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Respekt, denke ich mit einem zynischen Lächeln, sie haben wirklich an alles gedacht. An absolut alles. Feste Zeiten, zu denen ich allein in meinem sterilen Krankenhauszimmer essen muss. Keine Möglichkeit, meinen Zwängen und Essritualen nachzugehen. Sorgfältige Kontrolle der Abfalleimer, der Schränke, selbst der Privatgegenstände, abgeschlossene Fenster. Keine Möglichkeit, verhasste Butterpäckchen oder fettige Käsescheiben mal eben verschwinden zu lassen. Verbot jeglicher körperlicher Bewegung und zwei große Sichtfenster im Zimmer. Dadurch habe ich keine Möglichkeit, die unfreiwillig aufgenommenen Kalorien durch heimliche Sportübungen wieder abzutrainieren. Abgabe aller potenziell gefährlichen Gegenstände: Rasierer, Nagelpflegeset, selbst der Handspiegel muss weg. Keine Möglichkeit, die inneren Qualen durch äußere Schmerzen zu kompensieren.
Letztlich laufen alle Regeln auf drei Gebote hinaus: liegen, essen, zunehmen. Sonst wird sondiert. Keine Kompromisse, alle Ausflüchte aussichtslos. Wie gesagt: Sie haben an alles gedacht.
Mein Blick wandert aus dem Fenster, doch selbst die Schönheit des Sonnenuntergangs kann mich nicht erfreuen. In Gedanken bin ich wie so oft bei der nächsten Mahlzeit. Der nächsten Herausforderung, der nächsten Überwindung. Die Stille im Raum ist vollkommen, doch umso lauter hallen die immer gleichen Dogmen in meinem Inneren wider: Du darfst nicht essen! Du bist falsch, immer zu viel und niemals genug. Wie können Aussagen so vollkommen unmissverständlich und absolut, zugleich aber so völlig irrational und lügnerisch sein? Ich kenne die Antwort und bin doch vollkommen ratlos.
An diesem Tag erreichte ich einen Tiefpunkt. Mir wurde der Ernst meiner Lage zum ersten Mal in seiner vollen Bedeutung bewusst: Ich war allein, hilflos, entmündigt, eingesperrt in einer Klinik, gefesselt an mein Bett, jeglicher Kontrolle beraubt. Ich erkannte mit schmerzhafter Klarheit, dass mein verzweifelter Wunsch, akzeptiert, angenommen, geliebt und einfach genug zu sein, mich in diesen Zustand getrieben hatte. Es war ein Wunsch, der mich beinahe umgebracht hatte und zu diesem Zeitpunkt noch lange nicht erloschen war. Denn tief in meinem Inneren wusste ich, dass ich die Kontrolle über meinen Körper und Geist nicht erst heute verloren hatte. Schon vor Langem war sie übernommen worden von etwas anderem - einer Krankheit - oder vielmehr jemand anderem - Ana. Meine Anorexie besaß eine unglaubliche Macht über mein Denken und Handeln, sie war ein abstrakter Begriff mit fast schon physischer Präsenz. Sie schien meine Gedanken aktiv zu beeinflussen, ständig zu mir zu sprechen, in meinem Inneren zu wohnen, zeitweise gar ein Teil von mir zu sein. Deshalb personalisiere ich sie als »Ana«, was keineswegs als Kosename missverstanden werden darf. Vielmehr ist es Ausdruck dafür, dass ich jahrelang einen Kampf austrug, einen Kampf zwischen Wahrheit und Lüge, zwischen Selbstannahme und Selbstzerstörung, zwischen meinem wahren, lebensfrohen Ich und diesem fremden, bedrohlichen Eindringling in mir. Und Ana wollte kämpfen, ihren Platz behaupten, gewillt, alles um sich herum zu verschlingen. In meinem Fall war sie weitaus mächtiger als mein Umfeld ahnte, vielleicht gar heimtückischer, als ich selbst es mir vorstellen konnte. Je weiter sie gedieh, desto rascher ging ich ein. Je mehr Raum sie einnahm, desto schneller verschwand ich. Bis ich eines Tages nur noch ein Schatten meiner selbst war - oder sogar noch weniger als das.
Die Jahre meiner Kindheit sind mir als glückliche Zeit in Erinnerung geblieben. Ich bin meinen Eltern dankbar dafür, dass sie für meine Geschwister und mich ein liebevolles Umfeld schufen, in dem wir wohlbehütet aufwachsen durften. Sie folgten Gott mit ganzem Herzen nach und stellten auch unser Leben früh unter seinen Segen.
In diesem Sinne betrachte ich die erfüllte Beziehung meiner Eltern und unseren familiären Zusammenhalt als wahres Geschenk Gottes. Ich durfte mit der tiefen Überzeugung aufwachsen, dass nichts und niemand unsere Familie jemals auseinanderbringen könnte. Sie war meine persönliche Insel, denn egal, wie stürmisch das Meer des Lebens um uns herum wogte, ich glaubte, vertraute, und spürte, dass wir es überstehen würden. Gemeinsam, zusammen. Als Familie, mit Gott auf unserer Seite. Die Gewissheit, dass ich niemals tiefer fallen würde als in ihren Schoß und seine Hand, zog sich wie ein roter Faden durch mein Leben. Während meiner unbeschwerten Kindheit nahm ich diese Gewissheit dankbar als Selbstverständlichkeit an, während meiner krankheitsbelasteten Jugend war sie das einzige Bindeglied zwischen mir und dem Leben, und nun als junge Erwachsene spüre ich sie als tiefe Überzeugung in mir.
