Schweitzer Fachinformationen
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Inflationäre Betroffenheit
Eine Stunde später veröffentlichte Schnack die Fakten und Waynes Bilder in einem Liveticker auf der Homepage des Tageblatts:
Selbtmordattentat im Klinikum:
6 Menschen sterben
Am Vormittag erschütterte eine schwere Explosion das Bierstädter Klinikum. Es stellte sich heraus, dass es Schauplatz eines Selbstmordattentats geworden ist. Nach jetzigem Stand ist Folgendes bekannt:
Um zehn Uhr fährt ein Ambulanzwagen zur Klinikauffahrt. Zwei Sanitäter befördern einen Mann im Krankenstuhl aus dem Transporter, ein vierter Mann mit Vollbart, der aussieht wie ein Krankenpfleger, tritt zu der Gruppe und folgt ihr. Niemand hält die Gruppe auf.
Der vierte Mann ist der Selbstmordattentäter. Niemand wundert sich darüber, dass er eine wattierte Jacke trägt. Es ist windig an diesem Sonntagmorgen.
Im Foyer nimmt der Mann einen anderen Weg als die Sanitäter mit ihrem Kranken. Er besteigt den Aufzug und lässt sich in den zweiten Stock bringen. In der Inneren Abteilung drückt er die Schwingtür auf, spricht eine Krankenschwester an und erkundigt sich nach Duru Sahin. Die Frau wird misstrauisch, weil sie diesen Pfleger noch nie gesehen hat, und fordert ihn auf, die Abteilung sofort zu verlassen. Der Mann öffnet seine Jacke. Die Schwester sieht den Sprengstoffgürtel. Sie will schreien, doch der Mann drückt ihr eine Waffe in den Rücken und fordert sie auf, ihn zum Zimmer Duru Sahins zu begleiten.
Vor der Tür stehen zwei Polizisten. Die Krankenschwester ist ihnen bekannt, nicht aber der Pfleger. Sie fordern ihn auf, sich auszuweisen. Wieder öffnet der Mann die Jacke, legt den Finger auf die Lippen und macht: »Psst.« Ein Polizist zieht die Waffe, doch er wird sofort angeschossen. Die Krankenschwester rennt schreiend weg. Der Attentäter betritt das Krankenzimmer, in dem Duru Sahin schläft. Hier ist eine Kamera installiert, denn die Patientin steht unter Polizeischutz. Der Attentäter beugt sich über sie, als wollte er sich vergewissern, dass im Bett wirklich das Ziel seines Anschlags liegt. Er schaut in die Kamera, ruft: »Allahu akbar.« Dann betätigt er den Knopf an dem Sprengstoffgürtel.
Die Polizeibeamten im Zimmer nebenan haben den Schuss zwar gehört, doch sie können nicht schnell genug reagieren. Die Explosion tötet die zwei Polizisten auf dem Flur und zwei im Nebenzimmer. Auch Duru Sahin und der Selbstmordattentäter überleben den Anschlag nicht. Sechs Tote im Namen Allahs. Eine noch unbekannte Zahl von Menschen wird verletzt. Wir berichten weiter.
Ich schaltete mein Tablet aus. Wayne und ich saßen in meinem Auto. Wir hatten den Rückzug antreten müssen, denn die Ermittler sperrten alles weiträumig ab. Ich wählte Kleists Handynummer, doch niemand meldete sich. War er unter den Opfern dieses Wahnsinnigen?
Wayne tippte genauso erfolglos wie ich auf seinem Handy herum.
»Perihan?«, fragte ich.
Er nickte.
»Duru war allein im Zimmer«, erinnerte ich ihn. »Sonst hätte der Pressesprecher das erwähnt.«
»Ich brauche einen Kaffee, sonst falle ich um«, sagte Wayne. Er war bleich und hatte rote Ränder um die Pupillen.
Im Bistro lief ein Nachrichtensender, der live vom Terroranschlag auf das Krankenhaus in Bierstadt berichtete. Anneliese Schmitz hatte den Ton des Fernsehers laut gestellt. Die Reporter interviewten die Patienten, die vor der Klinik geraucht hatten. Einige von ihnen waren von Glassplittern getroffen worden, doch sonst war ihnen nichts passiert, weil das Vordach sie geschützt hatte.
»Frau Grappa, da seid ihr ja«, begrüßte sie uns. »Ich hab euch eben im Fernsehen gesehen. Terroristen hier in Bierstadt! Ich fass es nicht! Sind diese Moslems denn verrückt geworden? Müssen die immer alles kaputt machen und Menschen töten?«
»Zwei Mal kleines Frühstück, Frau Schmitz«, bestellte ich.
»Und für mich eine Kopfschmerztablette, wenn Sie eine haben«, bat Wayne.
»Alles an Bord!«, versicherte sie und verschwand.
Der Fernsehreporter der Regionalsendung interviewte jetzt den Geschäftsführer des Integrationsrates.
Der aufrechte Sozialdemokrat hatte die üblichen Floskeln drauf. »Wir dürfen diese schreckliche Tat nicht mit den Menschen in Verbindung bringen, die in unserer Stadt Zuflucht suchen. Diese Leute sind doch gerade vor denen weggelaufen, die diesen Anschlag mutmaßlich verübt haben.«
Diese Sätze waren inflationär geworden. Nach den Terroranschlägen in Paris hatte sie - außer den Rechtsradikalen - jeder gesagt und sich anschließend auf die Schultern geklopft.
Die Livesendung endete und der Moderator verwies auf eine Sondersendung in einer Stunde.
Frau Schmitz brachte unser Frühstück. Kaffee, Brötchen, Butter, Käse und Schinken.
