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Weder an Ernest Renan noch gar an Paul de Lagarde sei angeknüpft. In Anlehnung an jenen hatte dieser - mit Antisemitismen noch voller gespickt - behauptet, das Christentum beinhalte mehr Paulus als Jesus.25 Paulus mit seiner »durch und durch jüdischen Seele«26 »sei durch seine rabbinische Theologie Verderber der christlichen Religion geworden«27, habe dem Evangelium vollständig fremd gegenübergestanden« und es »systematisch umgedeutet«.28
Übertroffen wird diese antisemitische Polemik von nationalsozialistisch geschwängerten Vorstellungen, die den Juden Jesus als »Rache der Juden an den Germanen« bezeichnen und deshalb alte Germanenkulte wieder beleben möchten29 und »die Verjudung der Germanen durch das Christentum«30 anprangern.
»Das« Christentum und »das« Judentum jeweils als Einheit zu betrachten, ist natürlich gewagt und im Detail verfälschend. Dennoch gibt es bei allen notwendigen Differenzierungen innerhalb des Juden- und Christentums durchaus grundsätzliche Gemeinsamkeiten im Innern sowie gegenüber der anderen Religion. Unsere Blickweise ist »dichotomisch«, also zweigeteilt.
Kirche(n), Christentum und Christen entfernten sich nach Jesus trotz ihrer fast monumentalen Vielfalt zunehmend von ihren jesuanischen Wurzeln und wurden - ohne jüdische Einfluss - in dem Sinne immer »jüdischer«, dass auf ihr Christentum zutraf, was die eingangs geschilderte Wahrnehmung als »typisch jüdisch« bezeichnet. Nehmen wir Otto von Bismarcks markigen Spruch »Wir Deutschen fürchten Gott, aber sonst nichts auf der Welt!«. Natürlich repräsentierte dieser weltlich-preußische Junker nie »das« Christentum, geschweige denn irgendeine Richtung christlicher Theologie, aber er verstand sich als guter Christenmensch. In diesem, am 6. Februar 1888 dem Deutschen Reichstag hingeschleuderten Satz fanden sich seinerzeit und auch lange danach Millionen christlicher Deutscher wieder: Sie fürchteten Gott, wie unzählige andere Christenmenschen. Liebten sie ihn? Die Gläubigen gewiss, aber sie fürchteten ihn ganz offenbar mindestens ebenso. »Gott ist die Liebe«? Nein, Furcht, Angst, Zorn, Rache, Blut, Eisen - »typisch jüdisch«. Der »Eiserne Kanzler«, der den Deutschen »Blut und Eisen« zumutete, war - Ironie der Geschichte - als typischer Preuße, so gesehen, »typisch jüdisch«. Ist das konstruiert? Nein, wir haben die jeweiligen Wahrnehmungsprämissen ernst genommen und ad absurdum geführt.
Lang ist die vermeintliche typisch jüdische Blut-und-Eisen-Spur im Christentum. Diese Entjesuaniserung des Christentums - und eine totale Entjesuanisierung war es - begann mit seiner Paganisierung beziehungsweise Romanisierung, nicht mit der Heidenmission, sondern mit der Übernahme des Christentums durch Staaten, allen voran durch das Imperium Romanum. Die Religion der Märtyrer wurde seit Konstantin dem Großen, also seit dem vierten nachchristlichen Jahrhundert, »auf einen Schlag« (312 bzw. 387) die Religion der Mächtigen, nicht unbedingt der Moralischen. Denn der »erste christliche Kaiser« ließ sich auch als heidnischer Sonnengott anbeten und führte als Mörder von Sohn und Gattin nicht unbedingt ein gottgefälliges Leben. »Ein Reich, ein Kaiser, ein Gott.« Damit war, so der Mediävist Franz Georg Maier, theologisch durch Eusebius von Caesarea, einen Berater Konstantins, begründet, »ein untrennbarer Zusammenhang zwischen Christentum und römischem Imperium propagiert«.31 »Für das Christentum konnte der Kaiser zwar niemals als Gott erscheinen, aber seine Legitimierung und moralische Autorität empfing er notwendig von Gott.«32 Im »Dritten Rom« der altrussischen Orthodoxie hatte der Zar seit der Verdrängung der Mongolen im 15. und 16. Jahrhundert eine Konstantin vergleichbar herausgehobene, gleichsam »orientalische« Machtfülle.33
Die Paganisierung war daher zugleich eine Etatisierung. Anders formuliert: Die Entjesuanisierung der Kirche(n) hängt mit ihrer Staatsnähe bzw. ihrer Nähe und Verflechtung mit den politisch Mächtigen der jeweiligen Staaten (l'État, der Staat) zusammen.
»So gebt dem Kaiser, was dem Kaiser gehört, und Gott, was Gott gehört«. Das war Jesus (Mk 12,17), die Trennung von Religion und politischer Macht. Auch das war Jesus: »Mein Reich ist nicht von dieser Welt« (Joh 18,33).
