Schweitzer Fachinformationen
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Unauffällig sah Anke Wardlinger auf ihre Armbanduhr. Noch sieben Minuten bis zum Unterrichtsende. Ihr Herz klopfte, sie fuhr sich nervös durch ihre dunkelblonden Haare, die sie gestern auf Papilloten gedreht hatte, damit sie ihr heute in weichen Wellen über die Schultern fielen.
»Wie ein Rauschgoldengel«, hatte er ihr ins Ohr geflüstert, als sie sich am Morgen »zufällig« vor der Schule getroffen hatten. Anke hatte sich eine ganze Weile bei den Fahrradständern herumgedrückt, bis er endlich mit seinem schicken neuen Moped angebraust kam. Die erste Stunde hatte bereits begonnen, und sie hatte einen Eintrag ins Klassenbuch wegen Zu-Spät-Kommens kassiert. Aber das war es ihr wert gewesen. Sie hatte ein Date mit Ralph Perlmann aus der zwölften Klasse. Dem coolsten Jungen des ganzen Jahrgangs.
Sie und Ralph kannten sich aus dem Sandkasten, stammten sie doch beide aus Neunkirchen, dem 800-Seelen-Dörfchen nahe Bad Mergentheim. Mit dem Wechsel in die weiterführende Schule, in ihrer beider Fälle das Deutschorden-Gymnasium, kurz DOG genannt, hatten sie sich ein wenig aus den Augen verloren. Zu diesem Zeitpunkt war Ankes Interesse am anderen Geschlecht gering gewesen, und als sich das langsam änderte, musste sie feststellen, dass ihr Kindergartenfreund zum Mädchenschwarm mutiert war. Eine ganze Weile himmelte sie ihn aus der Ferne an. Dann traf sie ihn zufällig am Samstagmorgen beim Brötchenholen in der Bäckerei seiner Eltern. Man war ins Gespräch gekommen, und heute Vormittag war es ihr endlich gelungen, ihm erneut, sozusagen auf neutralem Boden, über den Weg zu laufen. Jetzt hatte sie eine Verabredung mit ihm: nach der Schule im Cortina, der Eisdiele in der Härterichstraße in der Innenstadt.
Fünf Minuten bis zum Schulgong. Ihre Hände waren vor Aufregung schweißnass. Der Sekundenzeiger ihrer Uhr bewegte sich im Schneckentempo vorwärts.
Vier Minuten. Sie packte ihre Stifte schon mal in das selbst gehäkelte Mäppchen.
»Anke Wardlinger! Dürfen wir deine geschätzte Meinung zu dem Thema hören oder hast du Besseres zu tun?«, der Tonfall des Mathelehrers klang spöttisch in ihren Ohren. Natürlich hatte sie keine Ahnung, zu welchem Thema er ihre Meinung einholen wollte.
»Äh!«, wand sie sich.
RRRRRRRRING! RRRRRRRRING!
Endlich der erlösende Schulgong.
RRRRRRRRING! Wobei, das war doch nicht der melodiöse Dreiklang, der üblicherweise das Unterrichtsende signalisierte. RRRRRRRRING! RRRRRRRRING! Und das Klingeln hörte auch gar nicht mehr auf.
War das etwa ein Feueralarm?
Oder? Schlaftrunken tastete Anke Wardlinger, 33 Jahre und schon lange keine Schülerin des DOG mehr, nach dem Telefon auf ihrem Nachttischchen. Ein Blick auf den Wecker zeigte eine Sieben links auf dessen Display.
»Ja?«, meldete sie sich unwirsch. Um diese Zeit konnte es eigentlich nur ihre Mutter sein oder .
»Grundsätzlich ist das schon mal die richtige Antwort«, schallte es ihr aus dem Telefonhörer entgegen. Ihr Kollege Moritz Mertens, wie sie im Bad Mergentheimer Standesamt beschäftigt, war am anderen Ende der Leitung. Moritz hatte heute Dienst. Zumindest laut Plan. Geheiratet wurde schließlich immer und vorzugsweise am Wochenende.
