Schweitzer Fachinformationen
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Eins
Das Hyperventilieren hatte sie von ihrer Schwester gelernt. Wieder und wieder saßen sie einander gegenüber auf dem Bett und hechelten wie die Paare in den Geburtsvorbereitungskursen. Kurz bevor sie nicht mehr konnten, kam es zu der charakteristischen Ohnmacht. Der letzte Sauerstoff wich aus dem Gehirn, die Zellen starben massenhaft ab. Eines Tages machte Erica Schluss damit. Sie habe keine Lust mehr, es gebe Wichtigeres zu tun. Plötzlich waren die Wände in ihrem Zimmer mit Postern tapeziert. Riesige körperlose Köpfe von Folksängern starrten auf Bett und Kommode hinunter. Aus den Lautsprechern der Stereoanlage schallten die wie unter Wasser aufgenommenen Songs tremolierender Soprane über mittelalterliche Waldnymphen und ermordete Arbeiterführer. Dabei waren die Sechzigerjahre längst Geschichte, und die LPs stammten sämtlich aus Ramschkisten. Auf Buffy Sainte-Maries Gesicht klebte ein großer orangefarbener 99-Cent-Sticker.
Ericas Zimmer füllte sich mit Dingen, die sich angenehm anfühlten, mit denen man herumspielen und an denen man riechen konnte. Ständig brannte irgendetwas in einer Schale vor sich hin. Einmal kaufte sie einem weiß gekleideten Mann in der Subway Räucherstäbchen ab und las hinterher entsetzt, was auf dem Zettel stand, den er ihr sanft in die Hand gedrückt hatte:
Danke für den Kauf der Patschuli-Räucherstäbchen »Lieblich«.
Mit deinem Beitrag förderst du den KAMPF gegen den Aufstieg des Weltjudentums.
Die Räucherstäbchen brannten trotzdem. Opal atmete den Mief im Zimmer ihrer Schwester ein und dachte wehmütig an das gemeinsame Hyperventilieren, mit dem es nun leider vorbei war. Wenn sie früher im Schneidersitz auf Ericas Bett gesessen und immer schneller geatmet hatten, waren für Opal die ersten Sekunden am aufregendsten gewesen. Erica hatte die Regel eingeführt, dass die Augen geschlossen zu bleiben hatten, doch hin und wieder blinzelte Opal unter einem Lid hervor und beobachtete, wie ihre Schwester heftig mit den Schultern zuckte und nach Atem rang. Ein verwirrender Anblick, der aber dazugehörte. Erica sah aus wie ein großes Meerestier, das auf ein Stück Fels gespült worden war, und Opal war die kleine Schwester dieses Tiers. Wäre in dieser Situation jemand ins Zimmer gestürmt, hätte er etwas völlig Verrücktes gesehen: zwei Mädchen, die nach Luft japsten, obwohl davon wahrlich genug vorhanden war. Doch es stürmte nie jemand herein; selbst die Babysitter wahrten wohlweislich Abstand. Manchmal hörte Opal einen oder eine von ihnen im Wohnzimmer proben. Sie hatte sich an die in der Ferne murmelnden Stimmen gewöhnt, an das Auf und Ab der Wortfetzen, und achtete kaum noch darauf. Das Zusammensein mit ihrer Schwester war wichtiger: nur sie beide und das Atmen und das Umkippen.
Eines Abends glaubte Opal beim Hyperventilieren ganz ernsthaft, sie wäre gestorben, abgeglitten in einen engen, dunklen Bereich, in dem sie auf ewig gefangen sein würde. Er ähnelte allen Verstecken, die sie jemals in der Wohnung gefunden hatte: dem Spalt hinter dem Kühlschrank etwa, in den man sich zwängte, um dann an die Kabel und die brummenden Kühlschlangen gepresst zu verharren, bis man entdeckt wurde. Und entdeckt wurde man immer, das stand fest. Doch jetzt und hier glaubte sie nie wieder hinaus-, nie wieder zu sich zu kommen. Sie konnte sich nicht bewegen, nicht einmal die Augen öffnen.
Gute Nacht, dachte sie, gute Nacht. Sie erinnerte sich an Charlottes Kinder, wie sie am Ende von Wilbur und Charlotte in ein neues, eigenes Spinnenleben sprangen und auf dem Wind segelnd Abschied von Wilbur nahmen. Das hatte sie ebenso zum Weinen gebracht wie ein paar Seiten zuvor Charlottes Tod. Dass man weinte, wenn jemand wegging oder starb, war klar. Aber das hier war noch schlimmer; Opal trauerte um sich selbst. In ihrem Hosenrock, mit Kniestrümpfen und Haarreif würde sie entdeckt und von den Armen eines unbekannten Erwachsenen sanft aufgehoben und hinausgetragen werden.
In diesem Moment griff Erica nach ihr und schüttelte sie.
»Erde an Opal«, sagte sie, woraufhin Opal die Lider aufschlug wie eine Puppe. »Du hättest dich sehen sollen!«, fügte Erica hinzu, aber ihre Stimme war sanft.
Mehr gab es dazu nicht zu sagen. Nachdem die Schwestern Atem geschöpft hatten, gingen sie in die Küche, um Essen zu besorgen. In der Wohnung hielt sich zu nicht näher bestimmten Betreuungszwecken ständig ein Babysitter auf. Wenn Ericas und Opals Mutter weg war, wechselten sich eigens engagierte junge Comedians mit der Aufsicht über die Mädchen ab, Männer und Frauen, die sie in den diversen Comedy Clubs der Stadt aufgetan hatte. Sie zahlte anständig und gab ihnen nicht nur eine Bleibe, sondern auch die Möglichkeit, zu telefonieren und sich in einer mit interessanten Lebensmitteln bestückten Speisekammer zu bedienen. Die Wohnung war nie leer; immer hörte man im Hintergrund einen Babysitter wie besessen eine Nummer einstudieren. Diese Leute waren wie extrem lockere jugendliche Eltern, die einen tun und essen ließen, was man wollte.
