Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Vielleicht ist es für den Anfang am besten, wenn ich direkt ein Geständnis mache: Ich habe immer mal wieder das Gefühl, es wäre ein kleines Wunder, dass ich überhaupt noch hier stehe. Und dass ich sogar in der Lage bin, euch als einem Teil meiner Community von mir und meinem bisherigen Leben zu erzählen. Selbstverständlich ist die ganze Sache nämlich ganz und gar nicht und in meinem ganz speziellen Fall wirklich doppelt und dreifach nicht. Denn wäre in meinem Leben alles so gelaufen, wie es im Leben nun einmal läuft und es am wahrscheinlichsten ist, dann wäre ich schon lange tot oder säße im Knast. Doch ich lebe noch und im Gefängnis war ich bisher auch noch nicht. Na ja, zumindest nicht so richtig, aber dazu komme ich später. Jedenfalls bin ich noch da und kann euch ein wenig aus meinem bisherigen Leben erzählen. Dass das so ist, verdanke ich einer Menge harter Arbeit, Disziplin, Fleiß, vor allem aber Glück und der Hilfe, die ich auf meinem Weg von anderen bekommen habe.
Wenn ich heute an meine Kindheit denke, dann verbindet mich emotional kaum etwas mehr mit dieser Zeit. Ich habe weder besonders glückliche Erinnerungen noch fallen mir Dinge ein, die ich als besonders belastend bezeichnen würde.
Ich wurde 1987 in einen völlig normalen Berliner Haushalt hineingeboren. Mein Vater arbeitete im Außendienst und schaffte das Geld heran. Währenddessen sorgte meine Mutter als Hausfrau für mich und meine Halbschwester, die sie aus ihrer ersten Ehe mitgebracht hatte. Wir lebten in einer schönen Vierzimmerwohnung mitten in der Stadt und uns fehlte es zumindest finanziell gesehen an nichts.
Mit einem Jahr im Garten meiner Großeltern
Mein Vater war ein richtiges Arbeitstier. Er liebte seinen Job und machte ihn, so gut er konnte. Nicht selten verließ er frühmorgens das Haus und war erst am späten Abend wieder zurück. Feste Arbeitszeiten bedeuteten ihm überhaupt nichts. Feierabend war erst, wenn die Arbeit getan war, nicht vorher. Über irgendetwas zu jammern, kam bei ihm überhaupt nicht infrage. Der Mann war und ist bis heute sehr straight und diszipliniert.
Das Verhältnis zwischen meiner Schwester und mir war gut, jedoch hatten wir im alltäglichen Leben nicht ganz so viel miteinander zu tun, was zu einem großen Teil sicher daran gelegen hatte, dass sie knapp zehn Jahre älter war als ich und in einer völlig anderen Welt lebte. Zu Hause erlebte ich sie kaum, da sie die meiste Zeit des Tages - und später auch der Nächte - irgendwo anders verbrachte. Sie gab sich allergrößte Mühe, möglichst nicht zu Hause zu sein, stromerte irgendwo draußen herum und lief regelmäßig auch für längere Zeit ganz weg. Wieso sie das tat, wusste ich damals nicht. Meine Schwester war das Sorgenkind meiner Eltern, weswegen ich relativ entspannt unter dem Radar aufwuchs. Jetzt, wo wir beide erwachsene Menschen sind, haben meine Schwester und ich ein sehr gutes Verhältnis zueinander.
Im Grunde hätte bei uns zu Hause eine friedliche und normale Stimmung herrschen können, wenn da nicht meine Mutter gewesen wäre. Ihr ging jeder in der Familie möglichst aus dem Weg ging. Meine Mutter kämpfte jahrelang gegen eine Alkoholsucht und litt zudem an Psychosen. Das war eine Kombination, die ein geregeltes und vor allem friedliches Familienleben einfach unmöglich machte.
Die meiste Zeit des Tages bekam ich von ihr nicht wirklich viel mit. Sie war zu sehr mit sich selbst beschäftigt, als dass wir viele Gespräche geführt oder eine wirklich tiefe emotionale Verbindung zueinander aufgebaut hätten. Meine Mutter war einfach da, im Sinne von anwesend. Sie machte uns Essen und kaufte uns Sachen zum Anziehen, nicht mehr, nicht weniger. Ich fand das alles normal und in Ordnung, zumindest tagsüber. Nachts gab es leider immer wieder Zwischenfälle.
Einmal lag ich im Bett und schlief, als ich von meiner Mutter wach gerüttelt wurde. Sie packte mich an den Schultern, schüttelte mich und schrie: »Du bist an allem schuld! Allem!« Dabei schlug sie mich und wiederholte es immer wieder: »Du bist an allem schuld!« Mir blieb nichts weiter übrig, als den Kopf zwischen die Hände zu nehmen und abzuwarten. Denn im Laufe der Jahre hatte ich gelernt, dass diese Anfälle, um es mal so zu nennen, auch wieder aufhörten. Irgendwann kam immer der Moment, in dem meine Mutter von mir abließ. Dann sackte sie auf der Bettkante zusammen und begann zu weinen.
