Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Siehe, ich lebe. Woraus? Weder Kindheit noch Zukunft werden weniger . Überzähliges Dasein entspringt mir im Herzen. (Rainer Maria Rilke, IX. Duineser Elegie)
Rose Ausländer, Annette von Droste-Hülshoff, Mascha Kaleko oder Marie-Luise Kaschnitz haben wunderbare Engelgedichte geschrieben. Doch machen Engel keinen Unterschied zwischen schreibenden Frauen und Männern. Fragen des Geschlechtes interessieren die Wegbegleiter nicht. Sie verlangen nicht einmal ein Bekenntnis oder eine Kirchenmitgliedschaft als Vorleistung für ihre Gegenwart. Engel schaffen Tatsachen, überzeugen durch ihr Erscheinen und sind immer für eine Überraschung gut. Selbst Zweifler und Zyniker können zu Zeugen ihres Wirkens werden. So bekennt Gottfried Benn (1886-1956), er habe Menschen mit der reinen Stirn der Engel getroffen und sich oft gefragt, woher das Gute komme, ohne eine Antwort zu finden. Engel vom Himmel und Engel in Menschengestalt überzeugen durch reine Gegenwart. Ein Licht geht auf, wo Dunkelheit herrschte. Klarheit und Klärung kommen.
»Handle so, dass die Engel zu tun bekommen!«, lautete Franz Kafkas (1883-1924) humorvolle Empfehlung für den Umgang mit Engeln. Als Rainer Maria Rilke am 4. Dezember 1875 in Prag geboren wurde, waren Schutzengelbilder nicht nur in katholischen Häusern zu finden. Engelbilder waren Gebrauchskunst, Ikonen zum Innehalten und Niederknien, Einladung zum Lobpreis und Rühmen. Kinder verrichteten ihre Abendgebete unter den beliebten Reproduktionen des Schutzengelmalers Bernhard Plockhorst (1825-1907). Auf ihnen waren weibliche Engel mit weit ausladenden weißen Flügeln zu sehen, unter denen ein Mädchen im rosa Kleid und ein Junge mit blauer Hose sicheres Geleit auf dem Lebensweg erfuhren. Schutzengel sahen aus wie jugendliche Mütter in weißen wallenden Nachthemden. Rosa galt noch über ein Jahrhundert als Mädchenfarbe. Auf dem Bild symbolisierte ein wild tosender Bach all jene Strömungen des Lebens, die Kindern gefährlich werden können. Wie man den Gefahren begegnet, zeigte der Schutzengel. Er führte die Kinder über einen schmalen Steg und wehrte dabei mit sicherem Tritt eine Schlange als Symbol des Bösen ab.
Damals hingen in den Wohn- und Arbeitszimmern des Bürgertums Reproduktionen von Raffaels »Sixtinischer Madonna« mit ihren weltberühmten Putten. Da die wenigsten Häuser über Wohnraum in den Dimensionen der Dresdner Galerie Alte Meister verfügten, gab es die Madonna mit dem Kind und die zwei Kinderengel als Einzeldrucke. Leo Tolstoj schrieb seine Romane und Erzählungen unter ihrem Schutz. In England schufen Maler wie Edward Burne-Jones oder John William Waterhouse ätherische Engelgestalten aus der Anderwelt neben mädchenhaften Madonnen und erschöpften Artusrittern. Rilke liebte zarte Mädchengestalten wie Abisag von Sunem. Sie sind dem jungen Dichter ein Symbol der Sehnsucht nach beflügelnder Liebe:
Plötzlich bin ich wie verstoßen, und zu einem Übergroßen wird mir diese Einsamkeit, wenn, auf meiner Brüste Hügeln stehend, mein Gefühl nach Flügeln oder einem Ende schreit. (Rainer Maria Rilke, Mädchen-Klage)
Entweder - oder: Die Schutzengel des späten 19. Jahrhunderts schufen eine Gegenwelt zum Maschinenzeitalter und der Industrialisierung. Sie boten einer spirituell entwurzelten Generation ein Refugium und eine Gegenwelt zum aufkommenden Atheismus und Materialismus. In einer Zeit noch immer hoher Kindersterblichkeit gehörten sie zu den Ritualen der Trauerarbeit. Der Maler Wilhelm von Kügelgen berichtet in seinem Bestseller »Jugenderinnerungen eines alten Mannes« (1870) von seinen früh gestorbenen Geschwistern. Nach dem Glauben der Eltern wurden diese Familienmitglieder mit ihrem Tod zu Engeln, die ihre Flügel schützend über ihre irdischen Geschwister hielten. Auch in der Familie der französischen Nationalheiligen Therese von Lisieux glaubten die Schwestern an die unsichtbare Gegenwart ihrer früh verstorbenen Brüder in der Gestalt von Schutzengeln.
Rainer Maria Rilke war wie Annette von Droste-Hülshoff ein Siebenmonatskind. Die Sorge um seine immer angegriffene Gesundheit hat seine Mutter Sophie Rilke nie verlassen. Auch deshalb suchte sie den Beistand der Engel und Heiligen. Jeder Tag im katholischen Kalender hat seinen Heiligen. Rilke wurde am Barbaratag geboren. Diese Heilige gilt als Schutzpatronin der Bergleute und aller Menschen, die mit Entschiedenheit ihre Bestimmung suchen und leben wollen. Auf Bildern wie Raffaels »Sixtinischer Madonna« erkennt man Heilige an ihrem Attribut. Barbaras Symbol ist der Turm. Als Barbara ihren spirituellen Weg unbeirrt ging, ließ sie ihr Vater in einen Turm einmauern. Natürlich konnte er mit dieser brutalen Maßnahme den Willen seiner Tochter nicht brechen. So wurde die Schutzpatronin auch zum Vorbild für Rilke, der seine Engelgesänge der »Duineser Elegien« im Turm von Muzot im Schweizerischen Wallis vollenden wird.