Ich denke, es war und ist nicht zuletzt die Bereitschaft, offen miteinander zu kommunizieren und sich füreinander Zeit zu nehmen, die unsere Familie so stark macht. Ja, es gab Zeiten, in denen Lügen die Wahrheit übertönten und ja, es gab Momente, in denen ich in mir selbst verschwand, anstatt mich meiner Familie mitzuteilen - doch letztlich haben wir immer wieder zueinandergefunden. Das Gefühl von Geborgenheit, die Gewissheit, geliebt zu werden, und unser gemeinsamer Glaube an Gott hielten uns zusammen und mich am Leben.
Eine Darstellung aller prägenden Kindheitserlebnisse würde zu weit führen, doch ein besonders wichtiger Punkt sei herausgegriffen: meine Rolle in unserer Familie. Im Rückblick erkannten wir, dass sie weitaus mehr mit der späteren Entwicklung meiner Krankheit zu tun hatte, als uns lange bewusst war. Verschiedene Faktoren wirkten zusammen und niemand konnte wissen - geschweige denn wollen -, wohin (uns) dies schließlich führen würde .
Ich wurde am 28. Mai 1998 als zweites Kind meiner Eltern Heidi und Matthias in Hamburg geboren. Eineinhalb Jahre zuvor hatten sie meinen Bruder Julian bekommen, der meine Geburt nicht minder gespannt erwartet hatte. Durch unser gemeinsames Aufwachsen und die bis heute andauernde Weiterentwicklung unserer Beziehung fühle ich mich ihm in ganz besonderem Maße verbunden.
Meine Grundschulzeit war insgesamt eine sorglose Zeit, denn sowohl in sozialer als auch in fachlicher Hinsicht gab es kaum Probleme. Allerdings empfand ich mich stets als durchschnittlich, und irgendetwas daran störte mich. Durchschnittlich. Ich mochte dieses Wort nicht, es nagte an mir. Dass Julian seinem Ruf als Überflieger durch eine übersprungene Klasse, tadellose Grundschulleistungen und den anschließenden Besuch eines altsprachlichen Elite-Gymnasiums alle Ehre machte, verstärkte meine Überzeugung: Von uns beiden war er der Besondere, Begabte, Beliebte, ich hingegen nur die kleine Schwester, in allem ein bisschen weniger gut. Den vollkommen natürlichen Grund dafür sah ich damals nicht: unseren geringen, aber in dieser Entwicklungsphase bedeutsamen Altersunterschied. Alles, was ich gerade lernte - Lesen, Schreiben, Fahrradfahren, Schwimmen . -, konnte er einfach schon (besser). In unserem gemeinsamen Aufwachsen empfand ich uns jedoch als gleichaltrig, sodass ich die unbedenkliche Ursache meiner vermeintlichen Unzulänglichkeit nicht erkannte. Diese Gedanken müssen mich stärker beeinflusst haben als gedacht, sodass die toxischen Vergleiche zu meinen wachsenden Selbstzweifeln beitrugen.
Mit der Geburt meiner ersten Schwester Flavia begann eine Zeit des Umbruchs und der Neuorientierung. Obwohl ich erst zehn Jahre alt war, interpretierte ich dieses Ereignis als Ende meiner Kindheit, zumindest als Ende dieser völlig unbeschwerten und ausgelassenen Jahre. Ich freute mich über meine neue Rolle als große Schwester, verband damit aber automatisch den persönlichen Anspruch, nun auch erwachsen und vernünftig handeln zu müssen. Meine Eltern förderten dieses Streben nach Verantwortung und Selbstständigkeit, was ich grundsätzlich als positiv empfand. Dennoch erinnere ich mich, dass es mir manchmal ein wenig zu schnell ging mit dem Erwachsenwerden. Es war vermutlich eine Wechselwirkung: Ihnen fiel auf, dass ich mich intensiv mit ernsthaften, altersuntypischen Themen auseinandersetzte, weshalb sie meine Interessen und Weiterentwicklung fördern wollten. Ich hingegen nahm wahr, dass sie mir viel zutrauten und auf hohem Niveau mit mir kommunizierten, weswegen ich dem unbedingt gerecht werden wollte. So hatte ich schon früh einen verantwortungsvollen Nebenjob, engagierte mich in mehreren Ehrenämtern, übernahm Aufgaben im Haushalt, kümmerte mich selbstständig um die Versorgung und Finanzierung meiner Haustiere und las Literatur, um die meine Klassenkameraden einen weiten Bogen machten. Unser Umzug in ein größeres Haus, mein Wechsel aufs Gymnasium und meine Pubertät als die Umbruchsphase schlechthin fielen ebenfalls in diese Zeit. Durch Mariellas Geburt 2009 manifestierte sich meine Rolle als große Schwester, mein schulischer Ehrgeiz verstärkte sich fortlaufend, und statt mit meinem Bruder verglich ich mich nun mit den Mädchen aus meiner Klasse. Denn auch die waren - natürlich - intelligenter, sportlicher, beliebter und hübscher als ich .
Ich möchte betonen, wie dankbar ich für die wertvollen Dinge bin, die ich während dieser Zeit lernen durfte. Dennoch: Der Wunsch, meine Eltern stolz zu machen, mein hoher Selbstanspruch und ein ausgeprägter Ehrgeiz überdeckten mein Gefühl der Überforderung, sodass es lange unentdeckt in mir wuchern konnte. Es wuchs heran und war irgendwann so mächtig, dass ich mit allem an und in mir unzufrieden war. Ich fühlte mich seltsam fremd in der Welt und fragte mich...
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