitete die Autos in eine Seitenstraße um. Der Wagen vor mir bog gehorsam von der First Avenue nach rechts ab.
Ich hielt mit meinem Kleinbus direkt vor dem Polizisten, stellte die Automatik auf Parken und sprang hinaus.
»Nun machen Sie schon, Mann!« schrie der Polizist. »Fahren Sie weiter.«
»Warten Sie!« rief ich und lief mit erhobenen Händen auf ihn zu. Mir war klar, daß ich wie ein Verrückter aussah, der gerade von irgendwo aus der Pampa in die Stadt gekommen war. »Ich muß unbedingt zum Leichenschauhaus.«
Ich stoppte vor dem Polizisten, der schnell zwei Schritte auf mich zu gemacht hatte. Er war jung, schlank, blond, kurzgeschoren und wirkte entschlossen.
»Tut mir leid, Sir,« sagte er, vom Lärm der Sirenen und aufheulenden Motoren begleitet. »Bis hierher und nicht weiter.« Ein herannahender Helikopter machte sich lautstark bemerkbar.
»Aber ich muß hin!« Durch das wirre Flackern des Lichts auf meinem Gesicht muß ich ausgesehen haben, als wäre ich einem Fellini-Film entsprungen.
»Nein, Sir!« brüllte der Polizist über das Gedröhne des Hubschraubers hinweg, der gerade über dem Dach neben uns erschienen war.
Der Fahrer hinter meinem Bus drückte auf die Hupe und steckte den Kopf aus dem Fenster. Ich drehte mich um; er schrie mich an und spukte dabei wild um sich. Obwohl ich ihn nicht verstehen konnte, war mir klar, daß er keine Nettigkeiten von sich gab.
»Aber meine Freundin ist da oben ...!« sagte ich mit wehleidiger Stimme. Der Polizist konnte mich wahrscheinlich nicht einmal hören.
»Fahren Sie weiter, Mister,« forderte er mich auf. Dabei legte sich seine linke Hand wie zufällig auf den Gummiknüppel, der an seinem Gürtel baumelte.
Die Botschaft war klar. Ich gab mich geschlagen, öffnete die Autotür und stieg ein. In die Seitenstraße abbiegend, ohne zu wissen, welche es überhaupt war, überlegte ich, was ich als nächstes tun sollte. Dann kam mir der rettende Gedanke. Lonnie.
Ich überquerte die Brücke zum zweitenmal, manövrierte den Wagen zum Ellington Parkway und dann in Richtung East Nashville, wo ich wohnte. Der Verkehr auf dem Parkway hatte merklich nachgelassen. Die einzigen Autofahrer, die mir um diese Nachtzeit noch begegneten, waren freischaffende Car-hunter und der übliche Haufen Rowdies, die mit quietschenden Reifen durch die Gegend rasten.
Ich stellte das Radio an, aber es gab keine neuen Meldungen von der Geiselnahme im Leichenschauhaus. Also probierte ich die FM-Sender von vorne bis hinten durch, doch sie brachten nur Musik und Werbung. Ich bog vom Parkway in die Gallatin Road und fuhr in Richtung Inglewood.
Inzwischen war es schon nach elf Uhr, aber Lonnie war bestimmt noch auf. Seine Schlafzeiten waren ziemlich ungewöhnlich. Ich konnte ihn eigentlich nur verfehlen, wenn er wieder als Car-hunter unterwegs war. Entweder tat er das, oder er arbeitete gerade auf seinem neuen Gebiet, der Kopfgeldjagd. In den letzten Monaten hatte Lonnie immer weniger Lust gehabt, im Auftrag von Banken oder Firmen Autos von Leuten zu beschlagnahmen, die mit den Ratenzahlungen nicht nachgekommen waren; er hatte seinen Tätigkeitsbereich dahingehend erweitert, daß er Personen aufspürte, die ihre Kaution hatten sausenlassen und abgehauen waren. Als bei mir die Geschäfte schlecht liefen und ich knapp bei Kasse war, hatte ich mit ihm zusammen Autos beschlagnahmt. Der Versuchung, bei seinen neuesten Unternehmungen mitzumachen, hatte ich bis jetzt allerdings widerstanden. Immerhin zog ein Mercedes keine .357er, wenn man ihn zurückholen wollte.
In der Seitenstraße der Gallatin Road, die zu Lonnies Wohnwagen führte, war es stockfinster und still wie auf einem Friedhof. Die Birnen in den wenigen Straßenlampen waren schon vor langem von den Death Rangers, der East Nashviller Motorradgang, ausgeschossen worden. Die Gangmitglieder sahen zwar furchterregend aus und klopften unheilvolle Sprüche, aber in Wirklichkeit waren sie selten mehr als ein Haufen alternder, bierseliger Arbeitsloser, ungefährliche Jerry-Garcia-Imitate - jedenfalls solange man ihnen nicht in die Quere kam -, die ihr Clubhaus fest verriegelt und die Fenster zugenagelt hatten.
Ich stoppte auf der Straße direkt vor der Tür des Maschendrahtzauns, etwa fünfzehn Meter entfernt von dem hellgrünen Wohnwagen mit Roststreifen an der Seite. Dann hupte ich kurz, kletterte aus dem Kleinbus und rüttelte am Zaun. Im Wohnwagen brannte Licht, die einzige Lichtquelle in der ganzen Gegend. Die kaputten Autokarossen auf Lonnies Schrottplatz ragten in bizarren Winkeln in den Nachthimmel.
Ich stand vor dem Tor und wartete auf Shadow, Lonnies Schäferhündin und unumstrittene Herrscherin innerhalb des Zauns. Ich war nicht so dumm, ohne ihre Erlaubnis durch das...