Sophie Rilke (1851-1931) trug den Namen der göttlichen Weisheit, die besonders in der russischen orthodoxen Kirche verehrt wird. Früh trennte sie sich von ihrem Mann Josef Rilke (1838-1906). Die beiden hatten am 24. Mai 1873 geheiratet. Ihr erstes Kind war ein Mädchen. Es soll den Namen Zesa getragen haben. Diesen überliefert die in biografischen Dingen nicht immer glaubwürdige Jugendfreundin Rainer Maria Rilkes, Valerie von David-Rhonfeld (1874-1947). Rilkes Schwester kam ebenfalls als »Frühchen« auf die Welt und starb kurz nach der Geburt. Als Rainer Maria Rilke am Barbaratag des Jahres 1875 in einer Hausgeburt in der Prager Heinrichsgasse 19 zur Welt kam, ergriff die traumatisierte Mutter erneut Panik. Sollte auch dieses Kind sterben? Als Katholikin suchte sie den Schutz der Muttergottes und weihte ihren Sohn der Maria. Am 19. Dezember 1875 wurde das Kind in der Prager Kirche St. Heinrich II. und Kunigunde getauft. Die Mutter gab ihm den sprechenden Namen René (»renatus«) - der Wiedergeborene. Das war eine Rollenzuweisung und eine Deutung des Verlustes ihres ersten Kindes. Sophie wollte in dem Säugling die wiedergeborene Tochter erkennen. Erst Rilkes Freundin Lou Andreas-Salomé (1861-1937) wird ihn dazu auffordern, seinen Vornamen René zu ändern.
Der Vater bleibt in Rilkes Leben eine unbedeutende, aber auch unbelastete Figur. Rilke ist ohne ein Vaterbild, an dem er sich messen, reiben und aufrichten konnte, durch die Pubertät geschritten. Es gibt in seinem Leben keine Männerfreundschaften, keinen »besten Freund«, nicht einmal einen männlichen Gegner von Rang. Jean Rudolf von Salis (1901-1996) sieht bei Rilke »ein Element femininer Seelenveranlagung«.1 Doch was ist männlich, was weiblich?
Josef Rilke hatte aus gesundheitlichen Gründen seinen Dienst beim Militär beenden müssen. Das Soldatentum und besonders die Offizierslaufbahn standen damals in hohem Ansehen, wenngleich sich hinter der Fassade der Uniformen durchaus fragwürdige Existenzen verbergen konnten. Theodor Fontanes Romane mit ihren überragenden Frauengestalten zeigen die Brüchigkeit dieser Männerwelt. Rilkes Vater wurde nach der Aufgabe des Militärdienstes Eisenbahner. Warum sich die Eltern bereits 1884 räumlich trennten, ist nicht bekannt. Sophie Rilke kam aus einem vermögenden Elternhaus. Rilkes Vater war ein armer Schlucker. Es waren jedoch gewiss nicht nur die sozialen Unterschiede, die zu einer Trennung führten. Rilkes Mutter litt an einer Hypersensibilität, die sich zuweilen auch motorisch durch das Zittern ihrer Hände bei gleichzeitiger Entschiedenheit in ihrer Stimme mit österreichischem Akzent bemerkbar machte. Sophie Rilke wusste, was sie wollte. Im Katholizismus mit seinen Ritualen fand ihr Leben die Form, derer es bedurfte. Vielleicht konnte oder wollte der Vater diesen strengen religiösen Weg nicht teilen. Josef war über lange Zeit der beliebteste katholische Vorname für Jungen. Auch nicht religiöse oder der Kirche entfremdete Menschen wussten, dass Josef der Adoptivvater Jesu war. Tischler von Beruf und eine Generation älter als Maria, hatte der verwitwete Familienvater die Tempeljungfrau geheiratet, um ihr den Schutz der »Engelehe« zu bieten. Als »Josefsehe« ist sie noch heute unter Paaren bekannt, die aus ganz unterschiedlichen Gründen keinen Sex haben wollen.
Die ebenfalls Gedichte schreibende Mäzenin Hertha Koenig (1884-1976) war mit Sophie Rilke befreundet und hat in ihren Erinnerungen »Rilkes Mutter« (1963) das Bild einer Frau mit entschieden religiöser Ausstrahlung gezeichnet. Wie die Nonnen stand sie morgens um fünf Uhr auf und folgte über den ganzen Tag dem Stundengebet ihrer Kirche. In diesem spirituellen Rhythmus wuchs auch ihr Sohn auf. Die Mutter lehrte ihn das Beten und Niederknien. Gemeinsam besuchten sie täglich die Messe. Direkt neben ihrer Schlafstätte befand sich ein Gebetsstuhl, in dem das »Renétscherl« neben der Mutter kniete oder allein, wenn sie krank oder kränkelnd im Bett lag. Dann sprach er voll Liebe und Fürsorge seine Fürbitten zur Gesundung der Mutter. Vor dem Zubettgehen küsste er das Kruzifix. In dem Roman einer Krise »Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge« (1910) hat Rilke diese Kindheitsmuster übernommen und auf den dänischen Helden übertragen. Die Romanfigur teilt auch die Liebe des Autors zu Hunden und Kaninchen. Malte vollzieht nicht nur den Rollenwechsel vom Jungen zum Mädchen, er trägt sogar den Namen von Rilkes Mutter Sophie:
Es fiel uns ein, daß es eine Zeit gab, wo Maman wünschte, daß ich ein kleines Mädchen wäre und nicht dieser Junge, der ich nun einmal war. Ich hatte das irgendwie erraten, und ich war auf...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.