Sehr wohl »von dieser Welt« war das Imperium Romanum. Kaiser Konstantin der Große hatte, »was des Kaisers«, und nahm sich, »was Gottes« war, indem er sich aktiv und massiv in Kirchliches einmischte und der Kirche - siehe das Konzil von Nicäa (325 n. Chr.) - sogar Dogmatisches geradezu diktierte. Gewiss, es ging um Jesus als Gott oder Mensch oder als Gott und Mensch und Gottes Sohn. Es wurde formuliert »gezeugt aus dem Wesen des Vaters, gezeugt und ungeschaffen, und wesenseins mit dem Vater«. Aber das Primat der Reichspolitik wog schwer, Konstantin wog politisch schwerer als Jesus.
Die Trennung des Religiösen vom Politischen war fortan auch im Christentum, bis zur »Aufklärung« und den bürgerlichen Revolutionen, für Jahrhunderte aufgehoben, beide Sphären waren - wie so oft seit der »orientalischen Despotie«, dem antiken Gottkönigtum und Gottkaisertum und natürlich auch der von Esra und Nehemija begründeten, bornierten jüdischen Theokratie des Zweiten Tempels - mehr oder weniger eng miteinander verwoben. Natürlich hatte es diese Verflechtung schon während des Ersten Tempels - und davor - gegeben. Der Prophet Samuel hatte »die Juden« noch davor gewarnt, »wie alle Völker« einen König über sich zu setzen. Seit und als es jüdische Könige gab, rangen, »wie bei allen Völkern«, die beiden Sphären mit- und meist gegeneinander.
So gesehen, knüpfte das Christentum seit Konstantin an nicht nur, aber doch auch altjüdische Muster an. Die Krönung mittelalterlich-christlicher Könige und Kaiser glich - logisch und historisch - der Salbung biblischer Könige, zum Beispiel Sauls und Davids durch Samuel. Wie diese jüdischen Ur-Könige waren sie und die frühneuzeitlichen Monarchen Herrscher »von Gottes Gnaden«, und die (katholische) Kirche war Kirche von Staates Gnaden. Deshalb ist hier Joseph Ratzinger/Papst Benedikt XVI. zu widersprechen. Er schreibt: »Das katholische Prinzip steht an sich dem Staatskirchentum entgegen.«34 Zuzustimmen ist dieser Aussage freilich in einem anderen Zusammenhang: Die katholische Kirche ist keine nationale Staatskirche, sie ist staatenübergreifend. Das böse deutsche Wort aus dem späteren 19. Jahrhundert von den Katholiken (also nicht nur von den »Sozialisten«, danach Kommunisten) als »vaterlandslosen Gesellen« findet hier seinen historisch-sachlichen und positiven Ursprung. Aber auch Joseph Ratzinger schränkt seine Aussage ein: »Tatsächlich hat sich aber auch im katholischen Bereich in Europa - jedenfalls seit dem Beginn der Neuzeit - überall das Staatskirchentum durchgesetzt und so praktisch den Glauben auch zu einer Sache des Staates werden lassen«.35
Die Reformation änderte am Staat-Kirche-Muster wenig. Das Bündnis von Thron und Altar, im Preußentum auf die Spitze getrieben, bestand im Kern bereits seit der Reformation. Die Anglikanische Kirche? Sie war, im wörtlichen Sinne, ein Liebesergebnis der Politik Heinrichs VIII. Auch in Skandinavien wurde die Reformation durch königliche Machtworte eingeführt und den Menschen aufgesetzt. Byzanz, das Zweite Rom, und Moskau, das Dritte Rom, passen ebenfalls in dieses Muster: Christentum und Staat waren ineinander verzahnt - und verbissen sich dabei nicht selten ineinander. Der mittelalterliche Investiturstreit ist nur eines von vielen Beispielen der christlichen Geschichte, in der sich nahe und ferne Christen nicht so liebten wie sich selbst.
Höchst unterschiedlich waren dabei die christlichen Staatsmodelle. Sie schwankten zwischen einem christlichen Universalreich und christlichen Partikularreichen bzw. -staaten. So oder so, das jeweilige Christentum sollte sich im Staat, eben in einem christlichen Staat, entfalten. Als gedanklicher und zeitweise historischer Kern des »Gottesstaates« war der Kirchenstaat konzipiert und organisiert worden. Abgesehen von den total unterschiedlichen Machtvorgaben und -entwicklungen: Unterschied sich das Modell des Kirchenstaates als »Gottesstaat« konzeptionell, im Ansatz, grundsätzlich von der jüdischen Theokratie des Zweiten Tempels? Mehr als hier vereinte der Papst im Modell des Kirchenstaates die religiöse mit der weltlichen Macht in (s)einer Person. Zum rabbinischen, ganz und gar unmonarchischen Judentum wurde auf diese Weise die Distanz des staatlich gestützten Christentums strukturell noch größer. Und noch größer wurde sie dadurch, dass dieser Staat nicht irgendeiner, sondern eben Rom war. Jenes Rom, das im Jahre 70 den Zweiten Tempel zerstört, 115 bis 117 die diasporajüdischen Aufstände in Ägypten, Cyrenaika, Libyen, Zypern, Mesopotamien und den Guerillakrieg Bar-Kochbas in »Palästina« zwischen 132 und 135 blutig niedergeschlagen hatte. Zusätzlich entfremdet (und nicht zuletzt durch das Wirken der Kirchenväter teils verfeindet) waren Christentum und Judentum auch durch die demografische (und damit...
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