Ich nahm mein Handy und tippte Perihans Nummer. Mailbox. Ich tippte Kleists Nummer. Mailbox. Mist.
Wayne nahm zwei Scheiben Käse und steckte sie sich in den Mund. Er machte mir Sorgen. Seine Hände zitterten, als er den Kaffeebecher hob und trank.
»Geht es dir nicht gut?«, fragte ich.
»Ich muss wohl eine Grippe ausbrüten«, behauptete er. Seine Finger pulten das Weiße aus den Brötchenhälften und formten es zu Kügelchen.
»Du hast Angst, oder?«
»Ja. Ich habe Angst«, gestand er. »Ich hab in meinem Berufsleben bestimmt zehntausend Fotos gemacht, aber dieser Fall macht mich fertig. Sinnloses Morden.«
»Duru Sahin kann nichts mehr aussagen. Wenn das der Sinn des Anschlags war, ist er gelungen.«
Waynes Handy klingelte. Er nahm das Gespräch an, meldete sich und hörte zu. Schließlich sagte er: »Komm vorbei. Wir sind in der Bäckerei Schmitz.«
Dann lächelte er mich an: »Das war Perihan. Ihr ist nichts passiert. Der Bus, mit dem sie zur Klinik fahren wollte, hatte unterwegs einen Unfall und sie mussten einen Ersatzbus schicken. Sie lebt!«
Zwanzig Minuten später war die junge Türkin da. Sie war ungeschminkt, das schwarze Haar stand wirr um den Kopf und sie hatte geweint.
»Tut mir sehr leid, dass Duru tot ist«, sagte ich.
Sie nickte. »Ja, das hat sie nicht verdient, egal, was sie getan hat. Es ist alles so schrecklich. Und es hört nicht auf. Diese Schweine werden immer weitermachen, bis sie uns alle im Namen Allahs hingeschlachtet haben.«
Tränen liefen ihr übers Gesicht. Wayne reichte ihr seine Papierserviette.
»Und da ist noch was«, schluchzte sie. »Mein Bruder Erkan ist verschwunden.«
»Seit wann?«
»Er hat das Haus heute früh verlassen.«
»Das ist doch erst ein paar Stunden her«, entgegnete ich. »Warum machst du dir Sorgen? Er kann doch bei Freunden sein.«
»Hier.« Sie aktivierte ihr Handy und tippte aufs Display. »Dieses Video war auf seinem PC. Er hat es immer wieder angeschaut und ist dann gegangen. Der Rapper heißt Deso Dogg. Der soll inzwischen im Dschihad getötet worden sein, aber ganz sicher ist das nicht. Erkan fand ihn klasse.«
Sie ließ die Musik laufen. Der Rap-Song trug den Titel Willkommen in meiner Welt voll Hass und Blut.
Der Sänger beklagte sein Leben in abgehackten Sätzen.
Ich setz mich auf die Bank, fütter die Tauben und denke Hardcore, hab die Nase voll von dem ganzen Stress. Ich bin alleine draußen ohne meine Kinder, mein Herz ist eiskacke geworden wie der schlimmste Winter, Junkies mit toten Augen schreien: »Zur Hölle mit diesem Staat«, und ich scheiß auf diese Welt, denn es dreht sich nur ums Geld.
Das Versmaß überzeugte nicht, die Aussage noch weniger. Doch das Video war handwerklich gut gemacht. Schwarz-Weiß, Straßenschluchten, Müll, sterbende Industrie, kaputte Typen.
Bitte Allah verzeih mir meine Sünden, zieh mich aus dem Dreck. Ich bin verzweifelt jeden Tag auf der Suche nach dem Paradies. Ich wünschte mir den Tod, denn mein Leben war mies. Ich wünschte, ich wär nicht geboren. Willkommen in meiner Welt voll Hass und Blut.
»Netter Bursche, dieser Sänger«, meinte ich. »Wenn dein Bruder wegen solcher Parolen weg ist, sieht mir das eher nach einer romantischen Schwärmerei aus. Als ich jung war, fand ich die Rote Armee Fraktion cool. Ich glaube nicht, dass du dir große Sorgen machen musst.«
»In seinem Regal habe ich Anleitungen zum Bau einer Bombe gefunden«, sagte Perihan ernst. »Erkan hat sogar Artikel über Selbstmordattentäter gesammelt. Ich denke, dass er .« Sie stockte.
»Du meinst, er könnte den Anschlag in der Klinik ausgeführt haben?«, fragte ich entsetzt. »Das musst du melden.«
Ich wählte die 110.
Wenig später holte ein Polizeiwagen Perihan Tercanli im Bistro ab. Der Attentäter musste auf den Bildern der Kameras im Krankenhausflur zu sehen sein. Das gab ihr die Möglichkeit, ihren Bruder gegebenenfalls zu identifizieren, ohne sich abgesprengte Gliedmaßen und zerfetztes Fleisch ansehen zu müssen.
Wir blickten ihr nach, als sie - von zwei Beamten in Zivil begleitet - ins Auto stieg.
»Wie wird sie damit fertig, wenn es wirklich ihr Bruder war?«, sinnierte Wayne.
Darauf wusste ich keine Antwort.
Der Imam bleibt kalt
Wir fuhren zum Verlagshaus. Schnack wartete bereits auf uns. Ich informierte ihn über Perihans Aussage und ihren Verdacht. Auch er war nicht untätig geblieben. Er hatte inzwischen mit Imam Sahin telefoniert, der sich wenig bestürzt über den gewaltsamen Tod seiner Tochter Duru zeigte.
»Scheißkerl«, sagte ich.
»Vielleicht tut er nur so kalt«, wandte Schnack ein. »Ich hatte das Gefühl, dass er sich sehr zusammengerissen hat, um keine Schwäche zu...
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