Danny Bloom, der an diesem Abend für eine insgesamt drei Tage umfassende Schicht eingeteilt war, kam aus dem Wohnzimmer und fragte, ob Erica und Opal etwas bräuchten. Er war Ende zwanzig, sehr dünn, mit einem Körper wie ein Stück gebogener Draht und einem Ericas und Opals Mutter zufolge stark bewegungsbetonten Humor. Auf der Bühne des Laff House, wo sie ihn entdeckt hatte, hampelte er ständig herum.
»Alles gut bei euch?«, fragte er.
»Ja, alles bestens«, antworteten die Mädchen wie aus einem Mund.
»Dann probe ich noch ein bisschen, bis die Sendung beginnt. Sie bringt heute lauter neue Sachen, hat sie gesagt.«
Nachdem er wieder im Flur verschwunden war, machten sich Erica und Opal Wagenradnudeln und Cracker mit Marshmallowcreme. Sie aßen schweigend. Dann wurde es Zeit für die Hausaufgaben. Gedankenverloren blätterten sie eine Weile in ihren Büchern herum. Bilder aus der Kolonialzeit zogen an ihnen vorbei, Frauen in langen Gewändern, die kerzengerade und mit geschäftigen Händen vor Butterfässern standen. Alle paar Minuten hoben die Mädchen den Blick und sahen auf die Uhr. Um zwanzig nach elf trug Erica den Fernseher hinein, und Opal schob die Drehstühle dicht an den Bildschirm heran. In der Ofenwärme der Küche und im Schein des weichen, körnigen Bildschirmlichts warteten sie auf den Auftritt ihrer Mutter.
Opal verfolgte den langen Werbeblock, als wäre er die Eröffnungsnummer. Es war schon komisch, man wusste immer genau, was sie einem verkaufen wollten, ohne sich auf die einzelnen Spots konzentrieren zu müssen. Opal liebte Fernsehen und saß so oft vor dem Bildschirm, wie sie nur konnte. Die Sendungen selbst erforderten Aufmerksamkeit, doch wenn die Werbung kam, die Musik ständig wechselte, der Kaffee aus der Tasse schwappte und die Waschmittelflasche wie lebendig zu tanzen begann, ließ sie die Gedanken wandern.
Sie grübelte dann über all die Dinge, die sie beschäftigten, und schwang dabei im Rhythmus der Musik auf ihrem Stuhl hin und her. Sie dachte an die Menschen, die sie verehrte: ihre Mutter, ihre Schwester und Miss Hong, die neue Kunstlehrerin. Ein paar Jahre zuvor hatte sie für Micky Dolenz von den Monkees geschwärmt. Micky zu lieben, war ziemlich schlau gewesen, denn alle anderen hatten Davy Jones geliebt, und die Chancen, den zu kriegen, schienen bestenfalls gering. Da war es wesentlich realistischer, Micky mit dem verwaschenen Gesicht und den schmalen Äuglein erobern zu wollen. Keine außer ihr nahm Micky ernst. Alle flogen auf Davys natürlichen Charme, seinen weichen britischen Akzent, seine zarte Haut. Opal blieb geduldig und hängte ihre Theorie nicht an die große Glocke. Sie dachte ständig an Micky, überlegte, wie spät es gerade in Kalifornien war, und fragte sich, ob ihn die vielen Briefe frustrierten, die Davy bekam. Doch im Lauf der Monate verebbte ihre Begeisterung. Sie dachte immer weniger an ihn, und die Liebe zu ihm verflog. Allein aus eigener Entscheidung, ohne dass Opal gebremst worden war, so wie einige Mitschülerinnen, die versucht hatten, sich in Hotelzimmer oder beim Westbury Music Fair hinter die Bühne zu schleichen. Sie hatte sich selbst gebremst, und plötzlich war sie über die Sache hinweg.
Ständig veränderte sich alles - wie auf einem Streifen Film raste ein Einzelbild nach dem anderen vorbei. Erst liebte man jemanden, dann schlagartig nicht mehr und stattdessen einen anderen. Mit acht hatte man den Tod einer Spinne beweint, und ein paar Jahre später las man dieselbe Szene mit kaltem, kritischem Blick. Man überlegte, wie E. B. White sie lebensnaher hätte schildern können, und spielte mit dem Gedanken, ihm in einem Brief entsprechende Vorschläge zu unterbreiten.
Kaum etwas im Leben blieb einem lange erhalten. Jedes Jahr stand eine neue Lehrerin vor der Klasse, war die Anordnung der Pulte und Stühle anders, hatte man frische helle Farbe an die Wände geklatscht. Jede Klasse hatte ein Tier, ein Meerschweinchen, das in seinem Glaskäfig döste, während die Schüler die Umrisse der sieben Erdteile durchpausten. Ein ganzes Lebensjahr hindurch sorgte man für das Tier, streichelte sein nervöses Fell und schob Schälchen mit Trockenfutter hinein. War das Jahr um, blieb das Tier im Zimmer der zweiten Klasse, während man selbst in die dritte kam, wo ein neues wartete, wieder ein Nager, der gestreichelt, geknuddelt und mit Wasser und Futter versorgt werden musste.
Der Werbeblock war zu Ende. Als die Titelmelodie erklang, stürmte Danny Bloom in die Küche und setzte sich hinter Opal auf die Arbeitsfläche. Nach dem Eingangsmonolog wurde ein bisschen herumgewitzelt, und dann kam Opals...
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