»Es tut mir leid, es tut mir leid«, sagte sie immer wieder unter Tränen, bis sie schließlich irgendwann mein Zimmer verließ und ich versuchte, wieder einzuschlafen, was nach einigen Minuten der Verwirrung auch klappte.
Ich weiß, was ihr jetzt denkt.
»Hat der Typ nicht gerade was von normalem Berliner Haushalt erzählt? Das ist überhaupt nicht normal, das ist Horror!«
Und ihr habt ja auch recht damit. Aber: Ich war ein Kind und kannte es nicht anders. Deshalb war die ganze Situation für mich absolut normal. Genauso normal wie der Streit und der familiäre Stress, die je nach Zustand meiner Mutter mal mehr, mal weniger heftig ausfielen. Meistens war es meine Schwester, die sich in den Augen meiner Mutter falsch verhalten hatte und nun ihren ganzen Zorn zu spüren bekam. Auch ich handelte mir in diesen Situationen ordentlich Ärger ein. Entweder entschied ich mich für eine Seite und wurde dafür von der anderen gehasst. Oder ich versuchte, mich aus allem herauszuhalten, bekam dann aber den Ärger beider Frauen zu spüren. Das war wirklich sehr unangenehm. Es kam aber so häufig vor, dass ich mich daran gewöhnte und es schon bald nicht mehr als allzu belastend empfand. Dazu kam, dass meine Schwester immer öfter und immer länger von zu Hause wegblieb, sodass sich solche Situationen nur noch selten ergaben.
Ob mein Vater von der Situation zu Hause wusste, kann ich bis heute nicht sagen. Er war beruflich den ganzen Tag unterwegs und konnte praktisch nicht am Familienleben teilnehmen. Ob meine Eltern irgendwann darüber sprachen, weiß ich nicht. Überhaupt kann ich mich nicht daran erinnern, dass Probleme, ganz gleich welcher Art, in unserer Familie offen angesprochen und diskutiert wurden. Man nahm alles mehr oder weniger hin und meldete sich nur, wenn irgendetwas völlig aus dem Ruder lief - was dann sofort in einem handfesten Krach mündete. Mein Vater und ich haben bis heute nicht über diese Zeit gesprochen, auch wenn wir ein absolut wunderbares Verhältnis zueinander haben.
Als meine Schwester volljährig wurde, war das der Startschuss für sie, ihre Sachen zu packen und von zu Hause auszuziehen. Für sie waren die Probleme damit auf einen Schlag gelöst. Meine Situation vereinfachte das nicht, denn ich blieb natürlich, und nun gab es für meine Mutter nur noch eine Zielscheibe, wenn sie wieder einmal wütend oder unzufrieden war: mich.
Wahrscheinlich litt sie unter der ganzen Situation mehr als ich. Das tröstete mich aber damals überhaupt nicht. Denn als kleiner Steppke wusste ich natürlich nicht, wie schlimm es um meine Mutter stand. Später habe ich erfahren, dass sie wohl insgesamt sechsmal versucht hat, sich das Leben zu nehmen. Eine arme Frau, an die ich heute ohne Wut denken kann, auch wenn das seine Zeit gedauert hat.
Als Kind, und das war ich zu dieser Zeit ja, war das alles für mich normal. Es wurde mir schließlich als normal verkauft: Wir hatten ein Dach über dem Kopf, Klamotten und jeden Tag Essen auf dem Teller, also war alles gut und somit normal. Ich hatte niemanden, dem ich mich anvertrauen und der mir sagen konnte, dass mein Familienleben absolut nicht durchschnittlich, sondern das totale Gegenteil der Fall war. Deshalb empfand ich meine Kindheit als hie und da ätzend, im Großen und Ganzen aber völlig okay.
Das änderte sich erst, als meine Eltern beschlossen, sich scheiden zu lassen. Ich besuchte die vierte Klasse der Grundschule, als sie mir ihre Entscheidung mitteilten. Für viele Kinder bricht mit so einer Nachricht die Welt zusammen. Ich dagegen stand der ganzen Sache eher neutral gegenüber und nahm die Scheidung meiner Eltern sehr gelassen zur Kenntnis. Das Verhältnis zu meiner Mutter war schon länger sehr kühl, wohingegen ich meinen Vater vergötterte. Die Frage, bei wem ich von nun an leben würde, stellte sich für mich nicht eine Sekunde. Für meine Eltern ebenso wenig. Sie beschlossen, dass meine Mutter aus der gemeinsamen Wohnung ausziehen sollte und sich mein Vater von nun an allein um mich kümmern würde. Verabredet wurde, dass meine Mutter keinen Unterhalt für mich zahlen musste, wenn sie im Gegenzug ebenfalls auf Unterhalt meines Vaters verzichtete.
Ich saß in meinem Zimmer, während meine Mutter ihre Sachen zusammenpackte und sich schließlich abholen ließ. Ich verabschiedete mich höflich von ihr, wie von einem Gast, der einige Wochen zu Besuch gewesen war. Als sich die Wohnungstür ein letztes Mal hinter ihr geschlossen hatte, atmete...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.