»Komm mir bloß nicht so. Die Antwort lautet: Nein!«
»Schätzchen, ich würde dich nicht bitten, wenn es eine andere Möglichkeit gäbe.« Moritz' Stimme klang jetzt weinerlich.
»Wer's glaubt!«
»Ich bin krank. Magen-Darm, ich kann nichts bei mir behalten, ehrlich.«
Anke verdrehte die Augen. Moritz war ein Hypochonder, wie er im Buche steht. Jede Krankheit, egal welche, Moritz hatte sie oder kannte sie zumindest. Neulich hatte er sogar über Regelschmerzen geklagt. Und seit sein 40. Geburtstag immer näher rückte, war es noch schlimmer geworden.
»Du musst heute übernehmen!«, flehte er. Würgegeräusche drangen aus dem Telefonhörer, den Anke nun auf Armeslänge von sich hielt. Das konnte er ihr nicht antun! Sie hatte frei und mit ihren Schulfreundinnen Katja, Silke und Bettina einen Ausflug nach Weikersheim geplant.
Die vier Frauen trafen sich einmal im Jahr in ihrem Geburtsort Bad Mergentheim, schwelgten in Erinnerungen und wandelten auf den Pfaden ihrer Jugend. Nachdem sie gestern Abend im Cortina ihr Mädelswochenende feuchtfröhlich eingeläutet hatten, vielleicht hatte sie deshalb ja von ihrem bevorstehenden ersten Date in ebendiesem Eiscafé geträumt, stand heute ein Besuch des Weikersheimer Schlosses auf dem Programm. Obwohl Anke die wunderschöne ehemalige Wasserburg natürlich kannte, freute sie sich bereits auf eine Führung und einen Besuch des Schlossparks. Früher war sie mit Gästen ihrer Eltern gern dorthin gefahren und hatte sich immer wie eine Prinzessin gefühlt. Und so ein bisschen Prinzessinnenfeeling konnte sie heute gut gebrauchen, immerhin war dies der Hochzeitstag ihres Exmanns. Soweit sie es mitbekommen hatte, war die Trauung für den späten Vormittag angesetzt. Das herannahende Ereignis war gestern Abend natürlich Gesprächsthema gewesen, und ihre Freundinnen hatten es als ihre besondere Aufgabe gesehen, sie heute davon abzulenken und demselben weiträumig aus dem Weg zu gehen. Der Ausflug nach Weikersheim war Katjas Idee gewesen, die Ankes Neigung zum höfischen Leben gut kannte. »Genau das Richtige für unsere verhinderte Prinzessin«, hatte sie schmunzelnd erklärt, und die anderen waren begeistert darauf eingegangen. Und nun das!
»Süße? Bist du noch dran?«, ertönte Moritz' Stimme dumpf aus dem Lautsprecher. »Boah! Ist mir schlecht!«
»Moritz, du Memme! Tu mir das nicht an. Du trinkst jetzt einen Tee und dann .«
»Ich würde dich wirklich nicht bitten, wenn es eine andere Möglichkeit gäbe«, unterbrach er sie jammernd. »Du ahnst ja nicht, wie dreckig es mir geht.« Erneute Würgegeräusche.
»Und was ist mit mir?« Anke mochte gar nicht darüber nachdenken.
»Ich mache es wieder gut, ehrlich! Ich übernehme ein Jahr alle Wochenenddienste und spendiere dir außerdem eine Schokosahnetorte im Schlosscafé.«
Anke schluckte. Sie war eine Naschkatze und die Schokosahnetorte in dem kleinen Café nahe des Bad Mergentheimer Schlossgartens sensationell und jede Sünde wert.
»Ich bin auf Diät«, hielt sie halbherzig dagegen, was nur zum Teil stimmte. Vor zwei Wochen hatte sie tatsächlich den Kilos den Kampf angesagt, als sie festgestellt hatte, dass der Rock ihres hellgrauen Leinenkostüms, das sie im Sommer immer zu den Trauungen trug, offenbar nicht beim Waschen eingegangen war. Allerdings hatte sie ihre Schlankheitskur zur Erreichung der Bikinifigur für die Dauer ihres Mädelswochenendes unterbrochen.
»Ein Essen im Bundschu«, setzte ihr Kollege noch eins drauf.
Das Restaurant in der Milchlingstraße war bekannt für seine hervorragende regionale Küche und köstlichen Weine, und Anke liebte beides, zum Leidwesen ihrer Waage. »Also gut«, gab sie sich geschlagen. »Um wie viel Uhr soll das große Ereignis stattfinden?«
*
Arsen. Eine akute Arsenvergiftung führt zu Übelkeit, Erbrechen, Krämpfen, inneren Blutungen, Durchfall und Koliken. Betroffene können in ein Koma fallen, ihre Haut fühlt sich kalt und feucht an. Oral aufgenommene Arsenverbindungen werden im Magen-Darm-Trakt schnell und effektiv resorbiert. Der Tod tritt durch Kreislauf- und Nierenversagen, meist innerhalb mehrerer Stunden oder weniger Tage ein.
»Mit wem telefonierst du denn um diese Zeit?« Diesmal war es wirklich ihre Mutter. Sie rief fast täglich und dann meist morgens zwischen sieben und halb acht an. Eine äußerst ungünstige Zeit für Anke als Berufstätige: an Arbeitstagen war sie entweder gerade im Bad, bei einem hektischen Frühstück oder schon auf dem Sprung zur Arbeit und am Wochenende oder Urlaubstagen hätte sie gerne länger ausgeschlafen. Doch das wusste Rosemarie Wardlinger zu verhindern. Die 63-Jährige betrieb einen Kiosk direkt bei der Kirche in Neunkirchen, dem kleinen Ort nahe Bad Mergentheim, in dem Anke aufgewachsen war. Und da ihr kleiner Betrieb täglich um acht Uhr öffnete, musste sie sich halt vorher bei ihrer Tochter vergewissern, ob alles in Ordnung sei, und im Gegenzug Anke über den neuesten Dorfklatsch informieren.
Nicht, dass Anke nicht regelmäßig persönlich zu Hause aufgetaucht wäre, aber wenn es etwas zu bereden gab, duldete es bei ihrer Mutter keinen Aufschub.
Heute war die bevorstehende Hochzeit von Ankes Ex natürlich das Hauptthema. »Sie haben die Kirche wundervoll geschmückt«, schwärmte Rosemarie Wardlinger. »Das musst du dir ansehen, kommst du?«
»Ganz bestimmt nicht«, murmelte Anke.
Ihre Mutter hatte sie offenbar gar nicht gehört. »Wirklich prachtvoll«, redete sie weiter, »der Pfarrer platzt vor Stolz. Endlich mal wieder eine Hochzeit in seiner Kirche und dann auch noch so ein prominenter Bräutigam .«
Pfarrer Blau - seit ihrer Scheidung und den Umständen, die dazu geführt hatten, war das Verhältnis zwischen ihm und Anke nachhaltig gestört. Der Kirchenmann hatte sie getauft und konfirmiert. Da sie direkt neben dem Pfarrhaus wohnten, war sie als Kind quasi bei ihm ein und aus gegangen. Selbstverständlich hatte er sie auch getraut, als sie den Sohn der örtlichen Bäckerei geheiratet hatte. Es war eine prächtige Feier gewesen. Einer Prinzessin würdig. Ankes Hang zu den Königshäusern dieser Welt war schon damals ausgeprägt gewesen. Wahrscheinlich lag es an den vielen einschlägigen Zeitschriften, die sie am Kiosk ihrer Mutter ausgeliehen und mit Hingabe gelesen hatte. So...
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